Haftung beim Bahnhofsunfall

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

OLG Hamm, Beschluss vom 11.08.2021, Az.: 11 U 38/21

Leitsätze

Ein Fahrgast der Deutschen Bahn, der auf einem Bahnhof verunfallt, muss vertragliche Ansprüche gegen das Eisenbahnverkehrsunternehmen richten, mit dem er den Beförderungsvertrag abgeschlossen hat. Für deliktische Ansprüche kommt als Anspruchsgegner auch das Eisenbahninfrastrukturunternehmen in Betracht, das den Bahnhof betreibt. Die Deutsche Bahn AG ist in diesen Fällen nicht passivlegitimiert.

Sachverhalt

Die Klägerin nimmt die Deutsche Bahn AG (Eisenbahninfrastrukturunternehmen) wegen eines Unfalls in Anspruch, den sie als Fahrgast der DB Regio AG (Eisenbahnverkehrsunternehmen) auf dem Hauptbahnhof in A erlitten haben will. Für den Bahnhof war die DB Station & Service AG zuständig. Nach ihrem Behaupten war die Klägerin am Unfalltag von ihrem Wohnort B kommend mit dem Personennahverkehr zum Bahnhof in A gefahren und wollte von dort mit der U-Bahn weiterreisen. Auf ihrem Weg vom Ankunftsbahnsteig zur U-Bahnstation sei sie in der dorthin führenden Personenunterführung des Bahnhofs zu Fall gekommen, weil in dieser auf einer ca. 1-2 qm großen Teilfläche des Fußbodenbereichs die Verfliesung gefehlt habe.

Entscheidung

Das Landgericht und das OLG haben die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass der Klägerin wegen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens weder ein vertraglicher noch deliktischer Schadensersatzanspruch gegen die beklagte Deutsche bahn AG zustehe. Ein vertraglicher Schadensersatzanspruch bestehe deshalb nicht, weil zwischen den Parteien kein Vertragsverhältnis bestanden habe. Der von der Klägerin abgeschlossene Beförderungsvertrag sei nicht mit der Beklagten, sondern mit der DB Regio AG zustande gekommen. Auch eine (Mit-)Haftung der Beklagten unter Anscheins- oder Rechtsscheingesichtspunkten wegen ihres Verhaltens im Zuge der vorgerichtlichen Anspruchsstellung komme nicht in Betracht, weil die Beklagte im Rahmen der außergerichtlichen Korrespondenz ausdrücklich darauf hingewiesen habe, die Angelegenheit lediglich im Auftrag der DB Station & Service AG zu bearbeiten. Ein deliktischer Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB stehe der Klägerin ebenfalls nicht gegen die Beklagte zu, weil nicht diese, sondern die DB Station & Service AG Betreiberin des Bahnhofs und damit für diesen verkehrssicherungspflichtig sei.

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Hinterbliebenengeld – Übersicht (Stand 09/2021)

Michael PeusMichael Peus

zur tabellarischen Darstellung 08/22

 

Die Regelungen zum Hinterbliebenengeld wurden am 17.07.2017 in dem „Gesetz zur Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld‟ vom Bundestag beschlossen.

 

1. normative Grundlagen

In verschiedenen Gesetzen wurde diese Regelung eingeführt:

  • § 844 III BGB (Bürgerliches Gesetzbuch),
  • § 86 III AMG (Arzneimittelgesetz),
  • § 32 IV GenTG (Gentechnikgesetz),
  • § 7 III ProdHaftG (Produkthaftungsgesetz),
  • § 12 III UmweltHG (Umwelthaftungsgesetz),
  • § 28 III AtG und § 15 III AtG (Atomgesetz),
  • § 10 III StVG (Straßenverkehrsgesetz),
  • § 5 III HaftPflG (Haftpflichtgesetz),
  • § 35 III LuftVG und
  • § 72 VI LuftVG (Luftverkehrsgesetz).

 

2. zeitlicher Anwendungsbereich

Die Überleitungsvorschrift findet sich im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch unter Art. 229 § 43 EGBGB. Diese Regelungen gelten für zum Tod führende Verletzungen, die nach dem 22.07.2017 eingetreten sind. Hinterbliebenengeld kommt somit in Betracht für Sachverhalte, in denen die zum Tod führende Verletzung ab dem 22.07.2017 eingetreten ist (zutreffend: OLG München im Endurteil vom 25.03.2021, Az. 1 U 1831/18; Anwendungsbereich verkannt: LG Limburg). Wie das OLG Düsseldorf verdeutlicht, hat die Einführung des Hinterbliebenengeldes auch keine mittelbare Auswirkung auf alte Sachverhalte vor Einführung des Hinterbliebenengeldes.

 

3. Ausschluss nach SGB VII!?

Die Frage ist noch umstritten.

Nach diesseits vertretener Ansicht sind Ansprüche der Angehörigen auf Hinterbliebenengeld dann ausgeschlossen, wenn der Schädiger die Haftungsprivilegien der §§ 104 f. SGB VII genießt. Sowohl § 104 SGB VII als auch § 105 SGB VII schließen Ansprüche aus und benennen dabei ausdrücklich auch die Angehörigen und Hinterbliebenen, denen kein Ersatz geschuldet werde. Der BGH hat zwar für das originär beim Angehörigen entstandene Schmerzensgeld eine Ausnahme gemacht – aber nur für das bei ihm in Person entstandene Schmerzensgeld. § 844 Abs. 3 BGB knüpft hingegen unmittelbar daran an, dass jemand „ersatzpflichtig‟ sein muss. Und das ist er bei einer ausschließlichen Verletzung des Mitarbeiters bzw. Arbeitskollegen nicht. Diese Rechtsansicht fand auch Eingang in die zunächst ergangenen Urteile, vgl. LG Koblenz und LG Mainz.

Das OLG Koblenz hat indes den Ausschluss nicht angewendet, sondern dem Hinterbliebenen den Anspruch auf Hinterbliebenengeld zugestanden, obwohl es sich um einen privilegierten Arbeitsunfall handelte. Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig, sondern wegen der grundsätzlichen Bedeutung richtigerweise anhängig beim Bundesgerichtshof zum Aktenzeichen BGH VI ZR 3/21.

 

4. Höhe

Hinterbliebenengeld (§ 844 Abs. 3 BGB oder § 10 Abs. 3 StVG) fügt sich der Höhe nach in den gesetzgeberisch vorgesehenen Rahmen bzw. die bisherigen Entscheidungen zum Schmerzensgeld ein. Entsprechend der Rechtsprechung zum Schmerzensgeld muss ein Anspruchsteller nur einen Mindestbetrag fordern, ohne dass das Gericht durch diesen an einer höheren Bewertung gehindert wäre (vgl. LG München II, Endurteil v. 17.05.2019 – 12 O 4540/18). Darin liegt kein Verstoß gegen § 308 Abs. 2 ZPO (ne ultra petita).

Falls ein Geschädigter (auch) Schmerzensgeldansprüche besitzt, erhöht das Vorliegen beider Anspruchsgrundlagen nicht den Gesamtanspruch. Vielmehr geht sonst der eine Anspruch in dem anderen auf bzw. ist der Anspruch auf Hinterbliebenengeld in der Höhe subsidiär, vgl. LG BonnLG Regensburg und OLG Koblenz.

 

5. Angehörige: auch der Nasciturus!?

Was ist mit Hinterbliebenengeld für ein zum Verletzungszeitpunkt gezeugtes, aber noch nicht geborenes Kind? Nach dem Gesetzestext ist auf den Zeitpunkt der Verletzung abzustellen:

„Der Ersatzpflichtige hat dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war.‟
vgl. z.B. § 844 Abs. 3 BGB

Nach § 1 BGB beginnt die Rechtsfähigkeit des Menschen mit der Geburt. Entsprechend den hiesigen Erwägungen in der Übersicht 07/2021 hat das OLG München – Zweigstelle Augsburg – am 05.08.2021 zum Aktenzeichen 24 U 5354/20 entschieden, dass dem Nasciturus kein Hinterbliebenengeld zusteht.

 

6. Exkurs: Strafrecht

Falls ein Angehöriger einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld hat, ist er in einem Strafverfahren gegen den Schädiger Verletzter im Sinne des § 403 StPO (Geltendmachung eines Anspruchs im Adhäsionsverfahren), vgl. BGH im Beschluss vom 05.09.2019 – 4 StR 178/19. Er ist jedoch kein Verletzter im Sinne des § 46a StGB (Täter-Oper-Ausgleich, Schadenswiedergutmachung), vgl. BGH im Beschluss vom 06.06.2018 – 4 StR 144/18.

