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Hinterbliebenengeld & Schockschaden: Rechtsprechungsänderung, Bemessung, Parallelität

BGH, Urteile vom 6.12.2022, Az.: VI ZR 23/71 & VI ZR 168/21 (i.V.m. Urteil vom 8.2.2022 Az.: VI ZR 3/21)

 

Leitsätze

1. Bei sogenannten „Schockschäden‟ stellt – wie im Falle einer unmittelbaren Beeinträchtigung – eine psychische Störung von Krankheitswert eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB dar, auch wenn sie beim Geschädigten mittelbar durch die Verletzung eines Rechtsgutes bei einem Dritten verursacht wurde. Ist die psychische Beeinträchtigung pathologisch fassbar, hat sie also Krankheitswert, ist für die Bejahung einer Gesundheitsverletzung nicht erforderlich, dass die Störung über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind (BGH, 6.12.2022, Az.: VI ZR 168/21).

2. Der in dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD genannte Betrag in Höhe von 10.000 € (BT-Drucks. 18/11397, S. 11) bietet eine Orientierungshilfe für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung, von der im Einzelfall sowohl nach unten als auch nach oben abgewichen werden kann. Er stellt keine Obergrenze dar. Die Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld diente dem Zweck, den Hinterbliebenen für immaterielle Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle einer Gesundheitsverletzung einen Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld einzuräumen. Der dem Hinterbliebenen im Einzelfall zuerkannte Betrag muss deshalb im Regelfall hinter demjenigen zurückbleiben, der ihm zustände, wenn das von ihm erlittene seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte (BGH, 6.12.2022, Az.: VI ZR 73/21).

 

Entscheidung

Mit seinen Urteilen vom 6.12.2022 mit Az.: VI ZR 23/71 & VI ZR 168/21 nimmt der BGH relevante Klarstellungen zur Bemessung und Unterscheidung zwischen Schockschadenschmerzensgeld und Hinterbliebenengeld vor. Er ändert seine bisherige Rechtsprechung zu den Anforderungen an einen Schockschaden:

Mit Urteil vom 8.2.2022 (Az.: VI ZR 3/21) hatte der BGH bereits verdeutlicht, dass Ersatzansprüche wegen eines Schockschadens und ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld nebeneinander bestehen können. Wenn sowohl die Voraussetzungen auf Ersatz eines Schockschadens als auch die Voraussetzungen nach § 844 Abs. 3 BGB vorliegen, geht der Anspruch auf Ersatz des Schockschadens dem Anspruch auf Hinterbliebenengeld allerdings vor bzw. letztgenannter in erstgenanntem auf (vgl. auch BT-Drs. 18/11397, S. 12). Beiden Instituten kann somit eine eigenständige Bedeutung zukommen, soweit die Voraussetzungen nur einer der beiden Anspruchsgrundlagen erfüllt sind. Die Möglichkeit divergierender Ergebnisse wird grundsätzlich akzeptiert, dürfte sich jedoch in Ansehung der im folgenden dargestellten Rechtsprechungsänderung praktisch kaum noch denken lassen:Eine psychische Beeinträchtigung konnte bisher nur dann als Schockschaden und somit als eine erforderliche und im Gegensatz dazu bei § 844 Abs. 3 BGB nicht notwendige Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB angesehen werden, wenn sie pathologisch fassbar war und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausging, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt werden. Übliche seelische Erschütterungen wie Trauer oder seelischer Schmerz, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind, stellten daher selbst dann nicht ohne weiteres eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB dar, wenn sie von Störungen der physiologischen Abläufe begleitet wurden und für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevant waren (BGH, 21.5.2019 Az.: ZR 299/17). In diesen Fällen war nur der Weg zum Hinterbliebenengeldanspruch möglich.

Mit Urteil vom 6.12.2022 unter dem Az.: VI ZR 168/21 gibt der BGH diese Rechtsprechung bzw. Unterscheidung auf: Nunmehr ist eine psychische Störung schon dann eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB und damit Schockschaden, wenn sie bloß pathologisch fassbar ist und Krankheitswert hat. Nicht mehr erforderlich ist, dass die Störung zudem über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen muss, denen Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind. Somit kann nun auch die übliche Trauerreaktion schmerzensgeldbegründend sein, wenn sie quasi eine Krankschreibung rechtfertigt. Ein nach diesen Prämissen bejahter Schockschaden umfasst dann in der Regel – bei persönlichem Näheverhältnis – immer auch einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld. Eine vom BGH erkannten Ausuferung der Haftung, welche durch die ursprüngliche Unterscheidung vermieden werden sollte, könne stattdessen über die Merkmale der Kausalität und insbesondere des Zurechnungszusammenhanges begegnet werden.

Anmerkung: Ob dies tatsächlich zu der vom BGH postulierten dogmatischen Klarheit und Vermeidung von Wertungswidersprüchen führt, darf bezweifelt werden. Die Rechtsprechungsänderung ist doch wohl eher geschädigten- als praxis- und regulierungsfreundlich. Denn nun wird man regelmäßig etwa die Diskussion führen müssen, ob unter dem Gesichtspunkt des Zurechnungszusammenhanges eine diesen ausschließende Überreaktion oder ein krasses Missverhältnis gegeben ist. Hinterbliebenengeld und Schockschaden werden praktisch gleichgeschaltet, auch wenn der BGH in allen Urteilen herausstellt, dass es grundsätzlich verschiedene Rechtsinstitute seien.

Unter dem Az.: VI ZR 73/21 macht der BGH parallel Ausführung zur Höhe des Hinterbliebenengeldes. Zwar seien beide Ansprüche weiterhin zu unterscheiden, jedoch akzeptiert er die im Gesetzentwurf zum Schockschaden genannte Betrag in Höhe von 10.000 € (BT-Drucks. 18/11397, S. 11) auch als Orientierungshilfe für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung, von der im Einzelfall sowohl nach unten als auch nach oben abgewichen werden könne. 10.000 € sind somit zukünftig der höchstrichterlich anerkannte Richtwert, der weder Unter- noch Obergrenze sein muss – je nach den Umständen des Einzelfalles. Ist nur ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, jedoch nicht gleichzeitig wegen eines Schockschadens gegeben, etwa dann, wenn nicht mehr als eine übliche Trauerreaktion vorliegt, die noch keinen eigenständigen Krankheitswert hat, müsse der dem Hinterbliebenen im Einzelfall zuerkannte Betrag im Regelfall hinter demjenigen zurückbleiben, der ihm zustände, wenn das von ihm erlittene seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte. Die Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld diene schließlich dem Zweck, den Hinterbliebenen für immaterielle Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle einer Gesundheitsverletzung einen Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld einzuräumen.

Anmerkung: Da nunmehr jedoch die übliche Trauer für einen Schockschaden genügt, sofern ihr Krankheitswert zugesprochen wird, was von Seiten der Ärzte regelmäßig der fall sein dürfte, wird das vom BGH anerkannte „Weniger“ an Entschädigung beim Hinterbliebenengeld praktisch kaum eine Rolle spielen – in der Regel dürfte bereits ein Schockschaden vorliegen, nach dessen Höhe sich der (Gesamt-)Anspruch richtet – s. oben.

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