Der medizinische Eingriff hat keine Opfer
LSG Bayern, Urteil vom 21.7.2016 — Aktenzeichen: L 15 VG 31/14
Sachverhalt
Eine Chromosomenanalyse bei der Klägerin ergab einen männlichen Chromosomensatz. Im Alter von 16 Jahren wurden bei ihr eine fehlende Gebärmutter und eine nur teilweise angelegte Scheide festgestellt. 1979 erfolgte eine Scheidenplastik.
Vor der Operation erfolgte allerdings keine Aufklärung der Klägerin über den festgestellten Chromosomensatz, was die behandelnden Ärzte in einem Arztbericht damit begründeten, dass sie die Klägerin nicht beunruhigen wollten.
Die Klägerin behauptete, sie hätte in die damalige Operation nicht eingewilligt, wenn ihr das Ergebnis der Untersuchung unterbreitet worden wäre; sie sei um große Bereiche ihres menschlichen Seins vorsätzlich betrogen worden. Aus diesem Grund machte sie wegen einer vorsätzlichen Verletzung Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) geltend. Ihre Ansprüche wurden jedoch auch – im Widerspruchsverfahren – zurückgewiesen. Die Klage vor dem Sozialgericht Nürnberg wurde abgewiesen.
Entscheidung
Das LSG hat diese Entscheidung bestätigt und auch die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.
Die Verletzungshandlung im OEG ist eigenständig und ohne Bezugnahme auf das StGB geregelt ist. Der tätliche Angriff im Sinne des § 1 OEG wird durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person geprägt, bei der eine körperliche Einwirkung auf einen anderen stattfindet. Ein aggressives Verhalten des Täters wird nicht vorausgesetzt. Nach Auffassung des LSG (in Einklang mit der bisherigen BSG-Rechtsprechung) ist Grundvoraussetzung für die Wertung eines ärztlichen Eingriffs als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff eine nach dem StGB strafbare vorsätzliche Körperverletzung.
Auch wenn jeder ärztliche Eingriff den Tatbestand einer (vorsätzlichen) Körperverletzung im Sinne von § 223 Abs. 1 StGB erfüllt, ist aber zu berücksichtigen, dass ärztliche Eingriffe – wie die gesamte Tätigkeit des Arztes – von einem Heilauftrag bestimmt werden. Für diese Konstellation bedarf es daher einer Korrektur des Begriffs des „vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs“ dahingehend, dass ein strafbarer ärztlicher Eingriff nur dann als Angriff zu werten ist, wenn aus der Sicht eines verständigen Dritten in keiner Weise dem Wohl des Patienten gedient werden sollte. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sich der Arzt bei seiner Vorgehensweise im Wesentlichen von finanziellen Interessen leiten lässt und die gesundheitlichen Belange des Patienten hintenanstehen lässt.
Im vorliegenden Fall war diese Konstellation nicht gegeben. Die Operation sollte jedenfalls auch dem Wohl der Klägerin dienen. Hierzu hatte das Gericht sogar ein Gutachten eingeholt, welches zu dem Ergebnis kam, dass es — zum damaligen Zeitpunkt — an sich dem medizinischen Standard entsprach, die Klägerin feminisierend zu behandeln.