 

7. Übersicht

Betrag Näheverhältnis Bemessungsgründe Haftungsgrund Gericht
0 Nasciturus (Vater verstarb vor der Geburt)
kein Näheverhältnis
Nasciturus ist nach § 1 BGB noch nicht rechtsfähig; eine Ausnahme – wie in § 844 Abs. 2 BGB – hat der Gesetzgeber nicht gemacht; von einer ungewollten Regelungslücke ist nicht auszugehen. Verkehrsunfall in 2017 OLG München im Endurteil vom 05.08.2021, Az. 24 U 5354/20
0 Sohn einer Getöteten kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld wegen des zeitlichen Anwendungsrahmens (ab 22.07.2017) Krebsbehandlung in 2015 OLG München im Endurteil vom 25.03.2021, Az. 1 U 1831/18
[eingefügt 17.09.2021]
0 Mutter einer Getöteten kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, weil Schmerzensgeldanspruch höher ist und dem Hinterbliebenengeld vorgeht Mord am 29.06.2019 LG Bonn, Urteil vom 03.12.2019 – 24 Ks 7/19
[eingefügt 21.10.2020]
0 Schwiegermutter einer Getöteten kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld wegen Sperre nach §§ 104, 105 SGB VII Arbeitsunfall am 14.03.2018 LG Koblenz, Urteil vom 24. April 2020 – 12 O 137/19
[eingefügt 21.10.2020]
0 Schwipschwägerin
kein ausreichendes Näheverhältnis
  • enger Familienverbund
  • erhebliche gemeinsame Freizeitgestaltung
  • nicht verwandt
  • nicht verschwägert
  • kein gemeinsamer Haushalt
  • keine finanzielle Unterstützung
Verkehrsunfall am 14.09.2016 LG Limburg, Urteil vom 22.03.2019 – 2 O 177/18
[eingefügt 10.08.2020]
0 Ehemann
Näheverhältnis widerlegt
  • seit 4 Jahren getrennt
  • Scheidungsantrag 1 Jahr vorher eingereicht
  • neue Beziehung des Ehemannes
Verkehrsunfall am 14.04.2018 LG Traunstein, Endurteil v. 11.02.2020, Az. 1 O 1047/19
0 Angehörige nach § 844 Abs. 3 BGB
Näheverhältnis widerlegt
  • Die Beziehung der Angehörigen zum Verstorbenen war „gerade in den Jahren vor deren Tod als schwierig und nicht eng im Sinne eines regelmäßig gelebten persönlichen Kontakts und besonderen persönlichen Näheverhältnisses gestaltet‟.
  • Allein Trauer über den Tod des Angehörigen genügt nicht.
Mord BGH, Beschluss vom 18.05.2020, Az. 6 StR 48/20
2.000 Vater
eines 19-jährigen Verstorbenen
  • 1998 Sohn geboren
  • 2000 Mutter und Verstorbenen verlassen
  • 2006 Umzug des Vaters; persönlicher Kontakt nur in Ferienzeit; dann: Kontaktabbruch; keine familiäre Vater-Sohn-Beziehung
  • 2012: nach Versterben der Kindsmutter wieder Umgangskontakt; 2 Mal wöchentlich telefonischer Kontakt
  • 2013: es beginnt wieder Umgangskontakt in Form monatlicher Umganswochenenden und während der Schulferien
  • 2016: im September letzter persönlicher Kontakt
  • 09.09.2017: letzter Kontakt via Handy-Chat
  • Sohn war bereits Erwachsen
Mord in 09/2017; Haftung des Schädigers 100% LG Osnabrück, Urteil vom 09. Januar 2019 – 3 KLs 4/18 [eingefügt: 21.10.2020]
3.000 Schwiegertochter einer Verstorbenen Verkehrsunfall in 2018; Haftung des Schädigers 100% LG München II, Endurteil vom 17.05.2019 – 12 O 4540/18
5.000 Vater
eines verstorbenen 20-Jährigen
  • Alter des Verstorbenen
  • kein gemeinsamer Wohnsitz
  • Fahrlässigkeit auf Seiten des Beklagten
  • kurze Zeit vom Unfallzeitpunkt bis zum Eintritt des Todes
  • mindestens 50% Mitverschulden des Verstorbenen
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers (maximal) 50%
OLG Koblenz, Beschluss vom 31.08.2020 – 12 U 870/20
[eingefügt 08.01.2021]
5.000 Sohn
einer Verstorbenen
  • 48 Jahre alt
  • bereits verheiratet
Verkehrsunfall in 2018; Haftung des Schädigers 100% LG München II, Endurteil vom 17.05.2019 – 12 O 4540/18
5.000 Bruder
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • Miterleben des Unfalls und des Versterbens
  • räumliche Entfernung sprach gegen besondere Nähe
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18
6.500 Tochter
eines Unfallopfers
  • Tochter war erste Ansprechpartnerin des Vaters
  • Tochter trauerte noch 18 Monate nach Unfall um den Vater
  • Wohnorte knapp 150 km auseinander
  • grundsätzlich gewöhnliche Vater-Tochter-Beziehung
Verkehrsunfall
in 2018
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Flensburg, SCHLÜNDER: 1304-2019
[eingefügt 14.08.2020]
7.500 Kinder
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • alle Kinder schon über 20 Jahre alt
  • waren nicht auf Fürsorge des Verstorbenen angewiesen
  • waren in einem Alter, in dem man sich von dem Elternhaus allmählich löst
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18
8.000 erwachsene Tochter
einer Verstorbenen
  • enges emotionales Verhältnis trotz räumlicher Distanz
  • Töchter waren schon erwachsen
Mord in 08/2019
Haftung des Schädigers 100%
LG Münster Urteil vom 16.07.2020 – 2 Ks-30 Js 206/19-23/19
[eingefügt 08.01.2021]
8.000 Schwiegermutter
einer Verstorbenen
  • besonders enges Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Verstorbener (etwa Mutter-Tochter-Verhältnis)
  • verstorbene Schwiegertochter gehört nicht zum engsten Kreis der Angehörigen
Arbeitsunfall am 14.03.2018
Haftung des Schädigers 100%
OLG Koblenz Urteil vom 21.12.2020 – 12 U 711/20
[eingefügt 28.07.2021]
10.000 Tochter
eines Verstorbenen
  • Tochter war Ansprech- und Notfallkontaktperson des Verstorbenen
  • enge Bindung
  • besonderes persönliches Näheverhältnis zwischen Vater und Tochter
  • nach dem Tod des Vaters: Schlafstörungen, Ängste beim Autofahren, Arbeitsplatzwechsel
  • Schockschaden
Verkehrsunfall in 12/2018
Haftung des Schädigers 100%
Oberlandgericht Schleswig, Urteil vom 23.02.2021, Az. 7 U 149/20
10.000 Ehemann
einer Verstorbenen
  • 40 Ehejahre
Unfalltod
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Wiesbaden, Beschluss vom 23.10.2018, Az. 3 O 219/18
12.000 Ehefrau
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • 30 Ehejahre
  • 4 gemeinsame Kinder
  • klare Aufgabenverteilung
  • Vertrauensverhältnis mit finanzieller Abhängigkeit vom Verstorbenen
  • grobe Fahrlässigkeit des Schädigers
  • seit 28 Jahren wurde das gemeinsame Hobby (Motorradfahren) nicht ausgeübt
  • gemeinsame Aktivitäten erschöpften sich im Nordseeurlaub
  • Schädiger bereute und zahlte 2.000 Euro schon im Strafverfahren
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18
15.000 Mutter und Vater
einer 16-jährigen Verstorbenen
  • spätes Wunschkind
  • einziges Kind
  • wesentlicher Lebensinhalt und sozialer Bezugspunkt
  • schuldhafte Unfallverursachung, Leiden der Verstorbenen und Kenntnis der Eltern
Verkehrsunfall am 30.04.2018
Haftung des Schädigers 100%
LG Leipzig, Urteil vom 08.11.2019 – 05 O 758/19 [eingefügt: 21.10.2020]
15.000 Tochter
einer 45-jährigen Verstorbenen
  • einzig nahe Verwandte in Deutschland
  • vorsätzliche Tötung
Totschlag im Jahr 2019
Haftung des Schädigers 100%
LG Regensburg, Urteil 16.12.2020, Az. Ks 103 Js 28875/19 [eingefügt: 11.05.2021]

 

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Verjährungsunterbrechung durch Zahlungen

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

OLG Frankfurt, Beschluss vom 14. April 2021, Az.: 22 U 15/21

Leitsätze

Darin, dass ein Schädiger Einzelansprüche eines Geschädigten erfüllt, liegt eine Leistung auf den Gesamtanspruch, durch die dessen Verjährung unterbrochen neu begonnen wird, denn über den Einzelansprüchen steht der Gesamtanspruch, aus dem diese fließen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn ausschließlich Ersatzansprüche für einen Personenschaden in Betracht kommen.

Sachverhalt

Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Zahlung rückständiger Pflegeversicherungsbeiträge für die Jahre 2009 bis 2014 in Anspruch, für die die Beklagte dem Grunde nach unstrittig gemäß §§ 7 StVG, 115 VVG einstandspflichtig ist. Die Beklagte beruft sich auf Verjährung. Außerdem hat die Klägerin von der Beklagten die Feststellung der Ersatzpflicht dem Grunde nach verfangt. Insoweit hat die -Beklagte modifiziert ein Anerkenntnis abgegeben. Durch das Teilanerkenntnis- und Schlussurteil vom 26.11.2020 hat das Landgericht insgesamt, hinsichtlich der Feststellung über das Anerkenntnis hinaus, der Klage stattgegeben. Es hat zur Begründung ausgeführt, dass die Einrede der Verjährung nicht durchgreife, weil die Beklagte durch die zwischenzeitlich vorbehaltslos erfolgten Zahlungen auf andere Pflegeleistungen der Klägerin die Schadensersatzverpflichtung anerkannt habe, was regelmäßig zu einem Neubeginn der Verjährungsfrist führe.

Hiergegen richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung der Beklagten, mit der diese sich gegen die Verurteilung zur Zahlung insgesamt und im Übrigen auch gegen die weitergehende Formulierung des Feststellungstenors wendet.

