Architekten sind keine Rechtsanwälte

Michael PeusMichael Peus

BGH, Urteil vom 11.02.2021 – I ZR 227/19

Die Vertretung der Grundstückseigentümer in einem Widerspruchsverfahren gegen die abschlägige Bescheidung einer Bauvoranfrage und die Geltendmachung von mit dem Widerspruchsverfahren zusammenhängenden Kostenerstattungsansprüchen durch eine Architektin stellen keine nach §§ 3, 5 Abs. 1 RDG erlaubten Rechtsdienstleistungen dar, die als Nebenleistungen zum Berufs- oder Tätigkeitsbild der Architektin gehören.

Sachverhalt

Die Klägerin ist die Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk K. . Ihr obliegt unter anderem die Wahrnehmung der beruflichen Interessen ihrer Mitglieder. Die Beklagte ist Architektin. Sie ist weder als Rechtsanwältin zugelassen noch wurde ihr auf sonstige Weise das Recht eingeräumt, außergerichtlich Rechtsdienstleistungen zu erbringen.

Die Beklagte stellte am 13. Januar 2015 für ihre Auftraggeber eine Bauvoranfrage bei der Baubehörde und erhielt von den Auftraggebern ein Bearbeitungsentgelt in Höhe von 500 €.
Nach negativer Bescheidung legte sie mit Schreiben vom 2. März 2015 „namens der Grundstückseigentümer‟ Widerspruch ein, der zurückgewiesen wurde. Anschließend machte die Beklagte mit Schreiben vom 5. August 2016 gegenüber der Stadt Kostenerstattungsansprüche für das Widerspruchsverfahren geltend.

Die Klägerin mahnte die Klägerin wegen eines Verstoßes gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz erfolglos ab und beantragte, die Beklagte unter Androhung gesetzlicher Ordnungsmittel zu verurteilen, es zu unterlassen, außergerichtliche Rechtsdienstleistungen in Form der Vertretung Dritter in Widerspruchsverfahren gegen die negative Bescheidung einer
Bauvoranfrage und/oder im Zusammenhang mit der Kostenerstattung im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens zu einer Bauvoranfrage zu erbringen.

Landgericht und Oberlandesgericht gaben der Rechtsanwaltskammer Recht und verurteilten die Beklagte. Es folgte nun die Revision zum BGH.

Entscheidungsgründe

Der BGH hob die Entscheidungen auf und verwies an das Oberlandesgericht zurück. Das Unterlassungsbegehren war unzulässig, weil der Antrag zu weit gefasst war. Abmahnkosten konnte die Klägerin nicht verlangen, weil sie als Rechtsanwaltskammer keinen Rechtsbeistand für eine Abmahnung beauftragen musste.

Aber der BGH bestätigt die Unzulässigkeit der Erledigung dieser rechtlichen Angelegenheiten durch die Architektin:

Das Berufungsgericht hat die Vertretung der Grundstückseigentümer im Widerspruchsverfahren gegen die negative Bescheidung der Bauvoranfrage und die
Geltendmachung entsprechender Kostenerstattungsansprüche, zutreffend als Rechtsdienstleistungen im Sinne des § 2 RDG angesehen, die gemäß § 3 RDG
der Erlaubnis bedürfen.

  1. Nach § 2 Abs. 1 RDG ist eine Rechtsdienstleistung jede Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten, sobald sie eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls erfordert. Die Vorschrift erfasst jede konkrete Subsumtion eines Sachverhalts unter die maßgeblichen rechtlichen Bestimmungen, die über eine bloß schematische Anwendung von Rechtsnormen ohne weitere rechtliche Prüfung hinausgeht. Ob es sich um einfache oder schwierige Rechtsfragen handelt, ist unerheblich. Die Frage, ob eine eigene oder eine fremde Rechtsangelegenheit betroffen ist, richtet sich danach, in wessen wirtschaftlichem Interesse die Besorgung der Angelegenheit liegt.
  2. Nach diesen Maßstäben hat das Berufungsgericht zu Recht angenommen, die Beklagte habe Rechtsdienstleistungen erbracht. Die Tätigkeiten der Beklagten beinhalteten die Prüfung individueller, einzelfallbezogener Ansprüche aus dem Bereich des öffentlichen Baurechts sowie des entsprechenden – auf das Widerspruchsverfahren bezogenen – Kostenrechts. Die genannten Tätigkeiten erfolgten auch in konkreten fremden Angelegenheiten.
  3. Entgegen der Auffassung der Revision sind die von der Beklagten erbrachten Rechtsdienstleistungen nicht durch oder aufgrund anderer Gesetze als dem Rechtsdienstleistungsgesetz erlaubt (§ 1 Abs. 3, § 3 Fall 2 RDG). Denn eine erlaubte Rechtsberatung nach anderen Gesetzen kommt nur in Betracht, wenn spezielle Rechtsdienstleistungsbefugnisse dort hinreichend konkret geregelt sind, die Befugnis also schon nach dem Wortlaut der Norm für einen bestimmten Bereich oder spezielle Tätigkeiten eingeräumt wird.Entsprechend konkrete Regelungen, die eine Befugnis der Architektin zur rechtlichen Vertretung der Grundstückseigentümer im Widerspruchsverfahren oder zur Geltendmachung von damit im Zusammenhang stehenden Kostenerstattungsansprüchen enthalten, gibt es nicht.
  4. Es handelt sich bei den Tätigkeiten auch nicht um erlaubte Nebenleistungen im Sinne von § 3 Fall 1, § 5 Abs. 1 RDG. Denn erlaubt ist die Tätigkeit nach § 5 Abs. 1 Satz 1 RDG
    nur, wenn sie zum Berufs- oder Tätigkeitsbild desjenigen gehört, der die Rechtsdienstleistung erbringt, und wenn sie eine Nebenleistung zu einer Haupttätigkeit
    ist. Ob eine Nebenleistung vorliegt, ist nach ihrem Inhalt, Umfang und sachlichen Zusammenhang mit der Haupttätigkeit unter Berücksichtigung der
    Rechtskenntnisse zu beurteilen, die für die Haupttätigkeit erforderlich sind (§ 5 Abs. 1 Satz 2 RDG). § 5 Abs. 1 RDG kann nur Anwendung finden, wenn die fragliche  Rechtsdienstleistung nicht selbst wesentlicher Teil der Haupttätigkeit ist. Dabei kann der Umstand, dass der rechtsdienstleistende Teil der Leistung aufgrund einer gesonderten vertraglichen Vereinbarung zu erbringen ist und besonders vergütet wird, indiziell gegen das Vorliegen einer Nebenleistung sprechen.Die beanstandeten Dienstleistungen sind keine Nebenleistungen, die zum Berufs- oder Tätigkeitsbild des Architekten gehörten. Auch wenn das Aufgabengebiet der Architekten in vielfacher Hinsicht Berührungen zu Rechtsdienstleistungen hat und Architektin und Architekt als sachkundige Berater und Betreuer des Bauherrn auf dem Gebiet des Bauwesens über nicht unerhebliche Kenntnisse des Werkvertragsrechts, des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der Vorschriften der VOB/B verfügen müssen, folgt daraus nicht, dass zum Tätigkeitsbild der Architektinnen und Architekten bezogen auf Fragen des öffentlichen Rechts mehr als die fachliche, technische Begleitung und gegebenenfalls damit zusammenhängende Empfehlungen rechtlicher Art gehören. Mit einem Rechtsberater des Bauherrn ist der Architekt nämlich nicht gleichzusetzen.

