Hinterbliebenengeld XXIV: Zur Bemessung in Familienkonstallationen
LG Rottweil, Urt. v. 26.06.2018 – 1 Ks 10 Js 10802/17
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Leitsatz (redaktionell)
Maßgeblich für die Bemessung des Hinterbliebenengeldes ist die Intensität der Beeinträchtigung, die durch den Verlust eines nahen Angehörigen entstanden ist. Eine eigene Gesundheitsverletzung in Form eines Schockschaden ist nicht erforderlich.
Sachverhalt
Der Angeklagte ermordete seinen 6-jährigen Sohn, den Lebensgefährten seiner geschiedenen Frau sowie die zufällig anwesende Cousine des Lebensgefährten.
Seine Ex-Frau, die minderjährigen Kinder ihres Lebensgefährten sowie dessen Mutter und seine Geschwister, der Ehemann der Cousine sowie dessen minderjährigen Kinder, ihre Eltern und ihre Schwester verlangen jeweils i.R.v. Adhäsionsanträgen Hinterbliebenengeld gem. § 844 Abs. 3 S. 1 BGB.
Entscheidung
Die Adhäsionsanträge sind begründet. Zwischen allen Adhäsionsklägern und den Getöteten bestanden besondere persönliche Näheverhältnisse.
Ein Einzelnen:
- Ex-Frau des Angeklagten (Mutter des getöteten Sohnes und Lebensgefährtin des Getöteten): Das besondere persönliche Näheverhältnis zu ihrem Sohn wird gem. § 844 Abs. 3 S. 2 BGB vermutet. Hinsichtlich ihres getöteten Lebenspartners ergibt sich dieses daraus, dass eine soziale Beziehung bestand, die in den in § 844 Abs. 3 S. 2 BGB genannten Fällen typischerweise besteht. Es bestand ein gemeinsamer Haushalt, sie konnten sich zwar noch nicht verloben, da der Getötete noch verheiratet war, versprachen sich jedoch nach der Scheidung zu heiraten. Die Adhäsionsklägerin war zudem von dem Getöteten schwanger.
- Minderjährige Kinder, Mutter des Getöteten (Lebensgefährte): Das besondere persönliche Näheverhältnis wird auch hier gem. § 844 Abs. 3 S. 2 BGB vermutet.
- Geschwister des Getöteten (Lebensgefährte): Verhältnis entspricht dem zur Mutter. Die persönlichen Beziehungen waren in der gesamten Familie trotz erheblicher räumlicher Trennung eng. Die Beziehungen sind so eng, dass die Familie die Ex-Frau des Angeklagten nach der Tat bei sich aufnahmen und unterstützt diese bis heute.
- Ehemann, minderjährige Kinder, Eltern der Getöteten (Cousine): Auch hier wird das besondere Näheverhältnis gem. § 844 Abs. 3 S. 2 BGB vermutet.
- Schwester der Getöteten (Cousine): Verhältnis zwischen ihr und der Getöteten entspricht der Intensität nach dem Verhältnis zwischen der Getöteten und ihren Eltern. Trotz erheblicher räumlicher Trennung waren die persönlichen Beziehungen in der gesamten Familie eng. Es bestand ständiger Kontakt und man besuchte sich regelmäßig. Die gesamte Familie ist durch die Todesfälle erschüttert und es wird sich gegenseitig unterstützt, um das Geschehen zu verarbeiten.
Die Bemessung des Hinterbliebenengeldes steht im Ermessen des Gerichts. Sie soll dem Hinterbliebenen einen Ausgleich für das ihm zugefügte seelische Leid bieten. Eine eigene Gesundheitsbeeinträchtigung ist hierfür jedoch nicht erforderlich. Maßgeblich bemisst sich die Höhe durch die Intensität der Beeinträchtigung, die durch den Verlust entstanden ist. Der Durchschnittsbetrag pro Geschädigtem beträgt nach der Gesetzesbegründung 10.000€. Zudem kann sich an der Schockschadensrechtsprechung orientiert werden, bei der Schmerzensgelder i.H.v. 20.000€ oder darüber zugesprochen wurden.