Entscheidung

Ein tatsächliches Anerkenntnis ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Schädiger oder der auch insoweit für ihn handelnde Haftpflichtversicherer dem Geschädigte bzw. dessen Rechtsnachfolger auf dessen Verlangen Schadensersatzleistungen erbringt. Da der gesamte aus einer unerlaubten Handlung entstehende Schaden eine Einheit darstellt, jedenfalls soweit es sich um Personenschäden handelt, liegt ein den Anspruch auf Ersatz dieses Schadens insgesamt umfassendes Anerkenntnis regelmäßig auch dann vor, wenn sich der Schaden aus mehreren Schadensarten (z.B. Heilungskosten, Erwerbsschaden, Mehrbedarf) zusammensetzt, der Geschädigte bzw. sein Rechtsnachfolger nur einzelne dieser Schadensteile geltend macht und der Schädiger allein hierauf zahlt. Hierdurch erweckt nämlich der Schädiger grundsätzlich das Vertrauen, auch auf die anderen Schadensgruppen, soweit sie geltend gemacht werden, Ersatz leisten zu wollen.

Ein Teilanerkenntnis unterbricht hingegen nur die Verjährung der Forderungsteile, auf die es sich bezieht. Ob ein solches Teilanerkenntnis vorliegt, ist allerdings Auslegungsfrage. Die Verjährungsfrist für die gesamte Forderung, also für das Stammrecht und die wiederkehrenden Leistungen, beginnt neu, wenn sich aus den Umständen ergibt, dass die Ersatzpflicht dem Grunde nach voll anerkannt wird. Bei der vorbehaltlosen Erfüllung von Einzelansprüchen ist dies, regelmäßig der Fall.

Für die Praxis:

Leistet ein Haftpflichtversicherer ohne Vorbehalte etwa auch nur Vorschüsse auf den Gesamtschaden, ist damit die Verjährung des ganzen Anspruchs unterbrochen. Leistet der Versicherer ausdrücklich nur auf einzelne Schadenspositionen, muss er auf eine darauf beschränkte Verjährungsunterbrechung klar und deutlich hinweisen, da die bloße Benennung einzelner Schadenspositionen etwa in einem Abrechnungsschreiben nicht genügen dürfte, um in der Zahlung auf einzelne Positionen oder Schadensteile ein Teilanerkenntnis zu erkennen, auf dessen Teil dann auch die Unterbrechung beschränkt ist. So auch, wenn zwar ohne Eingrenzung auf den Gesamtanspruch gezahlt wird, jedoch nur nach einer bestimmten ausdrücklich akzeptierten Haftungsquote. In diesem Fall beschränkt sich das Anerkenntnis zwar nicht auf Einzelpositionen, wohl aber auf die anerkennte Quote betreffend jeder in Frage kommenden Einzelposition. IM Übrigen läuft die Verjährung weiter. Liegt eine Unterbrechung bzw. ein Anerkenntnis vor, gilt dies auch für regelmäßig wiederkehrende Leistungen, allerdings nur im Umfang der regelmäßigen Verjährung von 3 Jahren. Auf § 197 Abs. 2 BGB kommt es insoweit nicht an, der erst greift, wenn einer der dort genannten Fälle vorliegt oder die Parteien eine Gleichsetzung vereinbaren. Ein Anerkenntnis nach § 212 BGB wird in § 197 BGB gerade nicht erwähnt. Die bloße Zahlung ohne einen Zusatz einer allgemeinen Verpflichtung des Schuldners, man erkenne die Ansprüche an mit Wirkung eines titelersetzenden Anerkenntnisses an, kann nicht gleichgesetzt werden.

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Haftung und Beweislast des Fahrzeugführers bei einem Unfall mit Fußgänger

Michael PeusMichael Peus

OLG Hamm, Urteil vom 06.09.2019 – 7 U 18/17

 

Leitsätze (amtlich)

  1. Zum verkehrsrichtigen Verhalten im Vorfeld einer erkennbaren bzw. bekannten Geschwindigkeitsbegrenzung.
  2. Zur Führung des Entlastungsbeweises des § 18 Abs. 1 S. 2 StVG obliegt es dem von einem Fußgänger wegen eines Verkehrsunfalls mit einem Kfz in Anspruch genommenen Fahrer, darzulegen und zu beweisen, dass der Fußgänger auch bei einer geringeren Kollisionsgeschwindigkeit des Kfz infolge verkehrsrichtiger moderater Beschleunigung ebenso schwere Verletzungen erlitten hätte.

 

Sachverhalt

Der Kläger verlangt u.a. Schmerzensgeld, Schadensersatz für Erwerbsschäden und vermehrte Bedürfnisse und eine Geldrente aus einem Verkehrsunfall. Bei diesem überquerte er zu Fuß eine Straße, als er von dem Auto der Beklagten zu 1), das bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert ist, erfasst wurde. Er erlitt schwerste Verletzungen und ist seitdem dauerhaft an einen Rollstuhl gebunden. Dadurch ist es ihm unmöglich geworden, seinen Beruf auszuüben. Er lebt nun in einer Eigentumswohnung, die behindertengerecht ausgebaut werden musste.

Das Landgericht wies die Klage ab. Ein Anspruch gem. §§ 7 StVG, 115 VVG, 1 PlfVG gegen die Beklagte zu 2) scheide aus, da der Kläger durch grob fahrlässiges Verhalten den Unfall verursacht habe, indem er trotz herannahendem Fahrzeugs des Beklagten zu 1) die Fahrbahn überquerte und so in besonders schwerer Weise gegen § 25 Abs. 2 StVO verstieß. Die von dem Pkw ausgehende Betriebsgefahr trete deshalb hinter dem Mitverschulden des Klägers zurück. Gegen die Beklagte zu 1) komme auch kein Anspruch aus § 18 StVG in Betracht, da die Ersatzpflicht des Beklagten zu 1) gem. § 18 Abs. 1 S. 2 StVG ausgeschlossen sei.

Mit der Berufung verfolgt der Kläger weiterhin seine Begehren und ist der Ansicht, dass die Betriebsgefahr des Pkw des Beklagten zu 1) mit 20% berücksichtigt werden müsse und diese nicht hinter seinem Verschulden zurücktrete.

 

Entscheidung

Das OLG Hamm spricht dem Kläger Ersatz der unfallbedingten Schäden nach einer Haftungsquote von 20% zu Lasten der Beklagten zu. Bzgl. der Beklagten zu 1) ergibt sich dieser Anspruch aus § 18 Abs. 1 StVG, bzgl. der Beklagten zu 2) aus §§ 7, 18 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 VVG.

Nach § 18 Abs. 1 StVG wird das Verschulden des Fahrzeugführers vermutet, bis dieser seine Entlastung gem. § 18 Abs. 1 S. 2 StVG beweisen kann. Vorliegend hat der Beklagte zu 1) jedoch nicht nachgewiesen, sich in der Verkehrssituation richtig verhalten zu haben.

Der Beklagte zu 1) fuhr maximal 75 km/h bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h, sodass kein Verstoß gegen § 41 Abs. 1 StVO vorliegt.

Jedoch befand sich der Kläger nur 8,1m vor dem die Höchstgeschwindigkeit auf 70 km/h beschränkenden Verkehrszeichen. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit muss bereits ab dem Standort des die Höchstgeschwindigkeit vorschreibenden Schildes eingehalten werden. Auf diesem Stück, das zwischen einer Kreisverkehrausfahrt und dem die Höchstgeschwindigkeit auf 70 km/h beschränkenden Schild liegt, beschleunigte der Beklagte zu 1) trotz seiner Ortskundigkeit, mehr als moderat. Eine Erreichung von 100 km/h ist auf dieser Strecke aufgrund der kurzen Distanz nicht möglich.

Ein Durchschnittsfahrer hätte aufgrund seiner Ortskenntnis nicht mehr als moderat beschleunigt, sodass seine Geschwindigkeit am Standort des Verkehrszeichens nicht mehr als 70 km/h betragen hätte. Die Geschwindigkeit im Bereich der Unfallstelle hätte somit auch nur 60 km/h betragen. Dadurch wäre der Kläger nicht mittig, sondern weiter außen vom Pkw erfasst worden, womit auch die Wahrscheinlichkeit geringerer Verletzungsfolgen größer ist. Hiergegen trat der Beklagte keinen Entlastungsbeweis an, sodass seine Haftung aus § 18 StVG nicht entfällt.
Der Unfall selbst war hingegen auch bei einer angepassten Geschwindigkeit räumlich und zeitlich nicht vermeidbar.

 

Im Rahmen der Abwägung der Unfallverursachungsbeiträge ist auf Seiten des Klägers ein Verstoß gegen § 25 Abs. 3 S. 1, 2 StVO anzulasten.
Auf Beklagtenseite ist eine einfache Betriebsgefahr des Pkw i.H.v. 20% zu berücksichtigen. Diese tritt auch – entgegen der Ansicht des Landgerichtes – nicht hinter dem (nicht bewiesenen) Verschulden des Klägers zurück. Zwar kann die Gefährdungshaftung für den Betrieb eines Kraftfahrzeuges in den Fällen überwiegend zurücktreten oder gänzlich entfallen, in denen das nicht motorisierte Unfallopfer durch ein grob verkehrswidriges Verhalten eine Unfallursache gesetzt hat, jedoch kommt ein Haftungsausschluss nur in Ausnahmefällen in Betracht. Dies ist z.B. bei der Haftung wegen überwiegenden Mitverschuldens bei Fußgängerunfällen der Fall, wenn besondere Umstände das Verschulden als außergewöhnlich schwer erscheinen lassen.
Bei grober Fahrlässigkeit lässt sich ein Haftungsausschluss bei Fußgängerunfällen nur dann rechtfertigen, wenn die Betriebsgefahr des Pkw geringer zu werten ist. Dieser Haftungsausschluss z.B. ist in Betracht zu ziehen, wenn sich der Fahrzeugführer nachweislich wie ein Idealfahrer verhalten hat. Wenn auch ein Idealfahrer den Unfall hätte nicht vermeiden können, spricht dies dafür, die betriebsbedingte Haftung komplett zurücktreten zu lassen.
Dass der Beklagte zu 1) sich wie ein Idealfahrer verhalten hat, steht jedoch nicht fest. Hierzu hätte es eines weitergehenden Entlastungsbeweises bedurft.

