Verkehrssicherungspflicht eines Baugerüstes und Mitverschulden des Nutzers
Saarländisches OLG, Urt. v. 07.07.2021 – 1 U 31/20
Leitsätze (amtlich)
- Macht der Kläger sich widersprechenden Vortrag des Beklagten zur Entstehungsursache eines Unfallgeschehens in prozessual zulässiger Weise hilfsweise zur Begründung seiner Klageansprüche zu eigen, kann der Beklagte nach den Grundsätzen der Gleichwertigkeit Parteivorbringens (äquipollentes Parteivorbringen) auf der Grundlage seines eigenen Vortrags ohne Bindung des Tatgerichts an die vom Kläger gewählte Rechtsfolge verurteilt werden.
- Verletzt der für die Freigabe des Arbeitsgerüsts zuständige Gerüstbauer seine Verkehrssicherungspflichten, weil an einem für Bauarbeiten errichteten Arbeitsgerüst eine Gerüststange entgegen der im Gerüstbauwerk anerkannten Regel der Technik nicht mit einer sogenannten kraftschlüssigen Verbindung, sondern nur mittels Spanngurten an den Querverstrebungen befestigt und das Gerüst in diesem Zustand von dem Gerüstbauer freigegeben wird, so kann ihm nach den Umständen des Einzelfalls ein Unfallgeschehen zurechenbar sein, das sich deswegen ereignete, weil auf der Baustelle tätige Arbeiter das Gerüst nachträglich im Vergleich zum Freigabezustand veränderten, indem sie zum Zwecke des schnelleren Materialtransports die nur mit Spanngurten gesicherte Stange zunächst aushängten und sodann fehlerhaft unter einer Querstange wieder remontierten, sodass sie nunmehr bei Belastung mit Gewicht von oben nach unten abrutschen konnte.
- Den geschädigten Zimmermann, der eine solchermaßen fehlerhaft befestigte Stange zum Zwecke des Absteigens vom Dach auf die Gerüstebene als Abstiegshilfe nutzt und sodann stürzt, weil die Gerüststande infolge der Belastung abrutschte, trifft eine Mitverschuldensquote in Höhe von 50%, weil nach den geltenden Sicherheitsbestimmungen (Unfallverhütungsvorschriften) die Gerüststangen nicht als Auf- oder Abstiegshilfe benutzt werden dürfen.
Sachverhalt
Der Kläger ist Zimmermann macht Schadensersatzansprüche aufgrund eines Arbeitsunfalls geltend. Beim Abstiege vom Dach auf ein von der Beklagten errichtetes Gerüst habe er sich an der zweitobersten Gerüststange festhalten müssen, die jedoch aufgrund der Belastung weggerutscht sei. Er habe das Gleichgewicht verloren und sei auf die Ebene des Gerüsts gestürzt und habe sich Verletzungen an der linken Schulter zugezogen. Die Stange war nur mit einem Spanngurt und nicht mit Gerüstschellen befestigt.
Das Gerüst wurde von der M GbR gestellt und vom Beklagten als Gerüstbaumeister errichtet und freigegeben.
Nachdem das Landgericht der Klage stattgegeben hat, ließ der Beklagte mit der Berufung die Entscheidung überprüfen und stützt seine Berufung insbesondere darauf, dass das Gerüst nach seiner Freigabe durch Dritte worden sei. Zwar sei die streitgegenständliche Stange auch von ihm nur mit Spanngurten befestigt gewesen, jedoch habe diese nicht abrutschen können, da diese oberhalb der Querstange befestigt gewesen sei. Hilfsweise sei dem Beklagten ein Mitverschulden anzurechnen.
Entscheidung
Im Ergebnis hat der Kläger einen Anspruch gegen den beklagten Gerüstbauer, aber nur unter Berücksichtigung eines hälftigen Mitverschuldens.
- Dem Gerüstbauer ist eine Verkehrssicherungspflichtverletzung vorzuwerfen. Denn dieser hat die Stange nur mit Spanngurten und nicht mit einer kraftschlüssigen Verbindung befestigt und das Gerüst sodann zur Nutzung freigegeben.