    Eine Vertretung des Bauherrn im Rahmen gerichtlicher (Vor-)Verfahren geht über die typischerweise mit der beratenden Rolle des Architekten verbundenen Aufgaben hinaus.

  5. Gegen diese Bewertung spricht weder der Umstand, dass im Verwaltungsverfahren und im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht auch juristische Laien ihre Interessen selbst wahrnehmen können oder dass nach Anlage 10 Nr. 10.1 zu § 34 HOAI zu den Grundleistungen der Architektinnen und Architekten im Rahmen der Leistungsphase 4  (Genehmigungsplanung) die „Verhandlung mit Behörden‟ und zu den Besonderen Leistungen die „fachliche und organisatorische Unterstützung des Bauherrn im Widerspruchsverfahren‟ gehören. Wie sich bereits aus dem Wortlaut des Leistungsverzeichnisses ergibt, beschränkt sich die von einem Architekten geschuldete Unterstützung nämlich auf fachliche und organisatorische Belange und führt nicht dazu, dass dem Architekten darüber hinaus auch umfassende (bau-)rechtliche Beratungs- oder Betreuungspflichten zukommen.

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Hinterbliebenengeld – Übersicht (Stand 03/2021)

Michael PeusMichael Peus

Zur aktuelleren Übersicht (08/2022)

Hinterbliebenengeld (§ 844 Abs. 3 BGB oder § 10 Abs. 3 StVG) fügt sich in den gesetzgeberisch vorgesehenen Rahmen bzw. die bisherigen Entscheidungen zum Schmerzensgeld ein. Wie das OLG Düsseldorf verdeutlicht, hat die Einführung des Hinterbliebenengeldes selbstverständlich auch keine Auswirkung auf alte Sachverhalte vor Einführung des Hinterbliebenengeldes.

Falls ein Geschädigter auch Schmerzensgeldansprüche besitzt, erhöht das Vorliegen beider Anspruchsgrundlagen nicht den Gesamtanspruch. Vielmehr geht sonst der eine Anspruch in dem anderen auf bzw. ist der Anspruch auf Hinterbliebenengeld in der Höhe subsidiär, vgl. LG Bonn und OLG Koblenz. Gesperrt ist ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, wenn der Schädiger nach den Vorschriften des SGB VII privilegiert ist, vgl. LG Koblenz und LG Mainz, aA OLG Koblenz.

 

Nachstehend ein Überblick über einige veröffentlichten Entscheidungen:

 