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Eine fiktive Abrechnung auf Neuwagenbasis ist ohne entsprechende Ersatzbeschaffung nicht zulässig

Michael PeusMichael Peus

BGH, Urteil vom 29.09.2020 – VI 271/19

 

Leitsatz (redaktionell)

Eine fiktive Abrechnung auf Neuwagenbasis ist nicht zulässig. Der Vortrag, die Anschaffung eines Neuwagens aus finanziellen Gründen unterlassen zu haben, ändert hieran nichts.

 

Sachverhalt

Der Kläger verlangt Schadensersatz i.H.v. 37.923,32€ aus einem Verkehrsunfall, bei dem sein neu erworbenes Fahrzeug (Kilometerstand: 571km) beschädigt wurde. Hierbei rechnet er die Kosten für einen Neuwagen fiktiv ab (37.181€) und verlangt weiterhin Sachverständigenkosten i.H.v. 712,32€ und eine Kostenpauschale i.H.v. 30€. Die Beklagten sind dem Grunde nach voll einstandspflichtig. Das Landgericht gab der Klage i.H.v. 37.918,32€ statt und wies einen Teil der Kostenpauschale ab.

Auf die Berufung der Kläger hin sprach das OLG dem Kläger nur noch die Reparaturkosten, die Sachverständigenkosten, eine Wertminderung und eine Kostenpauschale von insgesamt 6.180,54€ zu.

Mit der Revision verfolgt der Kläger weiterhin seinen Anspruch auf Neuwagenentschädigung i.H.v. 31.787,78€.

 

Entscheidung

Die Revision hat jedoch keinen Erfolg. Der Schadensersatzanspruch kann nicht geltend gemacht werden, da der Kläger sich keinen Neuwagen angeschafft hat. Eine fiktive Abrechnung auf Neuwagenbasis ist nur möglich, wenn ein fabrikneues Fahrzeug mit einer Laufleistung von weniger als 1.000km erheblich beschädigt und ein gleichwertiges Neufahrzeug als Ersatz angeschafft wurde. Auch der Vortrag des Klägers, die Anschaffung aus finanziellen Gründen unterlassen zu haben, genügt für eine fiktive Abrechnung nicht.

Der höhere Schadensausgleich durch die Abrechnung auf Neuwagenbasis dient dem besonderen Interesse des Geschädigten an seinem Eigentum und der Nutzung des Neuwagens. Dieses besondere Interesse besteht jedoch nur, wenn dieses im konkreten Einzelfall durch den Kauf eines Neuwagens nachgewiesen wird. Dann ist der höhere Schadensausgleich auch mit dem Wirtschaftlichkeitspostulat und dem Bereicherungsverbot vereinbar.

Der Revision kann auch durch ein nachträgliches Beschaffen eines Neuwagens nicht zum Erfolg verholfen werden, denn das OLG hatte diesen Sachverhalt gerade nicht zu entscheiden. Der Kläger hatte sich unstreitig keinen Neuwagen als Ersatz beschafft. Der Fall der Neubeschaffung ist somit nicht von der Rechtskraft umfasst.

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Hinterbliebenengeld – Übersicht (Stand 07/2021)

Michael PeusMichael Peus

zur aktuelleren Übersicht (08/2022)

Hinterbliebenengeld (§ 844 Abs. 3 BGB oder § 10 Abs. 3 StVG) fügt sich in den gesetzgeberisch vorgesehenen Rahmen bzw. die bisherigen Entscheidungen zum Schmerzensgeld ein. Wie das OLG Düsseldorf verdeutlicht, hat die Einführung des Hinterbliebenengeldes selbstverständlich auch keine Auswirkung auf alte Sachverhalte vor Einführung des Hinterbliebenengeldes.

Hinterbliebenengeld kommt somit in Betracht für Sachverhalte, in denen die zum Tod führende Verletzung ab dem 22.07.2017 eingetreten ist (zutreffend: OLG München im Endurteil vom 25.03.2021, Az. 1 U 1831/18; Anwendungsbereich verkannt: LG Limburg).

Falls ein Geschädigter auch Schmerzensgeldansprüche besitzt, erhöht das Vorliegen beider Anspruchsgrundlagen nicht den Gesamtanspruch. Vielmehr geht sonst der eine Anspruch in dem anderen auf bzw. ist der Anspruch auf Hinterbliebenengeld in der Höhe subsidiär, vgl. LG BonnLG Regensburg und OLG Koblenz. Gesperrt ist ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, wenn der Schädiger nach den Vorschriften des SGB VII privilegiert ist, vgl. LG Koblenz und LG Mainz, aA OLG Koblenz (nicht rechtskräftig; anhängig BGH VI ZR 3/21).

Die Ansicht des OLG Koblenz, dass Ansprüche auf Hinterbliebenengeld nicht nach den Vorschriften der §§ 104 f. SGB VII ausgeschlossen seien, ist abzulehnen. Sowohl § 104 SGB VII als auch § 105 SGB VII schließen Ansprüche aus und benennen dabei ausdrücklich auch die Angehörigen und Hinterbliebenen, denen kein Ersatz geschuldet werde. Der BGH hat zwar für das originär beim Angehörigen entstandene Schmerzensgeld eine Ausnahme gemacht – aber nur für das bei ihm in Person entstandene Schmerzensgeld. § 844 Abs. 3 BGB knüpft hingegen unmittelbar daran an, dass jemand „ersatzpflichtig‟ sein muss. Und das ist er bei einer ausschließlichen Verletzung des Mitarbeiters bzw. Arbeitskollegen nicht. Abzuwarten bleibt, wie sich der Bundesgerichtshof dazu positioniert; das Verfahren ist dort anhängig unter dem Aktenzeichen VI ZR 3/21.

Was ist mit Hinterbliebenengeld für ein zum Verletzungszeitpunkt gezeugtes, aber noch nicht geborenes Kind? Nach dem Gesetzestext ist auf den Zeitpunkt der Verletzung abzustellen:

„Der Ersatzpflichtige hat dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war.‟
vgl. z.B. § 844 Abs. 3 BGB

Nach § 1 BGB beginnt die Rechtsfähigkeit des Menschen mit der Geburt. Für die Erbfähigkeit ordnet § 1923 Abs. 2 BGB an, dass der bereits gezeugte Mensch als vor dem Erbfall geboren gilt, wenn er zum Zeitpunkt des Erbfalls bereits gezeugt war. Das ist aber eine Ausnahmevorschrift. Dieser Mensch wird demnach bereits vor der Geburt Erbe. Für das Erbrecht gilt mithin eine Rechtsfähigkeit schon vor der tatsächlichen Geburt. Auch § 844 Abs. 2 S. 2 BGB sieht diesen Rechteerwerb für Gezeugte, aber noch nicht Geborene vor. § 844 Abs. 3 BGB sieht eine solche Erstreckung indes nicht vor. Der Gesetzgeber hat sich auch mit dem aktuellen Schutz des ungeborenen Lebens befasst (WD 7 – 3000 – 256/18), § 844 Abs. 3 BGB aber gerade nicht genannt. Nunmehr bleibt die Entscheidung des OLG München – Zweigstelle Augsburg – abzuwarten, welches voraussichtlich am 05.08.2021 zum Aktenzeichen 24 U 5354/20 entscheiden wird, ob es in § 844 Abs. 3 BGB eine versehentliche Regelungslücke sieht und man § 844 Abs. 2 S. 2 BGB mit hineinlesen muss oder – was aufgrund des offensichtlichen Unterschieds zwischen § 844 Abs. 2 und Abs. 3 BGB näher liegt – der Gesetzgeber bei dem Hinterbliebenengeld vom Grundsatz des § 1 BGB ausgegangen ist. Dass einem ungeborenen Kind kein Hinterbliebenengeld zusteht, liegt nach hier vertretener Ansicht auch deshalb näher, weil die Bindung zwischen Ungeborenem und dem verstorbenem Vater kaum messbar ist. Wie sollte dieses Verhältnis in Geld bemessen werden im Vergleich zu wahrnehmbaren Beziehungen zwischen Geborenen?

