Behauptete Schmerzen und Übelkeit als zum Schadensersatz berechtigende Körperverletzung?
BGH, Urteil vom 26.07.2022, Az.: VI ZR 58/21
Leitsätze
1. Der Begriff der Primärverletzung bezeichnet die für die Erfüllung der Haftungstatbestände des § 823 Abs. 1 BGB und des § 7 Abs. 1 StVG erforderliche Rechtsgutsverletzung. Er enthält kein kausalitätsbezogenes Element.
2. Von den Primärverletzungen sind Sekundärverletzungen abzugrenzen. Bei ihnen handelt es sich um die auf eine haftungsbegründende Rechtsgutsverletzung zurückzuführenden haftungsausfüllenden Folgeschäden. Sie setzen schon begrifflich voraus, dass der Haftungsgrund feststeht.
3. Vom Geschädigten können daher Beeinträchtigungen seiner körperlichen Befindlichkeit nur dann als Sekundärverletzungen qualifiziert werden, wenn eine durch das Handeln des Schädigers verursachte Primärverletzung unstreitig oder festgestellt und nach medizinischen Erkenntnissen grundsätzlich geeignet ist, die weitere behauptete Beeinträchtigung der körperlichen Befindlichkeit herbeizuführen. Fehlt es an einer haftungsbegründenden Primärverletzung oder steht diese in keinem erkennbaren medizinischen Zusammenhang zu der weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigung, ist letztere (also die behauptet Sekundärverletzung) als – ggf. zweite bzw. weitere – Primärverletzung anzusehen.
Sachverhalt
Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Zahlung von Schmerzensgeld aufgrund eines Verkehrsunfalls in Anspruch. Der Beklagte sei ihr von hinten auf das wegen eines Rückstaus an einer Kreuzung stehende Fahrzeug, in dem diese als Fahrerin saß, aufgefahren. Durch den Anstoß wurden unter anderem der Stoßfänger am PKW der Klägerin hinten durchstoßen und die Schalldämpferanlage aus der Halterung gerissen. Die Airbags im Fahrzeug der Klägerin öffneten sich nicht. Bis zu diesem Tag war die Klägerin noch nicht bei einem Unfall verletzt worden. Eine Freundin von ihr war indes bei einem Verkehrsunfall verstorben. Darüber hinaus war die Klägerin Ersthelferin bei einem Verkehrsunfall gewesen, bei dem zwei Menschen verstorben. Die Klägerin behauptet, sie sei bei dem Unfall körperlich verletzt worden. Unmittelbar nach dem Unfall habe sie unter Kopfschmerzen gelitten. Später am Abend sei ihr übel geworden und sie habe sich übergeben. Sie habe sich daraufhin in das Evangelische Krankenhaus B. begeben, wo sie geröntgt worden sei. Im Anschluss sei eine HWS-Distorsion 2. Grades diagnostiziert worden.
Entscheidung
Nach Auffassung des Berufungsgerichts stand der Klägerin ein Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten nicht zu. Zwar stand zur Überzeugung der Kammer fest, dass bei der Klägerin nach dem Unfall Beschwerden und sichtbare Befunde vorgelegen hätten, die die Diagnose einer HWS-Distorsion 2. Grades rechtfertigten, und die Klägerin unter Kopf- und Nackenschmerzen gelitten habe. Die Kammer hatte aber Zweifel daran, dass die die Diagnose einer HWS-Distorsion rechtfertigenden sichtbaren Befunde bei der Klägerin eine Primärverletzung, verursacht durch einen Verkehrsunfall mit einer allein bewiesenen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsveränderung von 4 km/h und einer kollisionsbedingten mittleren Beschleunigung von etwa 11 m/s² darstellten. Auch eine andere unfallbedingte Primärverletzung der Klägerin konnte die Kammer nicht feststellen. Die Auffassung des Bundesgerichtshofs im Urteil vom 23. Juni 2020 (VI ZR 435/19), wonach auch starke Kopf- und Nackenschmerzen als unfallbedingte Körperverletzungen zu bewerten seien, halte die Kammer nicht für überzeugend. Abgesehen davon seien die Kopf- und Nackenschmerzen der Klägerin zwar im Sinne einer conditio-sine-qua-non nachvollziehbar auf den Unfall zurückzuführen, könnten jedoch wertungsmäßig nicht mehr dem Unfall, sondern nur dem allgemeinen Lebensrisiko zugerechnet werden. Wichtig ist zu, dass die somit grds. vom OLG bejahte adäquate Kausalität des Unfalls für die behaupteten Schmerzen etc. von der Revision nicht angegriffen wurde.