- Selbst dann, wenn
- der Beklagte zunächst die Gerüststange mit Spanngurten oberhalb der Querstange angebunden habe und
- er das Gerüst in diesem Zustand freigeben habe und
- das Gerüst von Dritten nachträglich in den konkret unfallursächlichen Zustand verändert wurde, indem die Maurer zum Zwecke des schnelleren Transports des Materials die betreffende Stange ausgehängt und sie später wieder unsachgemäß befestigten,
würde der Beklagte hierfür haften. Denn das würde der objektiven Zurechnung der Installation der Stange mit Spanngurten statt einer kraftschlüssigen Verbindung nicht entgegenstehen. Denn dann verwirklicht die Gefahr, die mit der unzulässigen Verwendung von Spanngurten geschaffen wurde. Wäre stattdessen eine kraftschlüssige Verbindung zur Befestigung verwendet worden, dann hätte auch der fachunkundige Dritte diese nicht mit einem Spanngurt unterhalb der Querstange wieder befestigt, sondern es hätte sich ihm aufgedrängt, dass die Stange z.B. in das Geländerkästchen kraftschlüssig ein gehangen werden muss. Wäre die Stange zum Zeitpunkt des Aufstützens des Klägers kraftschlüssig ein gehangen gewesen, wäre es zu dem Unfall gar nicht erst gekommen, da die Stange auch nicht hätte wegrutschen können.
- Der Beklagte handelte auch schuldhaft. Das Verschulden ist auch nicht ausgeschlossen, weil sich dies auf den gesamten haftungsbegründenden Tatbestand, also auch auf die haftungsbegründende Kausalität beziehen muss und für Fahrlässigkeit i.S.d. § 267 BGB die Vorhersehbarkeit der Gefahr gegeben sein muss. Hierfür reicht es jedoch aus, dass der Schädiger die Möglichkeit des Eintritts eines Schadens hätte voraussehen können. Der Beklagte befestigte die Stange bewusst und willentlich mit Spanngurten und gab das Gerüst in diesem Zustand frei, obwohl ihm bewusst war, dass andere Arbeiter regelmäßig Teile des Gerüsts zwecks Materialtransports entfernen und dies der Beklagte auch wusste. Die Möglichkeit eines Schadens, wie vorliegend, war daher für den Beklagten auch vorhersehbar. Er handelte fahrlässig, da er keine Vorkehrungen gegen eine fehlerhafte Remontierung traf und keine kraftschlüssige Verbindung zur Befestigung nutzte.
- Gleichwohl hat der Geschädigte ein Mitverschulden von 50% zu tragen. Allerdings musste der Kläger das Gerüst nicht vor der Benutzung darauf vertieft überprüfen, ob die Bauteile sachgerecht befestigt gewesen sind. Grds. darf man sich auf die Kontrolle des freigebenden Gerüstbauers verlassen. Der Mitverschuldensvorwurf könne deshalb nicht allein damit begründet werden, dass der Geschädigte vor der Benutzung der Stange nicht kontrollierte, wie diese befestigt wurde. Eine einfache Sichtkontrolle ist allerdings abzuverlangen. Hierbei wäre auch zu erkennen gewesen, dass es zwischen der obersten Gerüstebene und dem Dach keine Aufstiegshilfe gab. Und wenn es keine Abstiegshilfe gibt, dass man eine Gerüststange hierfür nutzen. Vielmehr ist dann eine Abstiegshilfe – z. B. Leiter – heranzuholen.
- Nach den Angaben des Sachverständigen sei eine Benutzung der Gerüststangen als Abstiegshilfe zwar üblich, jedoch nicht zulässig. Diese seien für eine solche Gewichtsbelastung nicht vorgesehen. Daher dürfe das Gerüst nur mittels Gehflächen oder Leitern erreicht werden. Der Kläger verstieß dadurch gegen § 10 UVV und wurde mitursächlich für den Unfall.