Nachstehend ein Überblick über einige veröffentlichten Entscheidungen:

 

Betrag Näheverhältnis Bemessungsgründe Haftungsgrund Gericht
0 Sohn einer Getöteten kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld wegen des zeitlichen Anwendungsrahmens (ab 22.07.2017) Versterben am 14.10.2015 im Rahmen einer Krebsbehandlung OLG München im Endurteil vom 25.03.2021, Az. 1 U 1831/18
[eingefügt 19.04.2021]
0 Mutter einer Getöteten kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, weil Schmerzensgeldanspruch höher ist und dem Hinterbliebenengeld vorgeht Mord am 29.06.2019 LG Bonn, Urteil vom 03.12.2019 – 24 Ks 7/19
[eingefügt 21.10.2020]
0 Schwiegermutter einer Getöteten kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld wegen Sperre nach §§ 104, 105 SGB VII Arbeitsunfall am 14.03.2018 LG Koblenz, Urteil vom 24. April 2020 – 12 O 137/19
[eingefügt 21.10.2020]
0 Schwipschwägerin
kein ausreichendes Näheverhältnis
  • enger Familienverbund
  • erhebliche gemeinsame Freizeitgestaltung
  • nicht verwandt
  • nicht verschwägert
  • kein gemeinsamer Haushalt
  • keine finanzielle Unterstützung
Verkehrsunfall am 14.09.2016 LG Limburg, Urteil vom 22.03.2019 – 2 O 177/18
[eingefügt 10.08.2020]
0 Ehemann
Näheverhältnis widerlegt
  • seit 4 Jahren getrennt
  • Scheidungsantrag 1 Jahr vorher eingereicht
  • neue Beziehung des Ehemannes
Verkehrsunfall am 14.04.2018 LG Traunstein, Endurteil v. 11.02.2020, Az. 1 O 1047/19
0 Angehörige nach § 844 Abs. 3 BGB
Näheverhältnis widerlegt
  • Die Beziehung der Angehörigen zum Verstorbenen war „gerade in den Jahren vor deren Tod als schwierig und nicht eng im Sinne eines regelmäßig gelebten persönlichen Kontakts und besonderen persönlichen Näheverhältnisses gestaltet‟.
  • Allein Trauer über den Tod des Angehörigen genügt nicht.
Mord BGH, Beschluss vom 18.05.2020, Az. 6 StR 48/20
2.000 Vater
eines 19-jährigen Verstorbenen
  • 1998 Sohn geboren
  • 2000 Mutter und Verstorbenen verlassen
  • 2006 Umzug des Vaters; persönlicher Kontakt nur in Ferienzeit; dann: Kontaktabbruch; keine familiäre Vater-Sohn-Beziehung
  • 2012: nach Versterben der Kindsmutter wieder Umgangskontakt; 2 Mal wöchentlich telefonischer Kontakt
  • 2013: es beginnt wieder Umgangskontakt in Form monatlicher Umganswochenenden und während der Schulferien
  • 2016: im September letzter persönlicher Kontakt
  • 09.09.2017: letzter Kontakt via Handy-Chat
  • Sohn war bereits Erwachsen
Mord in 09/2017; Haftung des Schädigers 100% LG Osnabrück, Urteil vom 09. Januar 2019 – 3 KLs 4/18 [eingefügt: 21.10.2020]
3.000 Schwiegertochter einer Verstorbenen Verkehrsunfall in 2018; Haftung des Schädigers 100% LG München II, Endurteil vom 17.05.2019 – 12 O 4540/18
5.000 Vater
eines verstorbenen 20-Jährigen
  • Alter des Verstorbenen
  • kein gemeinsamer Wohnsitz
  • Fahrlässigkeit auf Seiten des Beklagten
  • kurze Zeit vom Unfallzeitpunkt bis zum Eintritt des Todes
  • mindestens 50% Mitverschulden des Verstorbenen
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers (maximal) 50%
OLG Koblenz, Beschluss vom 31.08.2020 – 12 U 870/20
[eingefügt 08.01.2021]
5.000 Sohn
einer Verstorbenen
  • 48 Jahre alt
  • bereits verheiratet
Verkehrsunfall in 2018; Haftung des Schädigers 100% LG München II, Endurteil vom 17.05.2019 – 12 O 4540/18
5.000 Bruder
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • Miterleben des Unfalls und des Versterbens
  • räumliche Entfernung sprach gegen besondere Nähe
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18
6.500 Tochter
eines Unfallopfers
  • Tochter war erste Ansprechpartnerin des Vaters
  • Tochter trauerte noch 18 Monate nach Unfall um den Vater
  • Wohnorte knapp 150 km auseinander
  • grundsätzlich gewöhnliche Vater-Tochter-Beziehung
Verkehrsunfall
in 2018
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Flensburg, SCHLÜNDER: 1304-2019
[eingefügt 14.08.2020]
7.500 Kinder
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • alle Kinder schon über 20 Jahre alt
  • waren nicht auf Fürsorge des Verstorbenen angewiesen
  • waren in einem Alter, in dem man sich von dem Elternhaus allmählich löst
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18
8.000 erwachsene Tochter
einer Verstorbenen
  • enges emotionales Verhältnis trotz räumlicher Distanz
  • Töchter waren schon erwachsen
Mord in 08/2019
Haftung des Schädigers 100%
LG Münster Urteil vom 16.07.2020 – 2 Ks-30 Js 206/19-23/19
[eingefügt 08.01.2021]
8.000 Schwiegermutter
einer Verstorbenen
  • besonders enges Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Verstorbener (etwa Mutter-Tochter-Verhältnis)
  • verstorbene Schwiegertochter gehört nicht zum engsten Kreis der Angehörigen
Arbeitsunfall am 14.03.2018
Haftung des Schädigers 100%
OLG Koblenz Urteil vom 21.12.2020 – 12 U 711/20
[eingefügt 28.07.2021]
10.000 Ehemann
einer Verstorbenen
  • 40 Ehejahre
Unfalltod
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Wiesbaden, Beschluss vom 23.10.2018, Az. 3 O 219/18
12.000 Ehefrau
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • 30 Ehejahre
  • 4 gemeinsame Kinder
  • klare Aufgabenverteilung
  • Vertrauensverhältnis mit finanzieller Abhängigkeit vom Verstorbenen
  • grobe Fahrlässigkeit des Schädigers
  • seit 28 Jahren wurde das gemeinsame Hobby (Motorradfahren) nicht ausgeübt
  • gemeinsame Aktivitäten erschöpften sich im Nordseeurlaub
  • Schädiger bereute und zahlte 2.000 Euro schon im Strafverfahren
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18
15.000 Mutter und Vater
einer 16-jährigen Verstorbenen
  • spätes Wunschkind
  • einziges Kind
  • wesentlicher Lebensinhalt und sozialer Bezugspunkt
  • schuldhafte Unfallverursachung, Leiden der Verstorbenen und Kenntnis der Eltern
Verkehrsunfall am 30.04.2018
Haftung des Schädigers 100%
LG Leipzig, Urteil vom 08.11.2019 – 05 O 758/19 [eingefügt: 21.10.2020]
15.000 Tochter
einer 45-jährigen Verstorbenen
  • einzig nahe Verwandte in Deutschland
  • vorsätzliche Tötung
Totschlag im Jahr 2019
Haftung des Schädigers 100%
LG Regensburg, Urteil 16.12.2020, Az. Ks 103 Js 28875/19 [eingefügt: 11.05.2021]

 

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Verdienstausfall: Schadensminderung durch vermehrte Hausarbeit

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

OLG Düsseldorf, Urteil v. 06.04.2021, Az.: 1 U 62/20

Leitsätze

Im Wege des Vorteilsausgleichs ist zu berücksichtigen, wenn der Geschädigte vermehrt im Haushalt mitarbeitet. Der erzielte Vorteil, dass dann seine Frau mehr Arbeiten gehen und den unfallbedingten Verdienstausfall der Gesamtfamilie mindert, ist von dem Schadensbetrag abzuziehen. Zu einer derart vermehrten Hausarbeit kann die Schadensminderungspflicht verpflichten.

Sachverhalt

Der Kläger nimmt die Beklagten auf Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 03.05.2011 in Wuppertal in Anspruch. Die grundsätzliche Haftung der Beklagten als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners ist unstreitig; die Beklagte ist aufgrund des Urteils verpflichtet, dem Kläger vorbehaltlich eines Anspruchsübergangs auf Sozialversicherungsträger oder Dritte sämtliche materiellen und immateriellen zukünftigen Schäden zu ersetzen, die aus dem Verkehrsunfall resultieren. Darüber hinaus ist die Beklagte zur Zahlung des Verdienstausfallschadens des Klägers bis einschließlich Juli 2012 verurteilt worden. Der Kläger arbeitete vor dem Verkehrsunfall als Busfahrer. Nach den Feststellungen des Vorprozesses war der Kläger unfallbedingt bis einschließlich Juli 2012 unfähig, diesen Beruf auszuüben. Eine unfallbedingte HWS-Distorsion bei vorbestehender degenerativer Schädigung war zwar innerhalb von 6 – 8 Wochen abgeklungen, jedoch litt der Kläger darüber hinaus noch unter Kopfschmerzen, intermittierend auftretendem Schwankschwindel, einer verminderten Belastbarkeit, er hatte Schwierigkeiten beim Treppensteigen und Schmerzen im Bereich des Kiefergelenks, Schmerzen der Schulter-/Nackenmuskulatur links sowie gelegentliche Kribbelmissempfindungen im linken Arm, was nach dem im Vorprozess eingeholten Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. B. als pathologische psychoreaktive Verarbeitungsstörung im Sinne einer Anpassungsstörung (ICD10: F 43.2) und damit als mittelbare Unfallfolge einzustufen ist. Mit der Klage macht der Kläger weiteren Verdienstausfall für den Zeitraum von August 2012 bis Dezember 2017 (mit Ausnahme der Monate November und Dezember 2012 und des Jahres 2013), Fahrtkosten sowie Schmerzensgeld geltend. Von Oktober 2012 bis Oktober 2013 nahm der Kläger an einer auf ein Jahr befristeten Aktion teil, im Rahmen derer Busfahrer, die ihre Tätigkeit nicht ausüben können, als Fahrausweisprüfer tätig werden. Das mit der Aktion verfolgte Ziel, die Teilnehmer nach Schluss des Jahres wieder als Busfahrer einzusetzen, konnte im Fall des Klägers nicht erreicht werden. In der Folgezeit einigte der Kläger sich mit seiner Ehefrau, überwiegend die Haushaltsführung zu übernehmen; die Ehefrau verstärkte insoweit ihre Berufstätigkeit. Nachdem er zudem zeitweise ehrenamtlich als Altenbetreuer tätig gewesen war, arbeitete der Kläger seit Frühjahr 2016 etwa 15 Stunden wöchentlich in einem Büro. Er erhielt, nachdem er sich arbeitssuchend gemeldet hatte, von Oktober 2014 bis März 2016 Arbeitslosengeld in Höhe von monatlich 982,50 Euro sowie eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung vom 01.03.2016 bis zum 31.01.2017 in Höhe von 327,04 Euro, vom 01.02.2017 bis zum 31.07.2017 in Höhe von 352,82 Euro und seit dem 01.08.2017 in Höhe von 357,97 Euro.