Betrag Näheverhältnis Bemessungsgründe Haftungsgrund Gericht
0 Mutter einer Getöteten kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, weil Schmerzensgeldanspruch höher ist und dem Hinterbliebenengeld vorgeht Mord am 29.06.2019 LG Bonn, Urteil vom 03.12.2019 – 24 Ks 7/19
[eingefügt 21.10.2020]
0 Schwiegermutter einer Getöteten kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld wegen Sperre nach §§ 104, 105 SGB VII Arbeitsunfall am 14.03.2018 LG Koblenz, Urteil vom 24. April 2020 – 12 O 137/19
[eingefügt 21.10.2020]
0 Schwipschwägerin
kein ausreichendes Näheverhältnis
  • enger Familienverbund
  • erhebliche gemeinsame Freizeitgestaltung
  • nicht verwandt
  • nicht verschwägert
  • kein gemeinsamer Haushalt
  • keine finanzielle Unterstützung
Verkehrsunfall am 14.09.2016 LG Limburg, Urteil vom 22.03.2019 – 2 O 177/18
[eingefügt 10.08.2020]
0 Ehemann
Näheverhältnis widerlegt
  • seit 4 Jahren getrennt
  • Scheidungsantrag 1 Jahr vorher eingereicht
  • neue Beziehung des Ehemannes
Verkehrsunfall am 14.04.2018 LG Traunstein, Endurteil v. 11.02.2020, Az. 1 O 1047/19
0 Angehörige nach § 844 Abs. 3 BGB
Näheverhältnis widerlegt
  • Die Beziehung der Angehörigen zum Verstorbenen war „gerade in den Jahren vor deren Tod als schwierig und nicht eng im Sinne eines regelmäßig gelebten persönlichen Kontakts und besonderen persönlichen Näheverhältnisses gestaltet‟.
  • Allein Trauer über den Tod des Angehörigen genügt nicht.
Mord BGH, Beschluss vom 18.05.2020, Az. 6 StR 48/20
2.000 Vater
eines 19-jährigen Verstorbenen
  • 1998 Sohn geboren
  • 2000 Mutter und Verstorbenen verlassen
  • 2006 Umzug des Vaters; persönlicher Kontakt nur in Ferienzeit; dann: Kontaktabbruch; keine familiäre Vater-Sohn-Beziehung
  • 2012: nach Versterben der Kindsmutter wieder Umgangskontakt; 2 Mal wöchentlich telefonischer Kontakt
  • 2013: es beginnt wieder Umgangskontakt in Form monatlicher Umganswochenenden und während der Schulferien
  • 2016: im September letzter persönlicher Kontakt
  • 09.09.2017: letzter Kontakt via Handy-Chat
  • Sohn war bereits Erwachsen
Mord in 09/2017; Haftung des Schädigers 100% LG Osnabrück, Urteil vom 09. Januar 2019 – 3 KLs 4/18 [eingefügt: 21.10.2020]
3.000 Schwiegertochter einer Verstorbenen Verkehrsunfall in 2018; Haftung des Schädigers 100% LG München II, Endurteil vom 17.05.2019 – 12 O 4540/18
5.000 Vater
eines verstorbenen 20-Jährigen
  • Alter des Verstorbenen
  • kein gemeinsamer Wohnsitz
  • Fahrlässigkeit auf Seiten des Beklagten
  • kurze Zeit vom Unfallzeitpunkt bis zum Eintritt des Todes
  • mindestens 50% Mitverschulden des Verstorbenen
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers (maximal) 50%
OLG Koblenz, Beschluss vom 31.08.2020 – 12 U 870/20
[eingefügt 08.01.2021]
5.000 Bruder
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • Miterleben des Unfalls und des Versterbens
  • räumliche Entfernung sprach gegen besondere Nähe
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18
5.000 Sohn
einer Verstorbenen
  • 48 Jahre alt
  • bereits verheiratet
Verkehrsunfall in 2018; Haftung des Schädigers 100% LG München II, Endurteil vom 17.05.2019 – 12 O 4540/18
5.000 Bruder
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • Miterleben des Unfalls und des Versterbens
  • räumliche Entfernung sprach gegen besondere Nähe
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18
6.500 Tochter
eines Unfallopfers
  • Tochter war erste Ansprechpartnerin des Vaters
  • Tochter trauerte noch 18 Monate nach Unfall um den Vater
  • Wohnorte knapp 150 km auseinander
  • grundsätzlich gewöhnliche Vater-Tochter-Beziehung
Verkehrsunfall
in 2018
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Flensburg, SCHLÜNDER: 1304-2019
[eingefügt 14.08.2020]
7.500 Kinder
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • alle Kinder schon über 20 Jahre alt
  • waren nicht auf Fürsorge des Verstorbenen angewiesen
  • waren in einem Alter, in dem man sich von dem Elternhaus allmählich löst
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18
8.000 erwachsene Tochter
einer Verstorbenen
  • enges emotionales Verhältnis trotz räumlicher Distanz
  • Töchter waren schon erwachsen
Mord in 08/2019
Haftung des Schädigers 100%
LG Münster Urteil vom 16.07.2020 – 2 Ks-30 Js 206/19-23/19
[eingefügt 08.01.2021]
10.000 Ehemann
einer Verstorbenen
  • 40 Ehejahre
Unfalltod
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Wiesbaden, Beschluss vom 23.10.2018, Az. 3 O 219/18
12.000 Ehefrau
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • 30 Ehejahre
  • 4 gemeinsame Kinder
  • klare Aufgabenverteilung
  • Vertrauensverhältnis mit finanzieller Abhängigkeit vom Verstorbenen
  • grobe Fahrlässigkeit des Schädigers
  • seit 28 Jahren wurde das gemeinsame Hobby (Motorradfahren) nicht ausgeübt
  • gemeinsame Aktivitäten erschöpften sich im Nordseeurlaub
  • Schädiger bereute und zahlte 2.000 Euro schon im Strafverfahren
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18
15.000 Mutter und Vater
einer 16-jährigen Verstorbenen
  • spätes Wunschkind
  • einziges Kind
  • wesentlicher Lebensinhalt und sozialer Bezugspunkt
  • schuldhafte Unfallverursachung, Leiden der Verstorbenen und Kenntnis der Eltern
Verkehrsunfall am 30.04.2018
Haftung des Schädigers 100%
LG Leipzig, Urteil vom 08.11.2019 – 05 O 758/19 [eingefügt: 21.10.2020]

 

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Ein Kunde darf nicht alles – Verkehrssicherungspflichten im Geschäftslokal

Michael PeusMichael Peus

AG Hanau, Urteil vom 18.12.2019 – 39 C 110/19

Sachverhalt

Die Beklagte betreibt einen Einkaufsmarkt und präsentiert diverse Fahrräder in vormontiertem Zustand. Schilder, die auf die nur gegebene Vormontage hinwiesen oder das Probefahren untersagten, waren nicht vorhanden.

Die Klägerin nahm ein Fahrrad aus den ausgestellten Fahrrädern heraus und unternahm eine Probefahrt in dem Markt. Nach wenigen Metern Fahrt vor einer zu fahrenden Kurve lenkte der Lenker zwar ein, das Rad lenkte jedoch nicht mit. Hierdurch verlor die Klägerin das Gleichgewicht und stürzte auf die linke Seite ihres Körpers. Hierbei erlitt sie Verletzungen.

Entscheidungsgründe

Eine Pflichtverletzung der Beklagten lag nicht vor, weshalb die Klägerin auch keinen Schadensersatzanspruch hatte. Hilfsweise sieht das Amtsgericht ein haftungsvernichtendes Eigenverschulden der Klägerin.

