Anwendung der §§ 104 ff SGB VII bei Auslandsbezug

OLG München, Urteil vom 8.8.2012 — Aktenzeichen: 20 U 1121/12

Leitsatz
Für die Bestimmung des anwendbaren Sozialrechtes ist das koordinierende Sozialrecht der Europäischen Union heranzuziehen, wenn sich zum einen der Unfall in einem Mitgliedstaat der EU ereignet hat, der Kläger als Geschädigter aber einem anderen Mitgliedsstaat der EU angehört. Das zivilrechtliche Haftungsrecht und das Sozialversicherungsrecht können dem Recht verschiedener Mitgliedsstaaten der EU zu entnehmen sein. Die Frage der Haftungsprivilegierung richte sich daher im vorliegenden Streitfall gemäß Art. 85 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 nach österreichischem Sozialrecht.

Sachverhalt
Der Kläger ist Tierpfleger und betreibt einen Wildpark in Österreich. Am 16.09.2009 kaufte er von der Beklagten zu 1), diese vertreten durch den Zeugen K., die einen Wildpark in Bayern. betreibt, einen Wildschweineber, den er auch sogleich bezahlte und sodann mitnehmen sollte. Der Beklagten zu 2) hatte die Aufgabe, das Tier aus dem Gehege zu holen und zu übergeben. Zu diesem Zweck sollte der Eber zunächst in einen Transportanhänger der Beklagten zu 1) verladen und sodann außerhalb des Parkgeländes in den Anhänger des Klägers umgeladen werden. Auf eine Narkotisierung des Tieres wurde verzichtet. Der Eber konnte entkommen. Bei den Einfangversuchen, an denen sich der Kläger beteiligte, wurde der Kläger von dem Eber angegriffen und mehrfach gebissen. Mit Bescheid vom 15.03.2011 erkannte die österreichische Sozialversicherungsanstalt der B. auf Grund des Unfalls vom 16.09.2011 eine Erwerbsminderung von 35% an und gewährte dem Kläger eine Dauerrente-

Der Kläger verlangt von der Beklagten zu 1) und ihrem Mitarbeiter, dem Beklagten zu 2) gesamtschuldnerisch Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen Verletzungen, die er durch den Angriff eines Wildschweinebers erlitten hat.

Entscheidung
Neben weiteren Gesichtspunkten trugen die Beklagten vor, sie seien haftungsprivilegiert iSv §§ 104 ff. SGB VII.

Das OLG München meint nun, als Tierhalterin treffe die Beklagte zu 1) gemäß § 833 Satz 1 BGB die Gefährdungshaftung für die dem Kläger von dem Eber zugefügten Verletzungen und Schäden. Die Beklagte zu 1) könne auch keine Haftungsprivilegierung nach Sozialrecht für sich in Anspruch nehmen. Für die Bestimmung des anwendbaren Sozialrechtes sei das koordinierende Sozialrecht der Europäischen Union heranzuziehen, da sich zum einen der Unfall in einem Mitgliedstaat der EU ereignet hat, der Kläger als Geschädigter aber einem anderen Mitgliedsstaat der EU angehört. Das zivilrechtliche Haftungsrecht und das Sozialversicherungsrecht können dem Recht verschiedener Mitgliedsstaaten der EU zu entnehmen sein (BGH vom 15.07.2008 — VI ZR 105/07, NJW 2009, 916). Die Frage der Haftungsprivilegierung richte sich daher im vorliegenden Streitfall gemäß Art. 85 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 nach österreichischem Sozialrecht. Nach dieser Bestimmung gelten für die Frage der Haftungsbefreiung die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, nach denen für den Arbeitsunfall Leistungen zu erbringen sind, dessen Sozialversicherungsträger die Unfallfürsorge also zu gewähren haben und zwar auch dann, wenn das zivilrechtliche Haftungsrecht und das Sozialversicherungsrecht für Arbeitsunfälle dem Recht verschiedener Mitgliedstaaten zu entnehmen sind. So sei es auch im vorliegenden Fall hier, denn aus dem Leistungsbescheid der österreichischen Sozialversicherungsanstalt der Bauern vom 15.03.2011 ergebe sich, dass der Kläger in der österreichischen landwirtschaftlichen Sozialversicherung versichert sei.

Anderes gälte nur, wenn der Kläger den Unfall im Rahmen einer arbeitnehmerähnlichen Tätigkeit, die dem Unternehmen der Beklagten zu 1) zuzurechnen wäre und diesem Unternehmen dienen sollte, erlitten hätte, da für Arbeitnehmer, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen — wie hier der Kläger — allein das Sozialrecht des Mitgliedstaats anzuwenden ist, in dem der Arbeitnehmer abhängig beschäftigt ist, selbst wenn er in einem anderen Mitgliedstaat wohnt (BGH vom 15.07.2008 — VI ZR 105/07, NJW 2009, 916). Nur unter diesen Voraussetzungen käme deutsches Sozialrecht zur Anwendung und damit die Haftungsprivilegierung der §§ 104 ff. SGB VII. Dies sei hier aber nicht der Fall (wird ausgeführt).

Der Kläger habe gegen den Beklagten zu 2) auch keine Schadensersatzansprüche aus § 834 BGB, da der Beklagte zu 2) zum Zeitpunkt des Unfalls kein Tieraufseher iSd Gesetzes gewesen sei. Mögliche Ansprüche aus §§ 823, 831 BGB prüft das OLG nicht.

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