Hinterbliebenengeld – Übersicht (Stand 09/2021)
zur tabellarischen Darstellung 08/22
Die Regelungen zum Hinterbliebenengeld wurden am 17.07.2017 in dem „Gesetz zur Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld‟ vom Bundestag beschlossen.
1. normative Grundlagen
In verschiedenen Gesetzen wurde diese Regelung eingeführt:
- § 844 III BGB (Bürgerliches Gesetzbuch),
- § 86 III AMG (Arzneimittelgesetz),
- § 32 IV GenTG (Gentechnikgesetz),
- § 7 III ProdHaftG (Produkthaftungsgesetz),
- § 12 III UmweltHG (Umwelthaftungsgesetz),
- § 28 III AtG und § 15 III AtG (Atomgesetz),
- § 10 III StVG (Straßenverkehrsgesetz),
- § 5 III HaftPflG (Haftpflichtgesetz),
- § 35 III LuftVG und
- § 72 VI LuftVG (Luftverkehrsgesetz).
2. zeitlicher Anwendungsbereich
Die Überleitungsvorschrift findet sich im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch unter Art. 229 § 43 EGBGB. Diese Regelungen gelten für zum Tod führende Verletzungen, die nach dem 22.07.2017 eingetreten sind. Hinterbliebenengeld kommt somit in Betracht für Sachverhalte, in denen die zum Tod führende Verletzung ab dem 22.07.2017 eingetreten ist (zutreffend: OLG München im Endurteil vom 25.03.2021, Az. 1 U 1831/18; Anwendungsbereich verkannt: LG Limburg). Wie das OLG Düsseldorf verdeutlicht, hat die Einführung des Hinterbliebenengeldes auch keine mittelbare Auswirkung auf alte Sachverhalte vor Einführung des Hinterbliebenengeldes.
3. Ausschluss nach SGB VII!?
Die Frage ist noch umstritten.
Nach diesseits vertretener Ansicht sind Ansprüche der Angehörigen auf Hinterbliebenengeld dann ausgeschlossen, wenn der Schädiger die Haftungsprivilegien der §§ 104 f. SGB VII genießt. Sowohl § 104 SGB VII als auch § 105 SGB VII schließen Ansprüche aus und benennen dabei ausdrücklich auch die Angehörigen und Hinterbliebenen, denen kein Ersatz geschuldet werde. Der BGH hat zwar für das originär beim Angehörigen entstandene Schmerzensgeld eine Ausnahme gemacht – aber nur für das bei ihm in Person entstandene Schmerzensgeld. § 844 Abs. 3 BGB knüpft hingegen unmittelbar daran an, dass jemand „ersatzpflichtig‟ sein muss. Und das ist er bei einer ausschließlichen Verletzung des Mitarbeiters bzw. Arbeitskollegen nicht. Diese Rechtsansicht fand auch Eingang in die zunächst ergangenen Urteile, vgl. LG Koblenz und LG Mainz.
Das OLG Koblenz hat indes den Ausschluss nicht angewendet, sondern dem Hinterbliebenen den Anspruch auf Hinterbliebenengeld zugestanden, obwohl es sich um einen privilegierten Arbeitsunfall handelte. Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig, sondern wegen der grundsätzlichen Bedeutung richtigerweise anhängig beim Bundesgerichtshof zum Aktenzeichen BGH VI ZR 3/21.
4. Höhe
Hinterbliebenengeld (§ 844 Abs. 3 BGB oder § 10 Abs. 3 StVG) fügt sich der Höhe nach in den gesetzgeberisch vorgesehenen Rahmen bzw. die bisherigen Entscheidungen zum Schmerzensgeld ein. Entsprechend der Rechtsprechung zum Schmerzensgeld muss ein Anspruchsteller nur einen Mindestbetrag fordern, ohne dass das Gericht durch diesen an einer höheren Bewertung gehindert wäre (vgl. LG München II, Endurteil v. 17.05.2019 – 12 O 4540/18). Darin liegt kein Verstoß gegen § 308 Abs. 2 ZPO (ne ultra petita).
Falls ein Geschädigter (auch) Schmerzensgeldansprüche besitzt, erhöht das Vorliegen beider Anspruchsgrundlagen nicht den Gesamtanspruch. Vielmehr geht sonst der eine Anspruch in dem anderen auf bzw. ist der Anspruch auf Hinterbliebenengeld in der Höhe subsidiär, vgl. LG Bonn, LG Regensburg und OLG Koblenz.
5. Angehörige: auch der Nasciturus!?
Was ist mit Hinterbliebenengeld für ein zum Verletzungszeitpunkt gezeugtes, aber noch nicht geborenes Kind? Nach dem Gesetzestext ist auf den Zeitpunkt der Verletzung abzustellen:
„Der Ersatzpflichtige hat dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war.‟
vgl. z.B. § 844 Abs. 3 BGB
Nach § 1 BGB beginnt die Rechtsfähigkeit des Menschen mit der Geburt. Entsprechend den hiesigen Erwägungen in der Übersicht 07/2021 hat das OLG München – Zweigstelle Augsburg – am 05.08.2021 zum Aktenzeichen 24 U 5354/20 entschieden, dass dem Nasciturus kein Hinterbliebenengeld zusteht.
6. Exkurs: Strafrecht
Falls ein Angehöriger einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld hat, ist er in einem Strafverfahren gegen den Schädiger Verletzter im Sinne des § 403 StPO (Geltendmachung eines Anspruchs im Adhäsionsverfahren), vgl. BGH im Beschluss vom 05.09.2019 – 4 StR 178/19. Er ist jedoch kein Verletzter im Sinne des § 46a StGB (Täter-Oper-Ausgleich, Schadenswiedergutmachung), vgl. BGH im Beschluss vom 06.06.2018 – 4 StR 144/18.
