Hinterbliebenengeld XXVII: Zur Bemessung

BGH, Urt. v. 23.05.2023 – VI ZR 161/22

 

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Leitsatz (amtlich)

Zur Bemessung der Höhe der Hinterbliebenenentschädigung (Anschluss an Senatsurteil vom 6. Dezember 2022, VI ZR 73/21, VersR 2023, 256).

 

Sachverhalt

Die Klägerin verlangt aufgrund des Verkehrsunfalltodes ihres Vaters von den Beklagten Hinterbliebenengeld. Ihr Vater fuhr am 03.09.2020 mit dem Motorrad durch eine Kurve, als die Beklagte zu 1 mit ihrem bei der Beklagten zu 2 versicherten Pkw auf die Gegenfahrbahn geriet und mit dem Vater der Klägerin frontal zusammenstieß. Der Vater der Klägerin verstarb noch am Unfallort. Außer Streit steht die volle Haftung der Beklagten.

Die Beklagte zu 2 zahlte vorgerichtlich ein Hinterbliebenengeld i.H.v. 7.500€.

Die Klägerin wurde am 05.06.2001 geboren und lebte zum Unfallzeitpunkt noch bei ihren Eltern und war von ihrem Vater finanziell abhängig.

Sie begehrte klageweise die Zahlung weiterer 22.500€ Hinterbliebenengeld. Sie trug u.a. vor, dass sie sich nach dem Tod ihres Vaters gemeinsam mit ihrer Mutter vermehrt um ihren autistischen Bruder kümmern müsse. Dies stelle sich jedoch schwierig dar, da der Vater seine Respekts- und Bezugsperson gewesen sei und sein Tod bei ihm Verhaltensauffälligkeiten hervorgerufen habe. Er sei ihnen gegenüber gewaltsam und aufbrausend, wodurch sie täglich mit dem Tod ihres Vaters konfrontiert würden.

Das Landgericht wies die Klage teilweise ab und verurteilte die Beklagte zu Zahlung weiterer 4.500€. Die Berufung der Klägerin blieb ohne Erfolg. Das Berufungsgericht sprach der Klägerin – wie auch schon das Landgericht – gem. § 10 Abs. 3 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG ein Hinterbliebenengeld i.H.v. insgesamt 12.000€ zu.

Nach der Ansicht des Berufungsgerichts seien bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes Erwägungen der Angemessenheit zugrunde zu legen und § 287 ZPO anzuwenden. Der in der Gesetzesbegründung genannte Betrag von 10.000€ stelle einen Ausgangspunkt der von den Gerichten vorzunehmenden Einzelfallprüfung dar. Daher könne das Hinterbliebenengeld unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls flexibel nach unten oder oben angepasst werden. Ein über 12.000€ hinausgehendes Hinterbliebenengeld stehe der Klägerin jedoch nicht zu. Es bestehe aufgrund der häuslichen Gemeinschaft eine tatsächlich gelebte enge soziale Beziehung der Klägerin zu ihrem Vater, die eine moderate Erhöhung des Hinterbliebenengeldes rechtfertige. Zudem sei es vom Landgericht richtig gewesen, die wirtschaftliche Abhängigkeit der Klägerin von ihrem Vater unberücksichtigt zu lassen. Dies sei für die Bemessung irrelevant, da das Hinterbliebenengeld auf einen eigenen Gefühlsschaden gerichtet sei. Ebenso seien die Auswirkungen des Todes des Vaters auf den autistischen Bruder der Klägerin und die Beeinträchtigungen sowie, dass die Beklagte zu 1 ihre strafrechtliche Verantwortung bestritten habe, nicht zu berücksichtigen.

Mit der Revision verfolgt sie nun ihr Begehren weiter.

 

Entscheidung

Der BGH hebt die Entscheidung auf und verweist sie zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurück.

Die Klägerin hat – wie auch vom erstinstanzlichen Gericht und Berufungsgericht angenommen – einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld gem. § 18 Abs. 1 S. 1, § 10 Abs. 3 StVG, § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG.