Entscheidung

Das OLG führt zunächst allgemein aus, was als Schadensminderung vom Geschädigten verlangt werden könne, wenn er unfallbedingt zumindest seinen alten Beruf (hier: Busfahrer) nicht mehr ausüben könne:

(1) Grundsätzlich ist der Verletzte, der unfallbedingt in seinem alten Beruf nicht mehr oder nicht mehr voll arbeiten kann, verpflichtet, seine verbliebene Arbeitskraft in den Grenzen des Zumutbaren und Möglichen so nutzbringend wie möglich einzusetzen Bei der Prüfung der Möglichkeit und der Zumutbarkeit einer gewinnbringenden Erwerbstätigkeit sind der Gesundheitszustand des Verletzten, Persönlichkeit, soziale Lage, bisheriger Lebenskreis, Begabung und Anlagen, Bildungsgang, Kenntnisse und Fähigkeiten, bisherige Erwerbsstellung, Alter, seelische und körperliche Anpassungsfähigkeit, Familie und Wohnort zu berücksichtigen.

(2) Der Verletzte muss sich aktiv um eine Stellung bemühen; die mangelnde Bereitschaft hierzu kann bereits ein Verstoß gegen § 254 Abs. 2 BGB sein. Seine Bemühungen um eine Arbeitsstelle hat der Geschädigte dazulegen und zu beweisen. Dies kann nur dann entfallen, wenn er nachweist, dass Bemühungen um einen neuen Arbeitsplatz von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen wären.

(3) Demgegenüber ist es Sache des Schädigers, zu behaupten und zu beweisen, dass der Verletzte entgegen seiner Darstellung in einem konkret bezeichneten Fall zumutbare Arbeit hätte aufnehmen können. Hat der Schädiger eine konkret zumutbare Arbeitsmöglichkeit nachgewiesen, ist es wiederum Sache des Verletzten, darzulegen und zu beweisen, warum er diese Möglichkeit nicht hat nutzen können.

Der Geschädigte genügt seiner Darlegungslast (2) nicht mit der pauschalen Behauptung, das Arbeitsamt habe ihn nicht vermitteln können und eigene Bemühungen seien entweder gescheitert oder wegen der für die angebotenen Stellen erforderlichen Computer- und Englischkenntnisse von vorne herein aussichtslos gewesen. Er muss vielmehr dargelegt, welche Vermittlungsbemühungen im Einzelnen das Arbeitsamt unternommen hat und warum diese erfolglos gewesen sind. Ferner muss er konkrete Angaben zu seinen eigenen Bemühungen um eine neue Arbeitsstelle, etwa dazu machen, in welchem Umfang er Bewerbungen eingereicht hat, in welchen Branchen oder bei welchen Unternehmen er sich beworben hat, und ob es zumindest zu Vorstellungsgesprächen gekommen ist. Dass dem Geschädigten jedoch eine nur geringe MdE von (hier) 20 % bescheinigt worden ist, bedeutet nicht ohne weiteres eine Arbeitsfähigkeit von 80 % im Umkehrschluss. Es kommt vielmehr darauf an, was der Kläger mit seinen besonderen Beeinträchtigungen und eingeschränkten Fähigkeiten auf dem ihm zumutbar erreichbaren Arbeitsmarkt noch zu leisten in der Lage ist.

(4) Auch dann wenn der Geschädigte zumutbare Bewerbungen etc. unterlassen hat, kann ein Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht entfallen, wenn entsprechende Bewerbungsbemühungen erfolglos geblieben wären.

Für eine solche Annahme können sprechen: fortgeschrittenen Alters, jahrzehntelang ausschließlich den gelernten Beruf ausgeübt, verfügt nicht über Zusatzqualifikationen, auf die er in anderen Tätigkeitsbereichen zurückgreifen kann (Keine Kenntnisse im EDV- oder Fremdsprachenbereich etc.)Darüber hinaus beschränken sich die Auswirkungen der unfallbedingten Beeinträchtigungen mitunter nicht auf den früheren Tätigkeitsbereich. So insbesondere bei kognitiven/psychischen unfallbedingten Belastungen wie Schwindel, Schmerzsyndrom etc. (wird vom OLG ausgeführt). Ist in der Gesamtschau die verbliebene Chance, eine zumutbare Arbeitsstelle zu finden – jedenfalls wenn sie den Umfang der gegenwärtigen übersteigen soll – eher theoretischer Natur, wäre nicht gesichert, dass der den mit einer solchen Tätigkeit verbundenen erhöhten Belastungen dauerhaft gewachsen sein wird.

(5) Von dem errechneten Schadensbetrag in Abzug zu bringen sind nicht nur die Einkünfte einer ausgeübten oder zumutbar unterlassenen Tätigkeit. Zudem auch der Wert des Vorteils, den der Geschädigte dadurch erlangt, dass er einen größeren Anteil an der Haushaltstätigkeit übernimmt und es dadurch z.B. seiner Ehefrau ermöglicht, die Anzahl der Wochenstunden ihrer Arbeitstätigkeit zu erhöhen. Die Tätigkeit im Haushalt stellt jedenfalls dann eine schadensmindernde wirtschaftlich sinnvolle Verwertung der ihm verbliebenen Arbeitskraft (vgl. BGH, Urteil vom 24.04.1979 – VI ZR 204/76, juris Rn. 21) dar, wenn ihr eine Vereinbarung mit der Ehefrau zugrunde liegt, aufgrund derer der Kläger seine eheliche Unterhaltsverpflichtung nunmehr im Wesentlichen durch die Haushaltstätigkeit erbringt und im Gegenzug die Unterhaltsverpflichtung der Ehefrau dem Kläger gegenüber in höherem Maße durch deren Erwerbstätigkeit erfüllt wird. Der Wert des Vorteils kann im Wege der freien Schätzung bemessen werden (BGH, aaO.). Unter Berücksichtigung der 15stündigen Arbeitstätigkeit des Klägers pro Woche, der Notwendigkeit einer längeren Mittagspause und regelmäßiger weiterer Pausen wegen der allgemeinen Leistungsminderung ist davon auszugehen, dass dem Kläger die zusätzliche Mithilfe im Haushalt aber nur in beschränktem Umfang möglich ist, sodass der Senat den dadurch erlangten Vorteil auf nicht mehr als 20 % des Schadensbetrages schätzt.

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Weiteres Schmerzensgeld bei Verschlimmerung

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

OLG Düsseldorf, Urteil v. 27.04.2021, AZ.: 1 U 152/20

Leitsätze

1. Verlangt der Geschädigte wegen der Chronifizierung seiner unfallbedingten, behandlungsbedürftigen Erkrankung ein weiteres Schmerzensgeld, kann dem die Rechtskraft des vorangegangenen Schmerzensgeldurteils entgegenstehen.

2. Ob sich Verletzungsfolgen im Zeitpunkt der Zuerkennung eines Schmerzensgeldes im Vorprozess nach den Kenntnissen und Erfahrungen eines insoweit Sachkundigen als derart nahe liegend darstellten, dass sie schon dort bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigt werden konnten, beurteilt sich nicht nach der prozentualen Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieser Verletzungsfolgen. Entscheidend ist allein die objektive Möglichkeit des Geschädigten, das diesbezügliche Risiko zu diesem Zeitpunkt schmerzensgelderhöhend geltend zu machen.

3. Nur dann, wenn eine Berücksichtigung der Verletzungsfolge so gut wie ausgeschlossen erscheint, weil die Möglichkeit ihres Eintritts eher theoretischer Natur, ohne jegliche konkrete Anhaltspunkte ist, weswegen sie ein Sachkundiger nicht in eine Darstellung möglicher Verletzungsfolgen aufnehmen würde, fehlt es an der objektiven Möglichkeit in dem vorgenannten Sinne.

Sachverhalt

Die 1947 geborene Klägerin begehrt von den Beklagten die Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes wegen einer psychischen Erkrankung, die sie auf einen tödlichen Verkehrsunfall ihres Ehemannes im Jahr 2003 zurückführt. Die alleinige Unfallverantwortlichkeit der Beklagten steht zwischen den Parteien nicht in Streit. Die Klägerin nahm daraufhin die Beklagten vor dem Landgericht Duisburg unter anderem auf Schmerzensgeld wegen infolge des Unfalls erlittener psychischer Beeinträchtigungen in Anspruch. Das Landgericht Duisburg holte ein psychiatrisches Gutachten der Sachverständigen K. ein, die bei der Klägerin eine Anpassungsstörung im Sinne einer abnormen prolongierten Trauerreaktion (ICD-10: F 43.21) diagnostizierte. Es bestehe nach wie vor eine akute Behandlungsbedürftigkeit. Unter intensiver psychotherapeutischer Begleitung sei damit zu rechnen, dass die erhebliche Instabilität und Dysbalance gebessert und stabilisiert werden könne. Auf der Grundlage der sachverständigen Ausführungen entschied das Landgericht Duisburg unter anderem, dass die Beklagten ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000,00 Euro an die Klägerin zu zahlen haben und verpflichtet sind, ihr jeden weiteren über den ausgeurteilten Schmerzensgeldbetrag hinausgehenden Schaden aus dem Verkehrsunfall zu ersetzen.

