Hinterbliebenengeld (XXII): Bemessung: Verlust des Kindes infolge eines Gewaltdelikts

LG Dessau-Roßlau, Urt. v. 22.10.2021 – 4 O 220/20

 

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Leitsätze (amtlich)

  1. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der leibliche Vater des Getöteten war.
  2. Bei Verlust eines Kindes infolge eines Gewaltdelikts kann die Leistung eines Hinterbliebenengeldes in Höhe von 20.000€ angemessen sein, wobei der in der Gesetzesbegründung zu § 844 Abs. 3 BGB genannte Betrag von 10.000€ keine Obergrenze, sondern lediglich eine Orientierungshilfe für die Bemessung darstellt.

 

Sachverhalt

Der Kläger verlangt von dem Beklagten u.a. Hinterbliebenengeld, welches aus seiner Sicht 20.000€ betragen müsse. Sein 30-jähriger Sohn starb infolge einer Körperverletzung durch den Beklagten. Der Getötete war am Tattag nachmittags mit einer Bekannten auf dem Weg zu einem Einkaufzentrum. Vor dem Eingang traf er den Beklagten, mit dem er eine verbale Auseinandersetzung hatte. Als ihn der Beklagte mit der Faust ins Gesicht schlug, stürzte er mit dem Hinterkopf auf den Betonboden und erlitt dadurch ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit massiven Hirnblutungen und eine Schädelbasisfraktur. Er verstarb nach einer erfolglosen Notoperation noch am Abend.

 

Entscheidung

Die Klage ist nach Ansicht des Landgerichts teilweise begründet. Als Hinterbliebenengeld urteilte das Landgericht 20.000 € aus. Es begründete dies wie folgt:

  1. Nach § 844 Abs. 3 BGB hat „der Ersatzpflichtige dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war“. Vorliegend ist der Kläger der Vater des Getöteten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird damit vermutet, § 844 Abs. 3 S. 2 BGB.
  2. Diese Vermutung konnte auch nicht widerlegt werden. Sofern der Beklagte behauptet, der Kläger sei schon seit über 10 Jahren aus der Wohnung des Klägers ausgezogen und es bestand aufgrund einer Drogenabhängigkeit und Straffälligkeit keine enge Beziehung mehr zu seinem Vater, konnte dies nicht festgestellt werden. Im Rahmen der Beweisaufnahme bekundeten die glaubhaften Zeugen, dass der Kläger ein enges Verhältnis zu seinem Sohn hatte: Der Verstorbene habe bis zu seinem Auszug bei seinem Vater gewohnt, und sie hätten ein sehr enges Vater-Sohn-Verhältnis gehabt und in ihrer Freizeit gemeinsam etwas unternommen (z.B. Angeln, Fußballspielen). Der Verstorbene habe außerdem seinen Vater bei dem Umbau seines Hauses geholfen, der sich über ein Jahr erstreckte. Eine Drogenabhängigkeit und ein antisoziales Verhalten aufgrund der Straffälligkeit habe es nicht gegeben. Der Verstorbene habe mit seiner Freundin ihre gemeinsame Wohnung umgebaut und geplant, eine Familie zu gründen. Der Kläger schilderte ebenfalls, er habe ein inniges Verhältnis zu seinem Sohn gehabt. Bis er 25 war, habe er bei ihm gewohnt und sie hätten gemeinsame Freizeitaktivitäten unternommen und persönliche Gespräche geführt, die ihre Beziehung noch verstärkt hätten. Daher liegt ein besonderes persönliches Näheverhältnis zwischen dem Kläger und seinem Sohn vor. Durch den Tod seines Sohnes erlitt der Kläger auch „seelisches Leid“.
  3. Zwischenergebnis: Dem Kläger steht damit ein Anspruch auf ein angemessenes Hinterbliebenengeld gem. § 844 Abs. 3 BGB zu.
  4. Die Bemessung des Hinterbliebenengeldes liegt im Ermessen des Gerichts, das unter Billigkeitsgesichtspunkten auszuüben ist. Hierbei dürfte jedoch das seelische Leid als konkrete Beeinträchtigung maßgeblich sein. Für die Bemessung allgemeine Kriterien zu finden, gestaltet sich jedoch schwierig, da seelische Beeinträchtigungen besonders komplex sind und ihre Dauer nicht prognostizierbar ist. Daher kann keine schematische Bemessung, z.B. nach der Art des Verwandtschaftsverhältnisses erfolgen. Bei der Bemessung ist jedoch § 287 ZPO anwendbar und im Einzelfall sind z.B. das Alter des Verstorbenen, der Verwandtschaftsgrad, die individuelle Qualität der Beziehung, individuelle Umstände des Sterbens mit Auswirkung auf die Trauerbewältigung, subjektive Umstände der Bewältigung der Trauer, Intensität des Näheverhältnisses, wirtschaftliche Folgelasten, das Verhalten des Schädigers, soweit es leidenserhöhend wirkt und das Mitverschulden des Verstorbenen zu berücksichtigen.
  5. In seiner Gesetzesbegründung ging der Gesetzgeber von einem Durchschnittsbetrag i.H.v. 10.000€ aus, der eine „Orientierungshilfe“ für die Bemessung darstellt. Weiterhin müsse sich die Bemessung des Hinterbliebenengeldes in das stimmige Gesamtgefüge der deutschen und europäischen Rechtsprechung zum Schmerzens- und Hinterbliebenengeld einfügen [Anmerkung: das ist entsprechend BGH, Urt. v. 06.12.2022 – VI ZR 73/21, falsch!]. In vergleichbaren Fällen würden in Europa deutlich höhere Beträge zugesprochen. So wurden in Österreich Beträge i.H.v. 10.000 – 25.000€ gezahlt, in der Schweiz 20.000 – 40.000 sFr und in England beträgt der gesetzlich festgeschriebene Betrag 12.980 Pfund.
  6. Das Landgericht befand ein Hinterbliebenengeld i.H.v. 20.000€ als angemessen. Anspruchserhöhend ist zu berücksichtigen, dass der Vater zum allerengsten Familienkreis des Verstorbenen gehörte und es für Eltern nichts Schlimmeres gilt, als ihr Kind zu verlieren. Daher ist diese Konstellation nach der Rechtsprechung an der Obergrenze des Hinterbliebenengeldes Der Kläger hatte nur ein Kind, das mit seinen 30 Jahren noch das Leben vor sich hatte. Er baute mit seiner Freundin die gemeinsame Wohnung um und wollte ein Familienleben gründen. Trotz dessen, dass der Sohn bereits ausgezogen und erwachsen war, bestand ein sehr enges und inniges Vater-Sohn-Verhältnis mit regelmäßigem persönlichen Kontakt. Der Kläger verlor seinen Sohn durch eine vorsätzliche Straftat. Dem persönlichen Eindruck in der mündlichen Verhandlung nach, leidet er sehr unter dem Tod seines Sohnes insb. dadurch, dass er durch eine vorsätzliche Straftat gestorben ist und für ihn strafrechtliche Verurteilung des Beklagten (Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung) nicht angemessen ist. Ein Mitverschulden des Verstorbenen ist hingegen nicht zu berücksichtigen. Es konnte nicht bewiesen werden, dass sich der Verstorbene aufgrund der eingenommenen Amphetamine, Metamphetaminen und der Antidepressiva sich infolge des Schlages durch den Beklagten nicht abfangen konnte und deshalb ungebremst mit dem Kopf auf den Boden aufschlug.
  7. Nicht anspruchserhöhend war es zu werten, dass der Beklagte nach der Tat den Tatort verließ. Für den Beklagten war die schwere Kopfverletzung nicht zu erkennen. Der Verstorbene habe geatmet und seine Begleitung war bei ihm. Diese ging selbst nicht von einer schweren Kopfverletzung aus.

Hinsichtlich der Feststellung ist der Antrag abzuweisen. Der Verlust eines Angehörigen ist ein einmaliger Vorgang. Der Anspruch auf Hinterbliebenengeld wird mit einer Einmalzahlung vollständig abgegolten. Ein weiterer Anspruch kann sich hieraus nicht ergeben.

Anmerkung

Die Entscheidung des Landgerichts ist mit Rechtsfehlern behaftet: Das LG bemisst das Hinterbliebenengeld der Höhe nach maßgeblich nach den in den europäischen Nachbarländern zugesprochenen Beträgen, damit sich der Betrag in die europäische Rechtsprechung einfügt. Die Bemessung des Hinterbliebenengeldes erfolgt jedoch nach der Rechtsprechung des BGH nur nach den deutschen Lebensverhältnissen und der deutschen Rechtsordnung und muss sich gerade nicht in die europäische Rechtsprechung einzufügen (vgl. BGH, Urt. v. 06.12.2022 – VI ZR 73/21). Ob eine Berufung oder ggfls. Revision eingelegt wurde, ist unbekannt.

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