  1. Die Beklagte durfte davon ausgehen, dass ihre Kunden ohne ihre ausdrückliche Zustimmung keine Probefahrt mit einem Fahrrad vornehmen würden. Die eigenmächtige Vornahme einer Probefahrt mit einem Fahrrad in einem Warenhaus wie dem der Beklagten entspricht keiner bestimmungsgemäßen Nutzung, sondern stellt eine fernliegende bestimmungswidrige Nutzung dar. Das Ausstellen von Waren, auch in einem Selbstbedienungskaufhaus, zielt grundsätzlich darauf ab, den Kunden die Ansicht der Waren zu ermöglichen, nicht aber deren probeweise Nutzung. Probefahrten waren nicht durch entsprechende Schilder gestattet. Auch die Ausstellungsräume waren nicht derart beschaffen, dass Kunden von der Gestattung von Probefahrten ausgehen durften. Hierzu wären eindeutige gestalterische Maßnahmen, beispielsweise das Markieren einer Fahrstrecke, erforderlich gewesen. Allein die Tatsache, dass eine Probefahrt tatsächlich möglich gewesen sein mag, genügt hierfür nicht. Die Beklagte durfte davon ausgehen, dass ein umsichtiger und verständiger Kunde vor einer Probefahrt Rücksprache mit dem Personal halten würde, was die Klägerin unstreitig nicht getan hat.
  2. Selbst wenn man eine Verkehrssicherungspflichtverletzung der Beklagten annähme, wäre von einem ganz erheblichen Mitverschulden der Klägerin auszugehen, weil sie ohne Nachfrage und ausreichende Überprüfung des Fahrrades eine Probefahrt unternommen hat. Aufgrund dieser Umstände wäre von einem Mitverschulden der Klägerin von 100 % auszugehen.

Weiteres

Aus der Tatsache, dass ein Verkehrssicherungspflichtiger eine mögliche Gefahrenquelle beseitigt hat, ist nicht der Schluss zu ziehen, dass er hierzu im Rahmen seiner Verkehrssicherungspflicht auch verpflichtet gewesen wäre (OLG Frankfurt, Urteil v. 18.10.2007, Az. 1 U 100/07, juris). Auch eine Entschuldigung des Personals ist nicht als Anerkenntnis einer Verkehrssicherungspflichtverletzung zu bewerten.

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Mitverschuldenseinwand trotz Feststellungsurteils?!

Michael PeusMichael Peus

BGH, Urteil vom 19.09.2019 – I ZR 116/18

Leitsätze (amtlich)
a) Hat der Geschädigte im Feststellungsverfahren keine konkreten Schadenspositionen mitgeteilt, ist der Schädiger im Betragsverfahren hinsichtlich dann erstmals geltend gemachter Schadenspositionen nicht mit dem Mitverschuldenseinwand ausgeschlossen.
b) Der Einwand, der Schaden sei durch voreiliges Nachgeben unnötig vergrößert worden, bezieht sich auf die haftungsausfüllende Kausalität zwischen der Rechtsgutsverletzung und der jeweiligen Schadensposition.

 

Sachverhalt
Die Klägerin verlangt Schadensersatz (hier in Form von entgangenem Gewinn und materiellem Schadensersatz). Dem Grunde nach ist die vollständige Haftung der Beklagten rechtskräftig festgestellt.
In diesem Verfahren wendet sich die Beklagte gegen die Schadenhöhe und wendet sich – trotz rechtskräftig festgestellter Haftung dem Grunde nach – gegen die Höhe der klägerischen Ansprüche. Die Beklagte wendet ein, dass die Klägerin die Schäden selbst zu verantworten hat, § 254 Abs. 2 BGB.
[Konkret: Trotz der rechtswidrigen Abmahnung durch die Beklagte hätte die Klägerin die bereits produzierten Waren (hier: Grußkarten) nicht vernichten dürfen. Weil sie dies doch tat, sei sie für den Schaden letztlich selbst verantwortlich, auch wenn die Abmahnung unberechtigt erfolgt ist.]

Aus der Entscheidung
Das Feststellungsurteil steht der Überprüfung des Mitverschuldenseinwandes in dem Folgeprozess nicht entgegen.
„Die Frage, ob und in welcher Höhe ein Schaden eingetreten ist, von der Rechtskraft eines vorausgegangenen Feststellungsurteils nicht erfasst“ (BGH, Urteil vom 4. April 2014 – V ZR 275/12, BGHZ 200, 350 Rn. 27). Etwas anderes gilt jedoch, wenn bereits im Feststellungsverfahren einzelne Schadenspositionen in den Antrag aufgenommen oder zumindest angesprochen worden sind.

Ein völliger Ausschluss der Schadensersatzpflicht ist die Ausnahme. Der Klägerin stehen die in Rede stehenden Ansprüche wegen Mitverschuldens gem. § 254 Abs. 2 BGB nicht zu, da sie es schuldhaft unterlassen hat, diesen Schaden abwenden. Dass dieser Schaden vermeidbar gewesen wäre, hätte die Klägerin erkennen müssen. Die Klägerin trifft deshalb ein Mitverschulden an der Entstehung des Schadens durch die Einstellung des Vertriebs und den Rückruf und die Vernichtung, sodass sich ein Ersatzanspruch auf Null reduziert.

Anmerkung
Die Rechtskraft eines Feststellungsurteils steht dem Einwand, der die haftungsausfüllenden Kausalität betrifft, grundsätzlich nicht entgegen.
Einwendungen,  die die haftungsbegründende Kausalität sowie den Grund für den geltend gemachten Anspruch betreffen, müssen im Feststellungsverfahren vorgebracht werden. Mit diesen Einwendungen kann man im Folgeprozess nicht mehr gehört werden.

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§ 844 Abs. 3 BGB hat keinen Einfluss auf alte Sachverhalte

Michael PeusMichael Peus

OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.12.2020 – 1 U 35/20

zur Übersicht Hinterbliebenengeld, Stand 01/2021

Sachverhalt

Das Hinterbliebenengeld nach § 10 Abs. 3 StVG und § 844 Abs. 3 BGB gilt nur  für Sachverhalte, in denen die zum Tod führende Verletzung nach dem 22.07.2017 erfolgte (Artikel 229 § 43 EGBGB).

Für vorangegangene Sachverhalte gab es für nahe Angehörige nur nach der Schockschadenrechtsprechung immaterielle Entschädigung. Das setzte Beeinträchtigungen voraus, die das Maß der normalen und gewöhnlichen Trauer weit übertrafen.