7. Übersicht
Betrag | Näheverhältnis | Bemessungsgründe | Haftungsgrund | Gericht | |
0 | Nasciturus (Vater verstarb vor der Geburt) kein Näheverhältnis |
Nasciturus ist nach § 1 BGB noch nicht rechtsfähig; eine Ausnahme – wie in § 844 Abs. 2 BGB – hat der Gesetzgeber nicht gemacht; von einer ungewollten Regelungslücke ist nicht auszugehen. | Verkehrsunfall in 2017 | OLG München im Endurteil vom 05.08.2021, Az. 24 U 5354/20 | |
0 | Sohn einer Getöteten | kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld wegen des zeitlichen Anwendungsrahmens (ab 22.07.2017) | Krebsbehandlung in 2015 | OLG München im Endurteil vom 25.03.2021, Az. 1 U 1831/18 [eingefügt 17.09.2021] |
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0 | Mutter einer Getöteten | kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, weil Schmerzensgeldanspruch höher ist und dem Hinterbliebenengeld vorgeht | Mord am 29.06.2019 | LG Bonn, Urteil vom 03.12.2019 – 24 Ks 7/19 [eingefügt 21.10.2020] |
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0 | Schwiegermutter einer Getöteten | kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld wegen Sperre nach §§ 104, 105 SGB VII | Arbeitsunfall am 14.03.2018 | LG Koblenz, Urteil vom 24. April 2020 – 12 O 137/19 [eingefügt 21.10.2020] |
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0 | Schwipschwägerin kein ausreichendes Näheverhältnis |
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Verkehrsunfall am 14.09.2016 | LG Limburg, Urteil vom 22.03.2019 – 2 O 177/18 [eingefügt 10.08.2020] |
0 | Ehemann Näheverhältnis widerlegt |
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Verkehrsunfall am 14.04.2018 | LG Traunstein, Endurteil v. 11.02.2020, Az. 1 O 1047/19 | |
0 | Angehörige nach § 844 Abs. 3 BGB Näheverhältnis widerlegt |
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Mord | BGH, Beschluss vom 18.05.2020, Az. 6 StR 48/20 | |
2.000 | Vater eines 19-jährigen Verstorbenen |
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Mord in 09/2017; Haftung des Schädigers 100% | LG Osnabrück, Urteil vom 09. Januar 2019 – 3 KLs 4/18 [eingefügt: 21.10.2020] | |
3.000 | Schwiegertochter einer Verstorbenen | Verkehrsunfall in 2018; Haftung des Schädigers 100% | LG München II, Endurteil vom 17.05.2019 – 12 O 4540/18 | ||
5.000 | Vater eines verstorbenen 20-Jährigen |
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Verkehrsunfall Haftung des Schädigers (maximal) 50% |
OLG Koblenz, Beschluss vom 31.08.2020 – 12 U 870/20 [eingefügt 08.01.2021] |
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5.000 | Sohn einer Verstorbenen |
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Verkehrsunfall in 2018; Haftung des Schädigers 100% | LG München II, Endurteil vom 17.05.2019 – 12 O 4540/18 | |
5.000 | Bruder eines 60-jährigen Verstorbenen |
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Verkehrsunfall Haftung des Schädigers 100% |
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18 |
6.500 | Tochter eines Unfallopfers |
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Verkehrsunfall in 2018 Haftung des Schädigers 100% |
Landgericht Flensburg, SCHLÜNDER: 1304-2019 [eingefügt 14.08.2020] |
7.500 | Kinder eines 60-jährigen Verstorbenen |
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Verkehrsunfall Haftung des Schädigers 100% |
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18 | |
8.000 | erwachsene Tochter einer Verstorbenen |
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Mord in 08/2019 Haftung des Schädigers 100% |
LG Münster Urteil vom 16.07.2020 – 2 Ks-30 Js 206/19-23/19 [eingefügt 08.01.2021] |
8.000 | Schwiegermutter einer Verstorbenen |
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Arbeitsunfall am 14.03.2018 Haftung des Schädigers 100% |
OLG Koblenz Urteil vom 21.12.2020 – 12 U 711/20 [eingefügt 28.07.2021] |
10.000 | Tochter eines Verstorbenen |
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Verkehrsunfall in 12/2018 Haftung des Schädigers 100% |
Oberlandgericht Schleswig, Urteil vom 23.02.2021, Az. 7 U 149/20 |
10.000 | Ehemann einer Verstorbenen |
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Unfalltod Haftung des Schädigers 100% |
Landgericht Wiesbaden, Beschluss vom 23.10.2018, Az. 3 O 219/18 | |
12.000 | Ehefrau eines 60-jährigen Verstorbenen |
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Verkehrsunfall Haftung des Schädigers 100% |
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18 |
15.000 | Mutter und Vater einer 16-jährigen Verstorbenen |
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Verkehrsunfall am 30.04.2018 Haftung des Schädigers 100% |
LG Leipzig, Urteil vom 08.11.2019 – 05 O 758/19 [eingefügt: 21.10.2020] | |
15.000 | Tochter einer 45-jährigen Verstorbenen |
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Totschlag im Jahr 2019 Haftung des Schädigers 100% |
LG Regensburg, Urteil 16.12.2020, Az. Ks 103 Js 28875/19 [eingefügt: 11.05.2021] |