Da das persönliche Leid, das noch keine eigene Gesundheitsbeeinträchtigung in Form eines Schockschadens darstellt, nur schwer festzustellen ist, hat die Bemessung neben den objektiven Bemessungskriterien auch nach Typisierungen zu erfolgen. Weiterhin ist die Schwere des Verschuldens des Schädigers sowie ein eventuelles Mitverschulden des Getöteten zu berücksichtigen, § 253 Abs. 2 BGB entsprechend, §§ 846, 254 BGB.
Zur Bemessung:
- Ex-Frau des Angeklagten (Mutter des getöteten Sohnes und Lebensgefährtin des Getöteten): Es besteht sowohl hinsichtlich des Sohnes als auch hinsichtlich des Lebensgefährten ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld. Der Verlust des eigenen Kindes ist für ein Elternteil der potentiell schlimmste Verlust. Erschwerend wirkt es zudem, dass die Adhäsionsklägerin die Tat weitestgehend selbst mitansehen musste und sich diese schlimmen Bilder tief in ihr Gedächtnis gebrannt haben. Bis heute leidet sie unter dem Verlust insb. ihres Sohnes und hat bisher noch keine Therapie angefangen, da sie meint, dass sie für ihr ungeborenes Kind „stark“ sein müsse und versucht die Tat zu verdrängen. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass das Verschulden des Angeklagten äußerst schwer wiegt und kein Mitverschulden der Getöteten vorlag. Daher ist für den Verlust des Sohnes ein Hinterbliebenengeld i.H.v. 20.000€ und für den Lebensgefährten i.H.v. 10.000€ angemessen.
- Minderjährige Kinder des Getöteten (Lebensgefährte): Die Kinder lebten nach der Trennung ihrer Eltern zwar bei ihrer Mutter, besuchten den Vater zuletzt jedoch regelmäßig an den Wochenenden und teilweise auch unter der Woche. Sie arrangierten sich mit der Trennung weitestgehend und waren gerne bei ihrem Vater. Auch mit der neuen Lebensgefährtin ihres Vaters (Ex-Frau des Angeklagten) sowie ihrem Sohn verstanden sie sich gut. M. war noch zu jung um zu verstehen, dass sein Vater nicht mehr kommt, V. weinte lange viel und konnte nicht mehr so gute Leistungen in der Schule erbringen und muss evtl. eine Klasse wiederholen. D. stritt sich kurz vor dem Tod seines Vaters mit ihm und hatte keine Möglichkeit mehr, sich mit ihm wieder zu vertragen. Daher ist jeweils ein Betrag i.H.v. 20.000€ angemessen.
- Ehemann, minderjährige Kinder, Eltern der Getöteten (Cousine): Der Ehemann und die Kinder der Getöteten verloren ihre Familienstruktur. Ehemann V. ist bisher für die Familie arbeiten gegangen und die Getötete hatte sich um die Kinder gekümmert. Es war bereits konkret geplant, dass sich V. mit einem eigenen Friseursalon selbstständig macht. Nun muss sich V um die Kinder kümmern und musste hierfür seinen Job aufgeben, sodass die Familie auf staatliche Unterstützung angewiesen ist. Er kommt mit der neuen Situation nicht zurecht. Kind S. verlor seine Mutter in sehr frühem Alter, in dem noch eine besondere Abhängigkeit zwischen ihm und der Mutter besteht. Er konnte die Tat nicht verstehen und fragt heute noch nach seiner Mutter. Zudem war er bei der Tat in der Wohnung und hat die Tat teilweise mitansehen müssen. Deshalb ist ein Hinterbliebenengeld i.H.v. 20.000€ angemessen.
- Übrige Adhäsionskläger: Mutter und Geschwister des Getöteten (Lebensgefährte) und Schwester und Eltern der Getöteten (Cousine): Auch sie leiden erheblich unter dem Verlust ihrer Nahestehenden und können sich die Tat nicht erklären, da der Angeklagte die V. P. (Cousine) tötete, obwohl er sie nicht kannte. Hier ist jeweils der Durchschnittsbetrag i.H.v. 10.000€ angemessen.