Das OLG Düsseldorf befasste sich nun mit der Frage, ob wegen der Einführung des Hinterbliebenengeldes bei „Altfällen‟ ein Schmerzensgeldanspruch bestehen kann, ohne dass es über die gewöhnliche Trauer hinausgehende psychische Beeinträchtigungen gab. Das OLG Düsseldorf hat dieses Verlangen zutreffend und mit überzeugender Begründung zurückgewiesen.

Aus der Entscheidung:

 

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können durch ein Unfallgeschehen ausgelöste, traumatisch bedingte psychische Störungen von Krankheitswert eine (zurechenbare) Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB darstellen, wenn die hinreichende Gewissheit besteht, dass die psychisch bedingte Gesundheitsschädigung ohne die Verletzungshandlung nicht aufgetreten wäre. Sogenannte Schockschäden, d.h. psychische Beeinträchtigungen infolge des Todes naher Angehöriger, sind dabei nur als Gesundheitsverletzung anzusehen, wenn sie pathologisch fassbar sind und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen Hinterbliebene bei der Benachrichtigung vom tödlichen Unfall eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind (BGH, Urteil vom 27.01.2015 – VI ZR 548/12). Gesundheitsbeeinträchtigungen von solchem Ausmaß sind jedoch – auch in der Berufungsbegründung – nicht dargelegt.

b) (…)

Soweit die Klägerin in der Berufung die Auffassung vertritt, nach Einführung des § 844 Abs. 3 BGB könne es beim Verlust eines nahen Angehörigen auf eine pathologisch fassbare Gesundheitsbeeinträchtigung nicht ankommen, teilt der Senat diese Ansicht nicht.

Zu beachten ist zunächst, dass es sich beim Anspruch auf Hinterbliebenengeld sich nicht um einen Schmerzensgeldanspruch handelt. Der Gesetzgeber hatte die Einführung eines allgemeinen Angehörigenschmerzensgeldes anlässlich der Schadenrechtsreform zum 01.08.2002 (2. Schadenrechtsänderungsgesetz v. 25.07.2002, BGBl I 2002, 2674) ausdrücklich abgelehnt (Jahnke in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, § 844 BGB Rn. 79 m.w.N.).

Von dieser Linie wurde mit der Einführung des Hinterbliebenengeldes (begrifflich daher nicht: Hinterbliebenenschmerzensgeld, Trauerschmerzensgeld oder Angehörigenschmerzensgeld) auch nicht abgewichen. Die infolge einer fremdverursachten Tötung erlittene Trauer und das seelische Leid eines Hinterbliebenen wurde vom bis zum 22.07.2017 geltenden Recht als entschädigungslos hinzunehmendes Schicksal angesehen (BT-Drs. 18/11397, S. 8). Psychische Belastungen, denen Angehörige durch das Miterleben von Leidensweg und Tod eines Familienmitgliedes ausgesetzt sind, rechtfertigten nur im Ausnahmefall ein Schmerzensgeld. Angehörige, die anlässlich eines Unfalles einen sogenannten Schock- oder Fernwirkungsschaden erleiden, sind zwar nicht nur mittelbar, sondern unmittelbar verletzt, haben aber nur unter den engen Voraussetzungen, die der Bundesgerichtshof herausgearbeitet hat, Ansprüche aus eigenem Recht (vgl. Jahnke in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, vor § 249 BGB Rn. 123 ff. m.w.N.).

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Haftungsprivileg nach SGB sperrt Hinterbliebenengeld (LG Mainz)

Michael PeusMichael Peus

LG Mainz im Urteil vom 02.09.2020 – 5 O 249/19
[ vergleichbar LG Koblenz ]

 

Leitsatz (nicht amtlich)

Nach dem LG Koblenz im Urteil vom 24.04.2020, Az. 12 O 137/19, bestätigt auch das LG Mainz, dass bei einem Arbeitsunfall ein Anspruch der Hinterbliebenen auf Hinterbliebenengeld (§ 10 Abs. 3 StVG oder § 844 Abs. 3 BGB ) nach dem SGB gesperrt ist.

Sachverhalt

Der Sohn der Kläger stirbt bei einem Verkehrsunfall, an dem er als Beifahrer in einem Sprinter beteiligt war. Gefahren wurde der Sprinter einerseits auf einem Arbeitsweg und andererseits von einem Arbeitskollegen, der den Verkehrsunfall alleine verursachte.

Entscheidung

Ein Näheverhältnis der Eltern zum Sohn war unproblematisch. Einerseits wird es gesetzlich vermutet, andererseits wurde es auch konkret gelebt.

Die Eltern hatten dennoch keinen Anspruch auf Hinterbliebenengeld.

1. Relevant ist § 105 SGB VII:

„Diese Norm regelt die Haftungsbeschränkung bei der Geltendmachung von Ansprüchen des Geschädigten, seiner Angehörigen und Hinterbliebenen gegenüber anderen Betriebsangehörigen. Der § 105 SGB VII schließt alle Ansprüche der vorgenannten Personen aus, die auf Ersatz des Personenschadens gerichtet sind (vgl. BGH, VI ZR 55/06). Die Haftung ist auf Vorsatz beschränkt.‟

2. Die Voraussetzung der Norm „versicherte Tätigkeit‟ war gegeben:

„Der Haftungsausschluss setzt voraus, dass es sich bei dem Unfall um einen Arbeitsunfall nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII handelt, das heißt ein Unfall, der in Folge einer versicherten Tätigkeit passiert. Diese Voraussetzung ist vorliegend gegeben. Der Beklagte zu 3 war gemeinsam mit dem Verstorbenen auf dem Rückweg zur Firma des Beklagten zu 2.‟