Mit anwaltlichem Schreiben vom 17.12.2018 forderte die Klägerin die Beklagten auf, bis zum 14.01.2019 ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 Euro an sie zu zahlen, was von der Beklagten zu 3) in einem Schreiben vom 15.01.2019 unter Verweis auf das rechtskräftige Urteil im Vorprozess abgelehnt wurde. Die Klägerin hat behauptet, sie leide weiterhin unter der im Vorprozess festgestellten traumatischen verlustbezogenen Trauer in Form einer Anpassungsstörung und dieser Zustand sei nunmehr entsprechend den Ausführungen der Therapeutin M. von dauerhafter Natur. Zusätzlich seien die Krankheitssymptome jetzt mit suizidalen Tendenzen durchsetzt. Die Klägerin ist der Ansicht, die Rechtskraft der Entscheidung über den Schmerzensgeldanspruch im Vorprozess umfasse ihren nunmehr dauerhaften Krankheitszustand nicht, weil nach dem im Vorprozess eingeholten Gutachten mit einer Besserung des Zustands zu rechnen gewesen sei. Die veränderte Situation in Gestalt einer Chronifizierung ihres Krankheitszustandes rechtfertige ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von nunmehr 30.000,00 Euro. Dies klagt sie ein….

Entscheidung

Und verliert: Da die Behandlung der unfallbedingten Verletzung noch nicht abgeschlossen sei und sich – wie regelmäßig – der Behandlungserfolg nicht sicher vorhersagen ließe, bestehe für den Geschädigten bei Erhebung seiner Schmerzensgeldklage die Gelegenheit wie auch der Anlass, entweder einen Aufschlag auf das Schmerzensgeld wegen des fortbestehenden Risikos geltend zu machen oder aber sich auf eine offene Teilklage zu beschränken, mit der die mögliche, aber noch nicht eingetretene Schadensfolge aus der Schmerzensgeldbemessung herausgenommen wird. So hätte die Klägerin vorgehen müssen.

Dass die im Vorprozess aufgestellte Prognose, wonach mit einer Besserung des Zustands zu rechnen sei, an die Voraussetzung einer erfolgreichen Therapie geknüpft ist, habe die Sachverständige K. an mehreren Stellen ihres Gutachtens deutlich hervorgehoben. Sie habe damit inzident verdeutlicht, dass diese Therapie auch scheitern und der Behandlungserfolg ausbleiben könne. Insofern sei es vorhersehbar gewesen, dass der Krankheitszustand der Klägerin gegebenenfalls auch ohne Besserung bleiben könne. Es bedürfe keiner Feststellungen zu der Frage, wie wahrscheinlich ein Misserfolg einer psychotherapeutischen Behandlung und damit eine Chronifizierung der Erkrankung im Zeitpunkt des Vorprozesses gewesen sei. Maßgeblich sei allein die konkrete Möglichkeit, eine bestimmte Verletzungsfolge im Rahmen der Schmerzensgeldforderung zu berücksichtigen. Eine solche Möglichkeit bestehe grundsätzlich unabhängig von dem Grad der Wahrscheinlichkeit, der für den Eintritt dieser Verletzungsfolge spreche. Auch wenn nach den Erkenntnismöglichkeiten eines Sachkundigen nur eine geringe Wahrscheinlichkeit für den Eintritt der Verletzungsfolge spreche, werde der Geschädigte grundsätzlich in die Lage versetzt, seine Schmerzensgeldforderung zu beschränken und eine weitere Klage zu erheben, sobald die Folge eingetreten sei. Nur dann, wenn eine Berücksichtigung der Verletzungsfolge so gut wie ausgeschlossen erscheine, weil die Möglichkeit ihres Eintritts eher theoretischer Natur ohne konkrete Anhaltspunkte sei, weswegen sie ein Sachkundiger nicht in eine Darstellung möglicher Verletzungsfolgen aufnehmen würde, fehle es an der objektiven Vorhersehbarkeit im oben dargestellten Sinne. Bei wie chronifizierten Leiden liege aber keine nur theoretischen Möglichkeit vor.

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Schmerzensgeldbemessung: „Reiche bekommen nicht mehr“

Michael PeusMichael Peus

OLG Hamm, Beschlüsse vom 20.03.2020 und 29.05.2020– 7 U 22/19

 

Leitsätze (redaktionell)

  1. Die Bemessung der billigen Entschädigung in Geld erfolgt vorrangig nach dem Ausgleichsgedanken, nachdem die Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden und Entstellungen grundlegend zu berücksichtigen sind.
  2. Ein Einzelfall enthält kein besonderes, wirtschaftliches Gepräge dadurch, dass der Geschädigte und der Schädiger gut situiert sind.
  3. Der Betrag des Schmerzensgeldes muss sich in die von den Gerichten entwickelte Schmerzensgeldjudikatur einfügen.

 

Sachverhalt

Der Kläger ist Geschäftsführer der B GmbH und verdiente Schadenjahr (2015) 555.555,01€ brutto. Der Beklagte zu 1) ist Begründer einer Mineralwassermarke und bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert. Der Kläger begehrt von den Beklagten Ersatz materieller und immaterieller Schäden aus einem Verkehrsunfall. Die Beklagten haften dem Grunde nach zu 100%.

Der Kläger erlitt durch den Unfall zahlreiche Verletzungen und musste mehrfach operiert werden. Er befand sich länger in stationärer Behandlung und musste eine Physio- und Ergotherapie machen. Nach seiner Entlassung war der Kläger eine Zeit lang auf einen Rollstuhl angewiesen. Vom 16.09.-30.10.2015 war er zu 100% und vom 31.10-14.11.2015 zu 60% arbeitsunfähig. Dem Kläger sind sieben Narben verblieben.

Vorgerichtlich zahlte die Beklagte zu 2) bereits ein Schmerzensgeld i.H.v. 20.000€.

Der Kläger macht geltend, dass bei der Bemessung des Schmerzensgeldes seine wirtschaftliche Situation sowie die günstige Vermögenslage des Beklagten zu 1) zu berücksichtigen seien. Erstinstanzlich verlangt der Kläger neben anderen Schadenspositionen ein weiteres Schmerzensgeld i.H.v. 60.000€.

Das Landgericht sprach dem Kläger kein weiteres Schmerzensgeld zu.

In der Berufung verfolgt der Kläger seine Begehren weiter. In seiner Begründung führt er an, das LG habe es rechtsfehlerhaft abgelehnt, bei der Bemessung des Schmerzensgeldes seinen Vermögens- und Berufsverhältnissen Rechnung zu tragen und meint, dass aufgrund der guten Vermögensverhältnisse ein Schmerzensgeld i.H.v. 20.000€ der Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes nicht genüge.

 

Entscheidung

Die Berufung wurde zurückgewiesen. Dem Kläger stand kein Anspruch auf ein höheres Schmerzensgeld zu.

Nach ständiger Rechtsprechung erfüllt das Schmerzensgeld eine Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion. D.h. dem Geschädigten soll für nichtvermögensrechtliche Schäden ein angemessener Ausgleich geboten und dem Gedanken, dass der Schädiger dem Geschädigten Genugtuung schuldet, soll Rechnung getragen werden.

Dabei ist der Gedanke des Ausgleichs die Grundlage für die Bemessung. Diese bestimmt sich nach der Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden und Entstellungen. Die Höhe des Schmerzensgeldes hängt von dem Maß der Lebensbeeinträchtigung ab. Indem der Kläger sich weiterhin auf die guten Vermögensverhältnisse beruft und meint, dass dadurch der Ausgleichsfunktion nicht genüge getan ist, verkennt er, dass hierbei vorrangig auf die durch den Unfall erlittenen Schmerzen und Beeinträchtigungen abzustellen ist.

Es sind alle Umstände zu berücksichtigen, die dem Schadensfall ein besonderes Gepräge geben. Dies können im Einzelfall auch ausnahmsweise die wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten sein, wenn die Genugtuungsfunktion dies erfordert. Im vorliegenden Fall spricht gegen die besondere Bedeutung der Genugtuungsfunktion, dass es sich um eine fahrlässige Körperverletzung aufgrund eines Verkehrsunfalls handelt, bei dem auch der Beklagte zu 1) erhebliche Verletzungen erlitt.

Weiterhin muss sich die Höhe des Schmerzensgeldes in die gerichtliche Schmerzensgeldjudikatur einfügen lassen. Der bereits gezahlte Betrag i.H.v. 20.000€ liegt hiernach bereits an der oberen Grenze der zugesprochenen Schmerzensgelder in vergleichbaren Fällen.

Nach dem OLG Hamm ist der Betrag von 20.000€ ausreichend, um die Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes zu erfüllen. Das besondere Gepräge ergibt sich nicht dadurch, dass der Beklagte zu 1) gut situiert ist. Hiergegen spricht bereits, dass die Beklagte zu 2) alleine einstandspflichtig ist.

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Haftungsprivileg und Wie-Beschäftigung

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

LSG NRW, Urteil vom 23.11.2020, Az.: L 17 U 811/17

Leitsätze

1. Ausschlaggebend für die Annahme einer Wie-Beschäftigung ist, ob die Tätigkeit wie von einem Beschäftigten erbracht wurde. Dabei ist entscheidend, dass der Betreffende mit seiner Tätigkeit wesentlich eigenen Angelegenheiten nicht dienen wollte.

2. Liegen deutlich mehr Merkmale vor, die für die Annahme einer abhängigen Beschäftigung sprechen als solche, welche für die Annahme einer selbständigen/unternehmerischen Tätigkeit sprechen, so ist das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung anzunehmen.

