Hinterbliebenengeld XXV: Seelisches Leid für Bemessung grds. unerheblich
LG Heidelberg, Urt. v. 19.01.2023 – 5 O 93/21
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Leitsätze (amtlich)
- Soweit zur Eingrenzung der Schockschadensansprüche gefordert wird, die eigenen Gesundheitsbeeinträchtigungen des Anspruchstellers müssten mit Blick auf den Anlass „verständlich“ erscheinen, handelt es sich letztlich um eine Begrenzung unter dem Gesichtspunkt des hinreichenden Zurechnungszusammenhangs.
- Zur Bemessung des Hinterbliebenengelds.
- In welchem konkreten Umfang das vom Gesetzgeber vorausgesetzte seelische Leid vom jeweiligen Hinterbliebenen empfunden wird, soll für die Bemessung des Hinterbliebenengelds grundsätzlich unerheblich sein.
Sachverhalt
Die Klägerin (Tochter der 89-jährigen Verstorbenen) verlangt von der Beklagten (Haftpflichtversicherung) Schmerzens- und Hinterbliebenengeld infolge eines Autounfalls.
Die Verstorbene und ihre Bekannte fuhren am 08.12.2019 mit dem Pkw der Bekannten, der bei der Beklagten haftpflichtversichert ist, zu einem Restaurant. Die Verstorbene, die auf dem Parkplatz bereits ausgestiegen war, geriet aufgrund eines Fahrfehlers ihrer Bekannten zwischen das Auto und einen Zaun und zog sich infolgedessen Beinbrüche zu. Sie wurde daher in der Uniklinik behandelt und verstarb dort am 23.12.2019.
Die Klägerin ist der Auffassung, dass der Tod ihrer Mutter durch den Unfall verursacht wurde.
Sie habe nach dem Tod ihrer Mutter eine tiefe Trauer verspürt und es habe ein sehr inniges Verhältnis bestanden, u.a. habe sie den Haushalt ihrer Mutter nahezu vollständig besorgt. Die Trauer habe sich sodann zu einer rezidivierenden depressiven Störung entwickelt. Sie sei daher vom 22.05.-13.11.2020 arbeitsunfähig sowie in psychiatrischer Behandlung gewesen. Eine medikamentöse Therapie habe sie jedoch abgelehnt.
Die Klägerin beantragt u.a. die Beklagte zur Zahlung eines angemessenen Hinterbliebenengeldes zu verurteilen.
Entscheidung
Der Klägerin steht ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld gem. §§ 10 Abs. 3, 115 VVG i.H.v. 5.000€ zu.
Im Einzelnen:
- Das Hinterbliebenengeld besteht grds. selbstständig und unabhängig neben einem eventuellen eigenen Schmerzensgeldanspruch. Das Hinterbliebenengeld wurde eingeführt, um gerade die Fälle zu erfassen, in denen kein eigener Schmerzensgeldanspruch besteht. Der Anspruch auf Hinterbliebenengeld kann daher jedoch nicht kumulativ zu einem eigenen Schmerzensgeldanspruch gefordert werden.Die Voraussetzungen für den Anspruch auf Hinterbliebenengeld sind vorliegend erfüllt, insb. ist der Tod der Mutter ist zurechenbar auf den Unfall zurückzuführen.
- Als Richtwert geht der Gesetzgeber von einem durchschnittlichen Hinterbliebenengeld i.H.v. 10.000€ aus. Die Bemessung erfolgt insb. nach dem Näheverhältnis des Anspruchstellers zum Verstorbenen und dem Grad des Verschuldens des Schädigers.Vorliegend ergibt sich das Näheverhältnis aus dem gelebten Mutter-Tochter-Verhältnis. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass dem erwachsenen Kind in dem Todesfall eines Elternteils im fortgeschrittenen Alter nur ein ermäßigter Betrag zustehen soll, da sich der natürliche Verlust schon abgezeichnet hat und das Kind meist aus dem Elternhaus ausgezogen ist und selbst eine Familie gegründet hat.
Hier ist die 89-jährige Verstorbene ist bereits erheblich vorerkrankt und ihre Tochter lebt in einem eigenen Hausstand. Dass die Klägerin ihre Mutter versorgt, ändert an dieser Beurteilung nichts, denn dies rechtfertigt keine Gleichstellung mit dem Verlust eines minderjährigen Kindes oder eines Ehegatten.
- Die Genugtuungsfunktion entfällt vollständig, da der Unfall weder vorsätzlich noch leichtfertig verursacht wurde. Zudem lag die Todesursache bereits in dem angeschlagenen Gesundheitszustand vor und wurde durch den Unfall lediglich weiter angestoßen. Bei der Bemessung ist daher ebenfalls die Schadensanfälligkeit der Verstorbenen zu berücksichtigen.
- Unklar ist jedoch, inwieweit das erlittene Leid als Bemessungskriterium heranzuziehen ist. Nach der Gesetzesbegründung kann das Hinterbliebenengeld unabhängig von einem Nachweis einer medizinisch fassbaren Gesundheitsbeeinträchtigung gefordert werden. Das Hinterbliebenengeld kann und soll keinen Ausgleich für den Verlust eines nahestehenden Menschen bieten. Durch die Entschädigung soll der Hinterbliebene in die Lage versetzt werden, die durch den Verlust eines besonders nahestehenden Menschen verursachte Trauer und sein seelisches Leid zu lindern. Dabei ist der konkrete Umfang des Leids grds. unerheblich, denn sonst bestände für Kleinkinder, Demenzkranke oder Hinterbliebene, die – vielleicht sogar aufgrund desselben Unfalls – keine kognitive oder emotionale Fähigkeit haben, kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld.
Hier kann dies jedoch dahinstehen. Würde man die Depression zugunsten der Klägerin berücksichtigen, müsste man ebenfalls berücksichtigen, dass sie eine medikamentöse Therapie ablehnte, sodass sich ohnehin keine wesentliche Erhöhung des Hinterbliebenengeldes ergäbe.
Daher ist ein Hinterbliebenengeld i.H.v. 5.000€ angemessen.