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„Quotenvorrecht‟ bei Nebentätern

LG Kassel, Urteil vom 08.03.2013 – 5 O 118/12

mit
BGH, Urteil vom 16.06.1959 Az. VI ZR 95/58
BGH, Urteil vom 05.10.2010 – VI ZR 286/09
BGH, Urteil vom 13.12.2005 – VI ZR 68/04
OLG Hamm, Urteil vom 09.07.2019 – 9 U 136/18

Sachverhalt (vereinfacht)

Die Parteien streiten um Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall. Der Kläger fuhr mit seinem PKW auf einem Parkplatz in Richtung Ausfahrt. Die Beklagte zu 1) fuhr mit einem PKW von der einmündenden Straße kommend auf den Parkplatz ein. Die beiden Fahrzeuge kollidierten auf Höhe der Ein- und Ausfahrt. In Fahrtrichtung rechts neben dem klägerischen Fahrzeug befanden sich mehrere Parkplätze. Auf dem äußersten Parkplatz neben der Ein- und Ausfahrt parkte ein bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversicherter Mercedes Sprinter außerhalb der vorgesehenen Parkplatzmarkierungen. Dieses Fahrzeug verdeckte die Sicht des Klägers und der Beklagten zu 1).

Der Einfachheit halber: Streitgegenständlich sei nur die Kostenpauschale von 25 €.

 

Entscheidungsgründe

Der Kläger erhält von der Beklagten zu 1), die ihm gegenüber [hätte es den unfallmitursächlichen Transporter nicht gegeben] im Verhältnis 80% : 20 % [Haftungsanteil Kläger] gehaftet hätte, 12,20 €.

Von der Beklagten zu 3), die ihm gegenüber [ohne die weiter haftende Beklagte zu 1] im Verhältnis 1/3 zu 2/3 [Haftungsanteil Kläger] gehaftet hätte, erhält er weitere 0,45 €.

Und als Gesamtschuldner müssen die Beklagte zu 1) und die Beklagte zu 3) weitere 7,80 € zahlen.

Insgesamt kann der Kläger also 20,45 € beanspruchen.

 

Herleitung

Das Landgericht Kassel verweist auf BGH, Urteil vom 16.06.1959, Az. VI ZR 95/58. In dieser Entscheidung hat sich der BGH mit der Verteilung der Haftungsquoten von Nebentätern auseinandergesetzt, wenn der Anspruchsteller auch einen „Haftungsanteil zu verantworten hat‟. Der BGH stellt in der Entscheidung klar, dass die Grundsätze (ein Mitverschulden des Anspruchstellers vorausgesetzt) – „nur dann, aber dann schon‟ – anwendbar sind, wenn ein Anspruchsteller

  • mehrere Nebentäter gleichzeitig in Anspruch nimmt oder
  • sich nach der Regulierung durch einen Nebentäter die Frage stelle, welcher Anspruch noch gegenüber anderen Nebentätern besteht.

In der Entscheidung befasst sich der BGH mit mehreren Möglichkeiten, wie man die Haftung der Nebentäter gerecht verteilen könne. Und an seinem dort gewonnenen Ergebnis halten sowohl er (BGH, Urteil vom 05.10.2010 – VI ZR 286/09; BGH, Urteil vom 13.12.2005 – VI ZR 68/04) als auch die obergerichtliche Rechtsprechung fest:

„Bei einem Verkehrsunfall, bei dem möglicherweise mehrere Verantwortliche durch verschiedene selbständige Tatbeiträge einen Schaden herbeigeführt haben (Nebentäterschaft), kann – wenn der Geschädigte sämtliche Tatbeteiligte in Anspruch nimmt – die Verteilung des Schadens nur bei einer Gesamtabwägung, gewonnen aus einer Gesamtschau erfolgen (grundlegend: BGH VersR 1959, 623). Vor der Gesamtabwägung hat zunächst jeweils eine Einzelabwägung stattzufinden, bei der die Haftungsanteile des anderen Mitschädigers außer Betracht bleiben. Sodann ist in einer Gesamtschau zu beurteilen, in welchem Umfang der Geschädigte insgesamt Schadensersatz verlangen kann, in welchem Umfang die Schädiger gesamtschuldnerisch und inwieweit sie allein haften (zur Berechnungsmethode OLG Hamm VersR 2000, 1036, Urteil v. 15.05.2000 – 13 U 131/99 – m.w.N..‟

vgl. OLG Hamm, Urteil vom 09.07.2019, Az. 9 U 136/18

 

Der BGH (Urteil vom 16.06.1959, Az. VI ZR 95/58) stellte klar, dass es zwei Schritte (Einzelabwägung und Gesamtabwägung) gibt.

