Gemeinsame Betriebsstätte: Entladen eines Lkw

OLG Hamm, Urteil vom 10.5.2016 — Aktenzeichen: 9 U 53/15

Leitsatz
1. Dass der Beklagte zu 2) — Arbeitnehmer der Beklagten zu 1) -, der hätte bemerken müssen, dass sich der Geschädigte entgegen seiner Erwartung nicht aus dem Gefahrenbereich bewegt hat, jeweils 718 kg schwere und übereinander gestapelte Kisten direkt neben dem Geschädigten und somit quasi über seinen Kopf hin mit einem Gabelstapler hochgehoben hat, kann nur als äußerst riskant und nahezu leichtsinniges Verhalten bewertet werden.

2. Die strengen Voraussetzungen, die der BGH an die Annahme einer gemeinsamen Betriebsstätte (§§ 106 Abs. 3, 104 SGB VII) der Tätigen verschiedener Unternehmen stellt (vgl. BGH, Urteil vom 16. Dezember 2003, VI ZR 103/03), sind nicht erfüllt, wenn Mitarbeiter einer Spedition die Ladung entsichern und sodann das andere Unternehmen mit der Entladung beginnt, an der sich der jeweilige LKW-Fahrer der Spedition nicht beteiligt. Bei den jeweiligen Tätigkeiten handelt es sich um parallele Tätigkeiten in räumlicher Nähe, die gerade keine Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte darstellen.

3. Gegen die Beklagte zu 1) hat der Geschädigte einen Schadenersatzanspruch aus einem Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter, hier aus dem zwischen der Spedition und der Beklagten zu 1) bestehenden Werk- oder Frachtvertrag, da die schutzbedürftigen LKW-Fahrer der Spedition (und so auch der Geschädigte) bestimmungsgemäß mit der Hauptleistung, nämlich der Durchführung der drei- bis viermal täglich stattfindenden Umfuhren zwischen Produktionsstätte und Logistikzentrum in Berührung kamen, sie sich aufgrund des Entladungsvorgangs in der Logistikhalle der Beklagten zu 1) aufhalten mussten, die Spedition ein schutzwürdiges Interesse an der Einbeziehung ihrer LKW-Fahrer in die aus dem Vertrag entspringenden Sorgfalts- und Schutzpflichten hatte, und der Beklagten zu 1) bei Vertragsabschluss die Einbeziehung der Arbeitnehmer der Spedition in den Schutzbereich des Vertrages erkennbar und zumutbar war.

Sachverhalt
Die Klägerin als gesetzliche Unfallversicherung nimmt die Beklagten aus einem Arbeitsunfall in Anspruch, der sich auf dem Betriebsgelände der Beklagten zu 1) in P ereignete. Der Geschädigte absolvierte im Rahmen einer Umschulungsmaßnahme zum Berufskraftfahrer im Güterverkehr ein Praktikum bei der Spedition E. Diese stand in einer längeren Geschäftsbeziehung zur Beklagten zu 1), bei der es sich um einen Zuliefererbetrieb der Kraftfahrzeugbranche handelt. Die Beklagte zu 1) stellt Metallprofile her, die sodann zu ihrem 1,6 km entfernten Logistikzentrum in der Z-Straße in P transportiert werden müssen. Die Spedition E war damit beauftragt, die drei- bis viermal täglich anfallenden sogenannten Umfuhren zwischen Werk und Logistikzentrum mit ihren Lastkraftwagen (LKW) durchzuführen. Dabei hat sich die Übung ergeben, dass die Entnahme der Boxen mittels Gabelstaplers schon beginnt, bevor sämtliche Felder des Lkw durch den Fahrer entsichert sind, wobei allerdings auf einen ausreichenden Sicherheitsabstand zwischen Gabelstapler und Lkw-Fahrer geachtet werden sollte.

Am Unfalltag hatte der Geschädigte eine Fuhre durchgeführt, seinen Lkw rückwärts in die Logistikhalle der Beklagten zu 1) rangiert und die Bretter des ersten Feldes am Heck des Aufliegers entfernt. Er war noch damit beschäftigt, das mittlere Feld von Querbrettern zu befreien, wobei er sich zur Entfernung der oberen Bretter einer Stange bediente, als der Beklagte zu 2) mit dem Gabelstapler begann, die ersten beiden Kisten aus dem Lkw zu heben. Als er die Gabeln unter die Kisten durchgeschoben, diese angehoben und mit dem Gabelstapler zurückgesetzt hatte, begann die obere Kiste zu wackeln und stürzte links auf den Geschädigten, der hierbei schwer verletzt wurde.