Da die Bemessung des Hinterbliebenengeldes durch den nach § 287 ZPO besonders freigestellten Tatrichter zu erfolgen hat, kann sie im Rahmen der Revision nur auf Rechtsfehler bei der Festsetzung (insb. ob sich das Gericht mit allen für die Bemessung maßgeblichen Umständen ausreichend auseinandergesetzt hat, angemessene Beziehung der Entschädigung zu der Art und dem Ausmaß des zugefügten seelischen Leids) überprüft werden. Die Bemessung kann jedoch nicht beanstandet werden, wenn sie zu dürftig oder zu reichlich erscheint.

Die Erwägungen des Berufungsgerichts zu den Bemessungsgrundlagen sind teilweise rechtsfehlerhaft.

Bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes ist die konkrete seelische Beeinträchtigung des Hinterbliebenen nach den besonderen Umständen des Einzelfalles zu bewerten. Der im Gesetzesentwurf genannte Betrag i.H.v. 10.000€ stellt hierbei eine Orientierungshilfe dar, von dem unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nach oben oder nach unten abgewichen werden kann.

Dass das Berufungsgericht die finanzielle Abhängigkeit der Klägerin von ihrem Vater für die Bemessung als nicht relevant angesehen hat, ist auch nicht rechtsfehlerhaft. Es ist zwar umstritten, ob die wirtschaftlichen Verhältnisse des Hinterbliebenen zu berücksichtigen sind, der Senat entscheidet jedoch, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse nur dann zu berücksichtigen sind, wenn sie sich auf die seelische Verfassung prägend ausgewirkt haben. Dies ergibt sich aus dem Zweck des Hinterbliebenengeldes, einen Ausgleich für seelische (immaterielle) Nachteile zu bieten, die durch den Tod des Nahestehenden eintreten und der Genugtuungsfunktion: Der Schädiger schuldet dem Hinterbliebenen für die Herbeiführung des Todes des Nahestehenden Genugtuung.

Daher sind die Intensität und Dauer des erlittenen seelischen Leids und der Grad des Verschuldens des Schädigers maßgebliche Kriterien für die Bemessung. Rückschlüsse auf die Intensität des seelischen Leids lassen sich aus der Art des Näheverhältnisses, der Bedeutung des Verstorbenen für den Anspruchsteller und der Qualität der tatsächlich gelebten Beziehung ziehen.

Daher musste das Berufungsgericht die finanzielle Abhängigkeit der Klägerin von ihrem Vater bei der Bemessung nicht berücksichtigen. Dass sich dies auf die seelische Verfassung prägend ausgewirkt hat, ist nicht vorgetragen worden. Die entgangenen Unterhaltsansprüche stellen einen materiellen Schaden dar, der nach § 844 Abs. 2 BGB auszugleichen ist.

Auch nicht zu berücksichtigen war, dass die Beklagte zu 1 ihre strafrechtliche Verantwortung für den Tod des Vaters der Klägerin bestritt. Hieraus lässt sich schon kein Rückschluss auf die Intensität des seelischen Leids ziehen. Davon abgesehen muss sich der Beschuldigte nicht strafrechtlich selbst belasten.

 

Rechtsfehlerhaft ist es allerdings, dass das Berufungsgericht angenommen hat, die Auswirkungen des Todes ihres Vaters auf den autistischen Bruder der Klägerin und die damit einhergehenden Beeinträchtigungen seien ebenfalls nicht relevant. Die Klägerin hat vorgetragen, ihr Vater sei der Mittelpunkt der Familie und die maßgebliche Respekts- und Bezugsperson für ihren Bruder gewesen. Sie habe nach dem Tod ihres Vaters neben dem Studium in erheblichen Umfang ihren Bruder mit betreuen müssen, der aufgrund des Todes des Vaters massive Verhaltensauffälligkeiten zeige und sich gegenüber der Klägerin und ihrer Mutter aufbrausend und gewaltsam verhalte. Daher sei sie täglich mit dem Tod ihres Vaters und der veränderten Lebenssituation konfrontiert. Der andauernde seelische Schmerz sei nahezu unerträglich. Hiervon ist mangels abweichender Feststellungen im Revisionsverfahren auszugehen.

Die Klägerin legte die Umstände, die bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes zu berücksichtigen sind schlüssig dar: Durch den Tod ihres Vaters ist die Klägerin in besonderer Art und Weise belastet, was die Intensität und Dauer ihres seelischen Leids mitprägt.

Dass das Berufungsgericht bei dieser Berücksichtigung ein höheres Hinterbliebenengeld zugesprochen hätte, ist nicht ausgeschlossen. 

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