3. Das sperrt auch das Hinterbliebenengeld:

„Die Haftungsbeschränkung der §§ 104 ff. SGB VII erstreckt sich auch auf das Hinterbliebenengeld aus § 844 Abs. 3 BGB (Burmann/Hess/Hühnermann/Jahnke BGB, § 844 Randnummer 103). Dies deshalb, da nach herrschender Meinung auch das Hinterbliebenengeld dem Normzweck der §§ 104 ff. unterfällt, Auseinandersetzungen und Verschulden des Arbeitgebers und Mitverschulden des Arbeitnehmers zu vermeiden. Eine solche Auseinandersetzung würde bei tödlichen Arbeitsunfällen dann zwischen dem Arbeitgeber und den Hinterbliebenen ausgetragen (erf. K/Rolfs SGB VII, § 104 Randnummer 15). Die Haftungsbegrenzung dient dem Schutz des Betriebsfriedens und bindet die Hinterbliebenen mit ein. Der vom Gesetzgeber bezweckte Schutz vor Auseinandersetzungen und Konflikten hat den Hintergrund, dass neben der Frage des Verschuldens des Schädigers, das im vorliegenden Fall fest steht, auch ein Mitverschulden des Getöteten diskutiert werden müsste, was vorliegend seitens der Beklagten im Hinblick auf das fehlende Anschnallen des Verstorbenen auch eingewandt wird. Die Auseinandersetzung mit dem Mitverschulden des Geschädigten hat der Gesetzgeber sowohl für den Fall, dass eine Verletzung vorliegt, als auch bei tödlichen Unfällen, vermeiden wollen.‟

Anmerkung:

In einer vergleichbaren Konstellation hat das LG Koblenz für die Hinterbliebenen eines Wie-Beschäftigten ebenfalls Ansprüche auf Hinterbliebenengeld verneint.

 

Zur Übersicht Stand 01/2021

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Hinterbliebenengeld – Übersicht (Stand 01/2021), aktualisiert 22.01.2021

Michael PeusMichael Peus

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Hinterbliebenengeld (§ 844 Abs. 3 BGB oder § 10 Abs. 3 StVG) fügt sich in den gesetzgeberisch vorgesehenen Rahmen bzw. die bisherigen Entscheidungen zum Schmerzensgeld ein. Wie das OLG Düsseldorf verdeutlicht, hat die Einführung des Hinterbliebenengeldes selbstverständlich auch keine Auswirkung auf alte Sachverhalte vor Einführung des Hinterbliebenengeldes.

Falls ein Geschädigter auch Schmerzensgeldansprüche besitzt, erhöht das Vorliegen beider Anspruchsgrundlagen nicht den Gesamtanspruch. Vielmehr geht sonst der eine Anspruch in dem anderen auf bzw. ist der Anspruch auf Hinterbliebenengeld in der Höhe subsidiär, vgl. LG Bonn und OLG Koblenz. Gesperrt ist ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, wenn der Schädiger nach den Vorschriften des SGB VII privilegiert ist, vgl. LG Koblenz und LG Mainz.

 

Nachstehend ein Überblick über einige veröffentlichten Entscheidungen:

 

Betrag Näheverhältnis Bemessungsgründe Haftungsgrund Gericht
0 Mutter einer Getöteten kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, weil Schmerzensgeldanspruch höher ist und dem Hinterbliebenengeld vorgeht Mord am 29.06.2019 LG Bonn, Urteil vom 03.12.2019 – 24 Ks 7/19
[eingefügt 21.10.2020]
0 Schwiegermutter einer Getöteten kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld wegen Sperre nach §§ 104, 105 SGB VII Arbeitsunfall am 14.03.2018 LG Koblenz, Urteil vom 24. April 2020 – 12 O 137/19
[eingefügt 21.10.2020]
0 Schwipschwägerin
kein ausreichendes Näheverhältnis
  • enger Familienverbund
  • erhebliche gemeinsame Freizeitgestaltung
  • nicht verwandt
  • nicht verschwägert
  • kein gemeinsamer Haushalt
  • keine finanzielle Unterstützung
Verkehrsunfall am 14.09.2016 LG Limburg, Urteil vom 22.03.2019 – 2 O 177/18
[eingefügt 10.08.2020]
0 Ehemann
Näheverhältnis widerlegt
  • seit 4 Jahren getrennt
  • Scheidungsantrag 1 Jahr vorher eingereicht
  • neue Beziehung des Ehemannes
Verkehrsunfall am 14.04.2018 LG Traunstein, Endurteil v. 11.02.2020, Az. 1 O 1047/19
0 Angehörige nach § 844 Abs. 3 BGB
Näheverhältnis widerlegt
  • Die Beziehung der Angehörigen zum Verstorbenen war „gerade in den Jahren vor deren Tod als schwierig und nicht eng im Sinne eines regelmäßig gelebten persönlichen Kontakts und besonderen persönlichen Näheverhältnisses gestaltet‟.
  • Allein Trauer über den Tod des Angehörigen genügt nicht.
Mord BGH, Beschluss vom 18.05.2020, Az. 6 StR 48/20
2.000 Vater
eines 19-jährigen Verstorbenen
  • 1998 Sohn geboren
  • 2000 Mutter und Verstorbenen verlassen
  • 2006 Umzug des Vaters; persönlicher Kontakt nur in Ferienzeit; dann: Kontaktabbruch; keine familiäre Vater-Sohn-Beziehung
  • 2012: nach Versterben der Kindsmutter wieder Umgangskontakt; 2 Mal wöchentlich telefonischer Kontakt
  • 2013: es beginnt wieder Umgangskontakt in Form monatlicher Umganswochenenden und während der Schulferien
  • 2016: im September letzter persönlicher Kontakt
  • 09.09.2017: letzter Kontakt via Handy-Chat
  • Sohn war bereits Erwachsen
Mord in 09/2017; Haftung des Schädigers 100% LG Osnabrück, Urteil vom 09. Januar 2019 – 3 KLs 4/18 [eingefügt: 21.10.2020]
3.000 Schwiegertochter einer Verstorbenen Verkehrsunfall in 2018; Haftung des Schädigers 100% LG München II, Endurteil vom 17.05.2019 – 12 O 4540/18
5.000 Vater
eines verstorbenen 20-Jährigen
  • Alter des Verstorbenen
  • kein gemeinsamer Wohnsitz
  • Fahrlässigkeit auf Seiten des Beklagten
  • kurze Zeit vom Unfallzeitpunkt bis zum Eintritt des Todes
  • mindestens 50% Mitverschulden des Verstorbenen
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers (maximal) 50%
OLG Koblenz, Beschluss vom 31.08.2020 – 12 U 870/20
[eingefügt 08.01.2021]
5.000 Bruder
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • Miterleben des Unfalls und des Versterbens
  • räumliche Entfernung sprach gegen besondere Nähe
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18
5.000 Sohn
einer Verstorbenen
  • 48 Jahre alt
  • bereits verheiratet
Verkehrsunfall in 2018; Haftung des Schädigers 100% LG München II, Endurteil vom 17.05.2019 – 12 O 4540/18
5.000 Bruder
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • Miterleben des Unfalls und des Versterbens
  • räumliche Entfernung sprach gegen besondere Nähe
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18
6.500 Tochter
eines Unfallopfers
  • Tochter war erste Ansprechpartnerin des Vaters
  • Tochter trauerte noch 18 Monate nach Unfall um den Vater
  • Wohnorte knapp 150 km auseinander
  • grundsätzlich gewöhnliche Vater-Tochter-Beziehung
Verkehrsunfall
in 2018
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Flensburg, SCHLÜNDER: 1304-2019
[eingefügt 14.08.2020]
7.500 Kinder
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • alle Kinder schon über 20 Jahre alt
  • waren nicht auf Fürsorge des Verstorbenen angewiesen
  • waren in einem Alter, in dem man sich von dem Elternhaus allmählich löst
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18
8.000 erwachsene Tochter
einer Verstorbenen
  • enges emotionales Verhältnis trotz räumlicher Distanz
  • Töchter waren schon erwachsen
Mord in 08/2019
Haftung des Schädigers 100%
LG Münster Urteil vom 16.07.2020 – 2 Ks-30 Js 206/19-23/19
[eingefügt 08.01.2021]
10.000 Ehemann
einer Verstorbenen
  • 40 Ehejahre
Unfalltod
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Wiesbaden, Beschluss vom 23.10.2018, Az. 3 O 219/18
12.000 Ehefrau
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • 30 Ehejahre
  • 4 gemeinsame Kinder
  • klare Aufgabenverteilung
  • Vertrauensverhältnis mit finanzieller Abhängigkeit vom Verstorbenen
  • grobe Fahrlässigkeit des Schädigers
  • seit 28 Jahren wurde das gemeinsame Hobby (Motorradfahren) nicht ausgeübt
  • gemeinsame Aktivitäten erschöpften sich im Nordseeurlaub
  • Schädiger bereute und zahlte 2.000 Euro schon im Strafverfahren
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18
15.000 Mutter und Vater
einer 16-jährigen Verstorbenen
  • spätes Wunschkind
  • einziges Kind
  • wesentlicher Lebensinhalt und sozialer Bezugspunkt
  • schuldhafte Unfallverursachung, Leiden der Verstorbenen und Kenntnis der Eltern
Verkehrsunfall am 30.04.2018
Haftung des Schädigers 100%
LG Leipzig, Urteil vom 08.11.2019 – 05 O 758/19 [eingefügt: 21.10.2020]

