BGH: Kein Angehörigenprivileg bei § 110 SGB VII

Bundesgerichtshof, Beschluss 16.08.2016, VI ZR 497/15

Die Frage, ob das Angehörigenprivileg nach § 116 SGB X auch gegenüber Ansprüchen nach § 110 SGB VII greift, war streitig. Der BGH hat nun entschieden — es gilt nicht.

Leitsatz
Bei Aufwendungsersatzansprüchen aus § 110 SGB VII ist das Familienprivileg des § 116 Abs. 6 SGB VII nicht entsprechend anwendbar.

Sachverhalt
Der 8 Jahre alte Sohn des Beklagten begleitete seinen Vater, einem Winzer, als dieser mit einem kleinen Gabelstapler Gegenstände zu der wenige hundert Meter entfernten Brennerei transportierte. Beim Abladen half der Sohn mit. Auf der Rückfahrt gestattete der Beklagten seinem Sohn, auf einem der Gabelstaplerzinken mitzufahren. Während der Fahrt rutschte der Sohn ab und geriet unter den Stapler. Dabei wurde er erheblich verletzt.

Entscheidung
Der Vater wurde nun wegen grob fahrlässiger Herbeiführung des Unfalls nach § 110 SGB VII von der zuständigen Berufsgenossenschaft auf Ersatz der unfallbedingten Aufwendungen in Anspruch genommen. Die Parteien stritten u.a. um die Frage, ob das Familienprivileg des § 116 Abs. 6 SGB X auch beim Regress nach § 110 SGB VII gilt.

Der BGH hat dies verneint. Eine analoge Anwendung des § 116 Abs. 6 SGB X scheide aus, es fehle an einer planwidrigen Lücke; denn § 110 Abs. 2 SGB VII sehe ausdrücklich vor, dass der Sozialversicherungsträger nach billigem Ermessen auf den Ersatzanspruch verzichten könne. Wie ihre Vorgängerbestimmung in § 640 RVO gebe es doch eine Regelung über den Ausschluss des Rückgriffsrechts, die auch im Fall des häuslichen Zusammenlebens von Schädiger und Verletzten greife.

Damit ist nun klargestellt, dass das Angehörigenprivileg bei § 110 SGB VII keine Anwendung findet. Vielmehr muss ein Sozialversicherungsträger im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens überlegen, ob der Familienangehörige in Anspruch genommen werden soll.

Es sei Sache des Gesetzgebers, dies ggf. zu ändern — so der BGH.

Anmerkung
Egal, ob man die Entscheidung des BGH für richtig und überzeugend hält, führt diese Rechtsprechung zu unbilligen Ergebnissen. Ob in Schadensfällen das Familienprivileg gilt oder nicht, hängt nun (häufig zufällig) davon ab, ob ein Arbeitsunfall (oder Betriebswegeunfall anstatt eines einfachen Wegeunfalls) vorliegt oder nicht. Nur bei Arbeitsunfällen und Betriebswegeunfällen greift nämlich das Haftungsprivileg des SGB VII. Das Familien- oder Angehörigenprivileg ist Ausdruck einer allgemeinen Wertung, wonach einem Sozialversicherungsträger der Regress gegen Familienangehörigen verwehrt werden soll, um den Familienfrieden nicht zu gefährden. Dies kann bei § 110 SGB VII nicht haltmachen. Die Korrekturmöglichkeit des § 110 Abs. 2 SGB VII erscheint insoweit nicht ausreichend, weil ein Prozess gegen das (ggf. haftpflichtversicherte) Familienmitglied nicht vermieden wird. Es klagt dann der Unfallversicherungsträger z.B. gegen den Vater des verunfallten Sohnes, weil der Vater den Unfall grob fahrlässig herbeigeführt hat. Dies wird den Familienfrieden per se gefährden.

Besonders prekär: Im vorliegenden Fall hatte der Vater sich zunächst dafür eingesetzt, dass sein schwer verletzter Sohn Leistungen der Unfallversicherung erhält, was voraussetzte, dass der 8-jährige Sohn im Rahmen seiner Mithilfe wie ein Beschäftigter tätig war. Nachdem der Vater für seinen Sohn dies erreicht hatte (Leistungen der Unfallversicherung sind im Allgemeinen besser als Leistungen der Krankenversicherung), nahm die Unfallversicherung Regress beim Vater. Wäre der Unfall nicht als Arbeitsunfall angesehen worden, wäre die Krankenversicherung leistungspflichtig gewesen, ohne regressieren zu können. Denn dort hätte das Familienprivileg gegolten.

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