Schützt die ununterbrochene Mittelleitlinie den einbiegenden Verkehr?

OLG München, Urteil vom 15.3.2019 — Aktenzeichen: 10 U 2655/18

Mit dieser Frage hat sich das OLG München beschäftigt und vertritt die Auffassung, dass auch, wenn sich das Vorfahrtsrecht bekanntlich auf die gesamte Fahrbahnbreite und das Einmündungsviereck erstreckt, sich der Schutzbereich einer ununterbrochenen Mitteilleitlinie (Zeichen 295) auch auf den aus der untergeordneten Straße einbiegenden Verkehrsteilnehmer erstreckt.

Sachverhalt
Im Rahmen der alltäglichen Situation eines Rückstaus vor einem Kreuzungsbereich fährt die Klägerin mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h unter teilweisem Überfahren der durchgezogenen Mittelleitlinie und einer Sperrfläche an dem Rückstau vorbei in den Einmündungs- und Kreuzungsbereich ein. Zeitgleich biegt die beklagte Fahrzeugführerin nach rechts in die bevorrechtigte Straße ein und kollidiert auf „ihrer“ Fahrspur mit dem klägerischen Fahrzeug.

Entscheidung
Im Rahmen der Abwägung der Verursachungsbeiträge ist zu Lasten der Beklagten selbstverständlich ein Vorfahrtsverstoß zu berücksichtigen, da das klägerische Fahrzeug im Zeitpunkt des Anfahrentschlusses erkennbar gewesen ist und unabhängig von der Fahrbahnmarkierung sich das Vorfahrtsrecht auf die gesamte Fahrbahnbreite erstreckt.

Um die Frage einer Mitverantwortung der Klägerin zu beantworten ist zunächst zu klären, welche Wirkung die ununterbrochene Mittelleitlinie entfaltet. Grundsätzlich dient Zeichen 295, wenn die Markierung die Fahrbahnhälften einer Straße trennt, zur Abgrenzung des für den Gegenverkehr vorgesehenen Fahrbahnteils. Daher schützt Zeichen 295 in erster Linie den Gegen- und nicht den einbiegenden Verkehr.

Allerdings sollen, so der Senat weiter, durch die Vorschriften der StVO die Gefahren des Straßenverkehrs abgewendet und Unfälle vermieden werden. Daher rückt bei Nichteinhaltung der Regeln die Gefahr eines Unfalls in den Bereich des Möglichen, weshalb ein unfallkausaler Verstoß bei der Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge grundsätzlich zu berücksichtigen sei. Dies soll unabhängig davon gelten, ob der andere Unfallverursacher in den Schutzbereich der Vorschrift einbezogen sei.

Unter Berücksichtigung der geringen Einbiegegeschwindigkeit des beklagten Fahrzeugs und der in der konkreten Situation deutlich überhöhten Geschwindigkeit der Klägerin sei eine Schadenteilung angemessen. Eine überwiegende Haftung der Klägerin komme nur auf Grund des Umstandes, dass ein Motorradfahrer an dem Rückstau ohne ein Überfahren der Mittelleitlinie hätte vorbeifahren können, nicht in Betracht.

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