3. Dass die Tätigkeit des Klägers üblicherweise von abhängig Beschäftigten verrichtet werden muss, um eine abhängige Beschäftigung darstellen zu können, ist zur Überzeugung des Senats bereits kein taugliches Abgrenzungskriterium zur unternehmerähnlichen Tätigkeit. Denn in Anbetracht der vielfachen Gestaltungen der Arbeitswelt und der Ökonomisierung aller Lebensbereiche sind zunächst kaum noch Tätigkeiten denkbar, die nicht auch von abhängig Beschäftigten verrichtet werden könnten.

4. Bei Bestehen einer Bekanntschaft ist letztlich maßgebend, ob die Tätigkeit des Verunglückten über das hinausging, was allgemein im Rahmen der bestehenden Beziehung erwartet werden konnte.

Sachverhalt

Einige Wochen vor dem Unfall lernte der Kläger im Rahmen einer zufälligen Begegnung den B kennen, welcher sich ebenfalls für eine Ausbildung im Baugewerbe interessierte. Im Handwerks-Bildungs-Zentrum C (HBZ) traf man sich im Rahmen des Blockunterrichts wieder. Da der Kläger im Gegensatz zu B über ein Kraftfahrzeug verfügte, bildete man eine Fahrgemeinschaft, bei welcher der Kläger den B auf dem Hin- und Rückweg mitnahm, d.h. zu Hause – B wohnte in einem Jugendwohnheim – abholte und dort wieder nach Beendigung des Unterrichts absetzte. Im Unfallzeitpunkt waren der Kläger und B seit ca. sechs Wochen miteinander bekannt und hatten eine Fahrgemeinschaft gebildet. An diesem Tag hatte der Kläger ausnahmsweise den B nicht an dessen Wohnung zur Verbringung ins HBZ abgeholt, vielmehr war dieser selbst dort hingelangt. Die Ausbildung begann im HBZ um 7:30 Uhr. Da B Handwerkszeug zu Hause vergessen hatte, fragte er den Kläger, ob der ihn in der Frühstückspause mit dessen Kraftfahrzeug nach Hause verbringen könnte, damit er, B, dort sein Werkzeug holen könne. Den Angaben des Klägers in einem späteren staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren zufolge lehnte er dieses Ansinnen zunächst ab, wurde dann aber auf wiederholtes Bitten des B „weich‟, so dass man zu Beginn der Frühstückspause mit dem Pkw des Klägers zur Wohnung des B aufbrach. Auf dem Weg dorthin kam der Kläger als Fahrer seines Kraftfahrzeuges von der Straße ab und prallte gegen einen Baum. Er erlitt hierbei schwere Verletzungen im Sinne eines Bauchtraumas mit Leberriss, beidseitige Oberschenkelfrakturen, einen rechtsseitigen Schienbeinkopfbruch und Brüche der rechten Mittelfußknochen. Sein Beifahrer B verunglückte tödlich.

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Feststellung des Ereignisses als Arbeitsunfall.

Entscheidung

Das LSG NRW bejaht eine Wie-Beschäftigung des Klägers gem. § 2 Abs. 2 SGB VII im Unternehmen „Ausbildung‟ des B:

Bei der unfallbringenden Fahrt haben zunächst beim Kläger die Merkmale einer abhängigen Beschäftigung diejenigen einer unternehmerischen/selbständigen Tätigkeit überwogen. Der Kläger ist bei der Fahrt zur Unterkunft des B fremdnützig für das Unternehmen des B tätig geworden ist. Beim unterstützten Unternehmen muss es sich nicht um einen Gewerbebetrieb handeln, sondern es genügt, für eine Privatperson „wie ein Beschäftigter‟ tätig zu werden. Diese Voraussetzung ist hier gegeben. Der Kläger wollte es dem B ermöglichen, von ihm für die Fortsetzung seiner Ausbildung an diesem Tage im HBZ für erforderlich gehaltenes Werkzeug von zu Hause zu holen, was B mangels eigenen Kfz nicht vermocht hätte. Insoweit ist die Dauer der Tätigkeit unerheblich, jedoch muss sie über „wenige Augenblicke‟ hinausgehen und darf nicht bloß „im Vorübergehen‟ erledigt worden sein, was bei einer etwa halbstündigen Autofahrt nicht anzunehmen ist.

An der Ernstlichkeit dieser Tätigkeit des Klägers hat der Senat keine Zweifel. Sie hatte auch einen wirtschaftlichen Wert. Insoweit reicht es aus, wenn der Tätigkeit ein, wenn auch noch so geringer, wirtschaftlicher Nutzen zukommt, wobei dieser selbst bei Tätigkeiten aus ideellen Gründen vorhanden sein kann

Der Annahme eines Überwiegens der Merkmale einer abhängigen Beschäftigung des Klägers im Verhältnis zu B steht auch nicht entgegen, dass der Kläger von B während der unfallbringenden Fahrt weder persönlich noch wirtschaftlich abhängig war. Denn das Bestehen eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses ist unerheblich. Hierbei spricht es für ein Überwiegen der Merkmale einer abhängigen Beschäftigung im Rahmen einer „Wie-Beschäftigung‟, wenn die in Betracht kommende Person auch als Arbeitnehmer hätte beschäftigt werden können. Bei der Verrichtung eines Fahrdienstes eines Ausbildungskollegen im Interesse des anderen bestehen hieran keine Zweifel. Wesentlich eigenen Angelegenheiten wollte der Kläger aber gerade nicht dienen, als er den B während der Frühstückspause nach Hause gefahren hat, damit dieser dort vergessenes Werkzeug holen konnte. Vielmehr diente die Fahrt im Pkw des Klägers zur Wohnung des B eben allein dazu, dem B dieses zu seinen Ausbildungszwecken ermöglichen und damit gerade allein den Interessen des B. Auch konnte der Kläger Zeit und Ausführung der Fahrt nicht selbst bestimmen, was ein weiteres Merkmal einer abhängigen Beschäftigung ist. Vielmehr konnte diese Fahrt nur während der Frühstückspause und „auf schnellstem Wege‟ zur Unterkunft des B erfolgen, damit nach der Frühstückspause keine Ausbildungsinhalte verpasst wurden, was im Übrigen gerade auch für den Kläger, der nach eigenen Angaben seinerzeit neun Tage vor seiner Gesellenprüfung stand, von großer Bedeutung war. Insbesondere war der Kläger als Mitglied einer einseitigen, weil der B über kein Kfz verfügte, Fahrgemeinschaft zum Zeitpunkt der unfallbringenden Fahrt nicht deren Mitunternehmer. Dass die Tätigkeit des Klägers üblicherweise von abhängig Beschäftigten verrichtet werden muss, um eine abhängige Beschäftigung darstellen zu können, ist zur Überzeugung des Senats bereits kein taugliches Abgrenzungskriterium zur unternehmerähnlichen Tätigkeit. Denn in Anbetracht der vielfachen Gestaltungen der Arbeitswelt und der Ökonomisierung aller Lebensbereiche sind zunächst kaum noch Tätigkeiten denkbar, die nicht auch von abhängig Beschäftigten verrichtet werden könnten

Zwischen dem Kläger und B bestand auch keine Sonderbeziehung, die der wesentliche Grund für die Handlung war. Insbesondere handelte es sich bei der unfallbringenden Fahrt nicht um eine rechtlich als Gefälligkeitsleistung des Klägers für B. Im Wesentlichen enge Beziehungen, die einerseits das Handlungsmotiv bilden und andererseits der gesamten Verrichtung das Gepräge geben, können den Versicherungsschutz als „Wie-Beschäftigter‟ ausschließen. Solche engen Beziehungen bestanden zwischen dem Kläger und dem B schon nicht. Vielmehr handelte es sich um eine ganz lose Bekanntschaft, die im Wesentlichen im Rahmen der seinerzeit seit ca. sechs Wochen bestehenden einseitigen Fahrgemeinschaft gelebt wurden. Freundschaftliche private Kontakte bestanden hingegen gerade nicht. Maßgebend ist letztlich, ob die Tätigkeit des Klägers im Unfallzeitpunkt über das hinausging, was allgemein im Rahmen der zu B bestehenden Beziehung von diesem gegenüber dem Kläger erwartet werden konnte. Hierüber ging die Tätigkeit des Klägers deutlich hinaus. Auch die Gesamtabwägung ergibt, dass die Voraussetzungen einer versicherten „Wie-Beschäftigung‟ des Klägers im Unfallzeitpunkt vorlagen. Dabei ist zu beachten, dass sich die auf den beiden vorherigen Prüfungsstufen gewonnenen Ergebnisse gegenseitig „vergleichbar einem System kommunizierender Röhren‟ beeinflussen. Je geringer etwa die Ähnlichkeit mit einem Typus der Beschäftigung im ersten Prüfungsschritt ausgeprägt ist, umso mehr kann dann auch das Bestehen einer Sonderbeziehung auf Stufe zwei der Prüfung das Vorliegen einer „Wie-Beschäftigung‟ in Frage stellen. Je intensiver hingegen dort das Maß an Beschäftigtenähnlichkeit ist, umso schwerer kann das Bestehen einer Sonderbeziehung eine „Wie-Beschäftigung‟ in Frage stellen. Danach ist das Vorliegen einer „Wie-Beschäftigung‟ nicht in Frage zu stellen, sondern auch die Gesamtabwägung spricht dafür, dass der Kläger im Unfallzeitpunkt als „Wie-Beschäftigter‟ gesetzlich unfallversichert war. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Merkmale einer abhängigen Beschäftigung diejenigen einer selbständigen/ unternehmerähnlichen Tätigkeit deutlich überwiegen.

Anmerkung

War der Kläger hier ein Wie-Beschäftigter des B, könnte er sich – wenn B nicht verstorben wäre – auf das Haftungsprivileg des § 105 Abs.1 und 2 SGB VII berufen.

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