Entscheidung
Der Beklagte zu 2) hat die Verletzungen des Geschädigten jedenfalls fahrlässig herbeigeführt, indem er, ohne einen ausreichenden Sicherheitsabstand zum Geschädigten einzuhalten, mit der Entladung der schweren Gitterboxen begann, obgleich ihm die Gefahrträchtigkeit dieses Tuns bekannt und bewusst sein musste — grobes Verschulden.

Die strengen Voraussetzungen, die der BGH an die Annahme einer gemeinsamen Betriebsstätte der Tätigen verschiedener Unternehmen stellt, sind entgegen der Auffassung des Landgerichts hier nicht erfüllt. Insbesondere trifft die Annahme des Landgerichts nicht zu, dass der Geschädigte zusammen mit dem Beklagten zu 2) Hand in Hand bei der Entladung des Lkw unter gegenseitiger Verständigung gearbeitet hat. Vielmehr war es üblicherweise und auch am Unfalltage so, dass die Mitarbeiter der Spedition die Ladung entsichert und sodann Mitarbeiter der Beklagten zu 1) mit der Entladung begonnen haben. Es fand also keine gemeinsame Entladung statt, sondern vielmehr hat der jeweilige Lkw-Fahrer lediglich durch Entsicherung der Entladung von dem eigentlichen Entladevorgang völlig unabhängige Vorbereitungshandlungen ausgeführt und am Entladevorgang selbst nicht teilgenommen.

Daran ändert es nichts, dass die Mitarbeiter der Beklagten zu 1), so auch der Beklagte zu 2), üblicherweise nicht abwarteten, bis die Entsicherung der Ladung beendet gewesen war und sich der Lkw-Fahrer vollständig aus dem Gefahrenbereich begeben hatte. Auch diese offenbar über einen langen Zeitraum hin gepflogene Übung erforderte kein Ineinandergreifen der Tätigkeiten der Beteiligten oder gar eine gegenseitige Verständigung. Vielmehr musste lediglich der mit der Entladung betraute Mitarbeiter, welcher den Gabelstapler führte, beobachten, wie weit der Entsicherungsvorgang des Lkw-Fahrers gediehen war und ob sich dieser in einem als ausreichend zu erachtenden Abstand vom ersten entsicherten Feld des Aufliegers befand. Umgekehrt musste auch der jeweilige Lkw-Fahrer, so auch der Geschädigte, keineswegs eine Verständigung mit den Mitarbeitern der Beklagten zu 1) herbeiführen, sondern durfte sich darauf verlassen, dass diese sein Tun beobachteten und mit der Entladung abwarteten, bis diese — nach Meinung der Beteiligten — gefahrlos möglich war. Angesichts dessen stellten sich die Aktivitäten des Geschädigten und des Beklagten zu 2) als lediglich parallele Tätigkeiten in räumlicher Nähe dar, die gerade keine Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte darstellen (vgl. BGH, Urteil vom 30. April 2013, VI ZR 155/12; Senat, Urteil vom 27.11.2012, I-9 U 132/12).

Zwar kann die notwendige Arbeitsverknüpfung im Einzelfall auch dann bestehen, wenn die von den Beschäftigten verschiedener Unternehmen vorzunehmenden Maßnahmen sich nicht sachlich ergänzen und unterstützen, die gleichzeitige Ausführung der betreffenden Arbeiten wegen der räumlichen Nähe aber eine Verständigung über einen Arbeitsablauf erforderlich macht. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn ein zeitliches und örtliches Nebeneinander dieser Tätigkeiten nur bei Einhaltung von besonderen beiderseitigen Vorsichtsmaßnahmen möglich ist und die Beteiligten solche vereinbaren. Auch dies war hier nach Auffassung des Senats jedoch nicht der Fall. Denn wären die einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften, namentlich § 16 BGV 27, eingehalten worden, so hätte sich der Geschädigte gerade nicht im unmittelbaren Gefahrenbereich des Gabelstaplers befinden dürfen, so dass eine entsprechende Verständigung nicht notwendig gewesen wäre. Der Umstand, dass entgegen den Unfallverhütungsvorschriften parallel gearbeitet wurde, ohne dass die Arbeiten jedoch ineinander griffen und eine Verständigung erforderlich machten, begründet keine gemeinsame Betriebsstätte.

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