Dem widerspricht nun der BGH: Zum einen habe das Berufungsgericht den Bedeutungsgehalt des Begriffs der Primärverletzung verkannt. Der Begriff der Primärverletzung – der Rechtsgutsverletzung – beinhalte zunächst kein kausalitätsbezogenes Element – er nehme insbesondere nicht die weitere Anspruchsvoraussetzung der haftungsbegründenden Kausalität in sich auf. Ob das Handeln des Schädigers die festgestellte Rechtsgutsverletzung verursacht habe, sei erst in einem weiteren Schritt – ebenfalls nach dem strengen Beweismaß des § 286 ZPO – zu prüfen. Somit können auch Nacken- und Kopfschmerzen eine Körperverletzung im Sinne dieser Bestimmungen und damit eine Primärverletzung begründen (unabhängig von der Kausalitätsfrage). Da eine Schadensersatzpflicht nur besteht, wenn die geltend gemachte Rechtsgutsverletzung nach Art und Entstehungsweise unter den Schutzzweck der verletzten Norm fällt, muss die Rechtsgutsverletzung in einem inneren Zusammenhang mit der durch den Schädiger geschaffenen Gefahrenlage stehen; ein rein äußerlicher, gewissermaßen zufälliger Zusammenhang genügt nicht. An dem erforderlichen Schutzzweckzusammenhang fehlt es in der Regel, wenn sich eine Gefahr realisiert hat, die dem allgemeinen Lebensrisiko und damit dem Risikobereich des Geschädigten zuzurechnen ist. Der Schädiger kann nicht für solche Verletzungen oder Schäden haftbar gemacht werden, die der Betroffene in seinem Leben auch sonst üblicherweise zu gewärtigen hat. Insoweit ist eine wertende Betrachtung geboten. Das Berufungsgericht habe aber übersehen, dass der Schädiger grundsätzlich auch für psychische Auswirkungen einer Verletzungshandlung haftungsrechtlich einzustehen habe, was anschließend vom BGH im Fall der Klägerin bejaht wird.
Anmerkung.
Die Problematik der Entscheidung liegt darin, dass der Eindruck entstehen könnte, behauptete (subjektive) Schmerzen und Übelkeit genügen für einen Schmerzensgeldanspruch nach einem (Verkehrs-)Unfall. Hiervon sind insbesondere HWS-Prozesse betroffen, in denen regelmäßig nur derart unspezifischen Beeinträchtigungen behauptet werden. Tatsächlich sagt der BGH aber nur, was auch nichts Neues ist, dass Schmerzen und Übelkeit grds. eine schadensersatzrelevante Körperverletzung sein können und zwar selbst dann, wenn sie nur psychisch/mittelbar durch ein Unfallereignis vermittelt worden sind. Bei der Frage, ob überhaupt einer Körperverletzung vorliegt, spiele die Frage nach der Kausalität (zunächst noch) keine Rolle. Er sagt aber auch, dass im einem zweiten Schritt anschließend zu prüfen ist, ob die Schmerzen etc. nun kausal-adäquat durch den behaupteten Unfall (ggfls. auch psychisch vermittelt) verursacht wurden. Im konkreten Fall war dies nicht mehr streitig bzw. vom BGH in der Revision zu beachten, weil die Revision versäumt hatte, die vom OLG bejahte adäquate Kausalität des Unfalles anzugreifen. Dies war daher unstreitig und es bedurfte durch den BGH nur eine Bewertung, ob die Schmerzen hier auch wertungsmäßig noch dem Unfall oder nur dem allgemeinen Lebensrisiko zuzurechnen waren.