 

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Hinterbliebenengeld IX

Michael PeusMichael Peus

OLG Koblenz, Beschluss vom 31.08.2020 – 12 U 870/20

Sachverhalt

Der Kläger verlangt Hinterbliebenengeld nach dem Versterben seines 20-Jahre alten Sohnes (Verkehrsunfall). Der verstorbene Sohn fuhr im Februar 2019 morgens gegen 7 Uhr mit unbeleuchtetem Fahrrad im Straßenverkehr und trug dunkle Kleidung. Zum Unfallzeitpunkt wohnte er im Haushalt seiner Mutter, der vom Kläger geschiedenen Ehefrau.

Das Landgericht sprach dem Kläger unter Berücksichtigung eines 50%igen Mitverschuldens des Verstorbenen an dem Unfall 4.500 EUR Hinterbliebenengeld zu. Der Kläger machte im Rahmen eines PKH-Antrages einen Gesamtanspruch in Höhe von 25.000 EUR bzw. 15.000 EUR geltend.

Entscheidungsgründe

Das OLG Koblenz wies den PKH-Antrag zurück.

  1. Mehr als 10.000 EUR Hinterbliebenengeld sei bei vollständiger Haftung des Schädigers mit der gesetzgeberischen Vorgabe nicht vereinbar.
  2. Angesichts des Eigenverschuldens des Verstorbenen sei dieser zu mindestens 50% mitverantwortlich.
  3. Unter Berücksichtigung dieser Umstände wäre maximal ein Hinterbliebenengeld von weiteren 500 EUR möglich, wobei Prozesskostenhilfe diesbezüglich nicht möglich sei, weil die Berufungsbeschwer dann nicht erreicht sei (§ 511 ZPO).

Allgemeines

Das OLG Koblenz führt zur Begründung seiner Entscheidung zum Hinterbliebengeld weiter aus:

Hinterbliebenengeld ist Minus eines eigenen Anspruchs (Schockschaden)

„(…) da das Hinterbliebenengeld nach dem eindeutigen gesetzgeberischen Willen jedenfalls als minus gegenüber dem eigenen Anspruch beim Vorliegen eines sogenannten Schockschadens anzusehen sein soll (vgl. auch Müller, VersR 2017, 321, 324).‟

10.000 EUR Hinterbliebengeld sind erste Richtschnur:

„ausgehend von der Gesetzesbegründung und dem Sinn und Zweck des neu eingefügten § 844 Abs. 3 BGB der Betrag von 10.000 € eine „Richtschnur‟ oder Orientierungshilfe darstellt.‟

Selbstverständlich kann Geld kein Ersatz für das Leben eines Menschen sein, erst Recht nicht eines nahestehenden Menschen. Deshalb kann der Gedanke auch nicht für die Bemessung herangezogen werden. Es kann nur darum gehen, das Leid etwas auszugleichen:

„Wesentlicher Ausgangspunkt für die Bemessung des Hinterbliebenengeldes ist zudem, dass Ziel und Zweck des Gesetzes sein sollte, einen (gewissen) Ausgleich für das vom Hinterbliebenen erlittene seelische Leid zu gewähren. Es handelt sich also um eine – naturgemäß nie das Leid aufwiegende – Leistung zur Anerkennung des seelischen Leids (BT-Drs. a. a. O. S. 10); die Entschädigung soll und kann keinen Ausgleich für den Verlust des Lebens darstellen. Was der Verlust eines Menschen für seine Hinterbliebenen bedeutet, kann ebenfalls nicht in Geld bemessen werden. Mit der Entschädigung soll der Hinterbliebene jedoch nach dem Willen des Gesetzgebers in die Lage versetzt werden, seine durch den Verlust des besonders nahestehenden Menschen verursachte Trauer und sein seelisches Leid zu lindern (BT-Drs. a. a. O. S. 8).‟

Deshalb kann von der Richtschnur auch nicht erheblich abgewichen werden:

„Ein deutlich über diesem Betrag liegendes Hinterbliebenengeld – vom Kläger erstinstanzlich auf 25.000 € und mit dem Entwurf der Berufungsbegründung auf 15.000 € beziffert – wäre aus Sicht des Senats nicht mit der gesetzgeberischen Vorgabe vereinbar, (…)‟

 

Prozessual:

„Besteht Erfolgsaussicht jedoch nur für einen Teilbetrag, der unter der sog. Erwachsenheitssumme des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO liegt, ist Prozesskostenhilfe nicht zu gewähren (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 27. Juni 1985, Az.: 10 UF 1661/85, NJW 1987, 265; OLG Hamburg, Beschluss vom 16. September 1996, Az.: 12 UF 24/96, FamRZ 1997, 621; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 01. Juni 2006, Az.: 2 UF 163/05, BeckRS 2006, 07685; Wache in Münchner Kommentar zur ZPO § 114 Rn. 53; Fischer in Musielak/Voit ZPO § 119 Rn. 20; vgl. aber für den Fall einer zulässig eingelegten Berufung bei Erfolgsaussicht für einen unterhalb der Berufungssumme liegenden Wert OLG Koblenz FamRZ 1996, 557, Beschluss vom 04. September 1995, Az.: 13 UF 330/9, FamRZ 1996, 557).‟

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Hinterbliebenengeld VIII

Michael PeusMichael Peus

LG Münster Urteil vom 16.07.2020 – 2 Ks-30 Js 206/19-23/19

Sachverhalt

Die zwei Töchter der Verstorbenen beanspruchen nach dem Tod der Mutter am 02.08.2019 Hinterbliebenengeld. Der Täter, Neffe der Getöteten, wurde wegen Mordes verurteilt. Im Rahmen der Nebenklage verfolgten die Töchter den immateriellen Anspruch.

Entscheidungsgründe

Jeder Tochter wurden 8.000 € Hinterbliebenengeld aus § 844 Abs. 3 BGB zugesprochen.

  1. Der Anspruch auf Hinterbliebenengeld nach § 844 Abs.3 BGB steht dem Anspruchssteller dann zu, wenn zwischen ihm und der getöteten Person ein persönliches Näheverhältnis besteht. Vorliegend handelt es sich bei den Anspruchsstellerinnen um die Töchter der Verstorbenen.
  2. Des Weiteren setzt ein Anspruch voraus, dass der Angehörige durch die Tötung seelisches Leid empfindet. Die Töchter hatten trotz einer räumlichen Distanz ein enges und emotionales Verhältnis zu ihrer Mutter und litten aufgrund des Todes.
  3. Nach § 287 ZPO hielt das Gericht 8.000,00 € je Nebenklägerin für angemessen. Die anspruchsberechtigten Klägerinnen waren schon erwachsen, so dass jeweils 8.000,00 € Hinterbliebenengeld ausreichend waren.

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Hinterbliebenengeld VII

Michael PeusMichael Peus

LG Osnabrück, Urteil vom 09. Januar 2019 – 3 KLs 4/18

Sachverhalt

Der seit 17 Jahren von der Mutter getrennt lebende Vater macht nach Ermordung des Sohnes Hinterbliebenengeld nach § 844 Abs. 3 BGB geltend.

Entscheidungsgründe

Ein Anspruch besteht in Höhe von 2.000 Euro.

Gründe:

  1. Der Anspruch auf Zahlung eines Hinterbliebenengeldes gem. § 844 Abs. 3 BGB orientiert sich nicht am konkreten Leid, sondern am abstrakten Umstand der Eigenschaft als Hinterbliebener, wobei nicht das Verhalten des (mutmaßlichen) Schädigers, sondern das Empfinden des Opfers im Vordergrund steht. Dabei können in Bezug auf die gem. § 287 ZPO zu schätzende Höhe des Anspruchs die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze bei Schockschäden eine gewisse Orientierung geben.
  2. Dabei kann das Hinterbliebenengeld in der Größenordnung von 20% eines Schockschaden-Schmerzensgeldes als Ausgangspunkt angesetzt werden.
  3. Der Vater hatte sich bereits von der Mutter des Sohnes getrennt, als dieser 2 Jahre alt war.
  4. Eine gelebte familiäre Vater-Sohn-Beziehung gab es seit dieser Zeit nicht mehr. Vielmehr bestand nach dem Umzug des Vaters im Jahr 2006 Umgangskontakt zu seinem Sohn schon wegen der großen Entfernung zunächst nur noch während der Ferienzeit, bis dieser schließlich ganz abbrach.
  5. Erst ab dem Jahr 2012 und nachdem die Kindesmutter verstorben war, lebten die Umgangskontakte wieder auf und es gab zunächst einmal wöchentlich telefonischen Kontakt, ab dem Jahr 2013 auch wieder persönlichen Kontakt in Form von monatlichen Umgangswochenenden und einigen Besuchen des Sohnes während der Schulferien.
  6. Der letzte persönliche Kontakt zwischen Sohn und Vater war dann im September 2016, mithin etwa ein Jahr vor seinem Tod. Zum Tatzeitpunkt bestand lediglich noch ein fernmündlicher Kontakt via WhatsApp, zuletzt am 09.09.2017.
  7. Der Sohn war zum Zeitpunkt seines Todes fast 20 Jahre alt, mithin bereits erwachsen.

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