  1. Zunächst ist in einer Einzelabwägung das Haftungsverhältnis zwischen dem Kläger und jedem Nebentäter zu bestimmen und zwar unter Außerachtlassung der anderen Nebentäter. Der BGH hat hier die Haftungsquoten des Oberlandesgericht übernommen. Danach haftete der dortige Beklagte zu 1) dem Kläger zu 20% [Eigenverschulden des Klägers gegenüber dem Beklagten zu 1) : 80%] und der dortige Beklagte zu 2) haftete ebenfalls zu 20% [Eigenverschulden des Klägers gegenüber dem Beklagten zu 2) : auch 80%].
  2. Nach dieser Einzelabwägung ist eine Gesamtabwägung zu erstellen nach „Verantwortlichkeitsteilen‟ und zwar bei einem Kläger und zwei Nebentätern im Muster A : B : C. A ist der Verantwortungsteil des Klägers, B der Verantwortungsteil des ersten Nebentäters und C der Verantwortungsteil des zweiten Nebentäters.Nun sind A, B und C zu bestimmen. Da der Kläger sowohl gegenüber B als auch gegenüber C die gleichen Eigenverschuldensteile hatte, war dies noch einfach zu bestimmen:
    A = 4, B =1 und C =1, also : 4 : 1: 1. Mit dieser Verteilung sind sowohl der Nebentäter 1 als auch der Nebentäter 2 weiterhin im Verhältnis  1 zu 4 gegenüber dem Kläger in Verantwortung. 
  3. Nun zählt man zusammen, wie viele Haftungsanteile es gibt: 4+1+1 = 6. Also hat jeder Haftungsanteil die Größe 1/6. Mithin trägt der Kläger 4/6 und jeder Nebentäter 1/6 Verantwortlichkeit. Damit sind dann 100% der Verantwortlichkeit verteilt: 4/6 + 1/6 + 1/6 = 6/6 = 1 (= 100%).
  4. Der Kläger muss 4/6 = 2/3 seines Schadens selbst tragen. Er kann aber nicht jeden Nebentäter auf das 1/3 voll in Anspruch nehmen, sondern ist gedeckelt durch die in der Einzelabwägung berechnete Haftungsquote. Auch wenn der Kläger daher 1/3 Schadensersatz verlangen kann, kann er von jedem Nebentäter maximal 20% verlangen.

 

Relevanz

Stets ist im Blick zu behalten, dass diese Abwägungen nur erforderlich sind, wenn den Anspruchsteller eine Mitverantwortlichkeit trifft und es Nebentäter gibt. Dann ist es aber relevant, wenn entweder die Nebentäter gleichzeitig in Anspruch genommen werden oder sich nach der Inanspruchnahme eines Nebentäters die Frage stellt, welche Ansprüche noch gegenüber einem weiteren Nebentäter bestehen. Die Unterscheidung, ob andere Schädiger als Nebentäter haften oder als Gesamtschuldner, hat durchaus Auswirkung. Hätten die Beklagten zu 1) und 3) im vorstehenden Fall des BGH als Gesamtschuldner einer Haftungseinheit gehaftet, hätte der Kläger Anspruch auf „nur‟ 20% seines Schadens. Dadurch, dass die Beklagten als Nebentäter hafteten, hatte er Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von immerhin 1/3. Und im Fall des LG Kassel erhielt der Kläger von der Schadensposition Kostenpauschale „immerhin‟ 0,45 € mehr. Es sind nicht immer große Vorteile des Anspruchstellers, aber es können durchaus merkliche Vorteile verbunden sein mit der korrekten rechtlichen Einordnung und mathematischen Berechnung. Das soll folgende Tabelle verdeutlichen, wobei stets von einem Schaden in Höhe von 10.000 € ausgegangen wird:

Haftungsverteilung
Kläger gegen 1. Beteiligten
Haftungsverteilung
Kläger gegen 2. Beteiligten
maximaler Anspruch bei Haftungseinheit und Gesamtschuld der Beteiligten 1 und 2 Anspruch bei Nebentäterschaft
50:50 50:50 5.000 € 6.666,67 €
30:70 70:30 7.000 € 7.341,77 €
70:30 70:30 3.000 € 4.615,38 €
80:20 40:60 6.000 € 6.363,64 €
95:5 90:10 1.000 € 1.407,04 €

Berechnung des LG Kassel

Die Lösung des LG Kassel ist bereits mitgeteilt:

Der Kläger kann von den Beklagten als Gesamtschuldner 7,80 € verlangen; von der Beklagten zu 1) weitere 12,20 € und von der Beklagten zu 3) weitere 0,45 €. Insgesamt erhält er damit 20,45 €.

Die Werte des Landgerichts Kassel dürften auf Rundungen im Rechenweg beruhen. Wir kamen beim Nachrechnen auf die Beträge: 7,88 € gesamtschuldnerische Haftung, 12,12 € Anspruch des Klägers allein gegen die Beklagte zu 1) und Anspruch des Klägers in Höhe von 0,45 € allein gegen die Beklagte zu 3).

Um dieses Ergebnis zu erreichen, hat das LG Kassel nach der Vorgabe des BGH wie folgt gerechnet:

Einzelabwägung: Kläger hat Anspruch gegen die Beklagte zu 1) von 80 % und gegen die Beklagte zu 3) von 1/3.

Gesamtabwägung:    6,7 : 26,8 : 3,3   [Test: 6,7 * 4 = 26,8 und 6,7/2 = 3,3;  diese Werte entsprechen mithin den Verantwortlichkeiten aus der Einzelabwägung]

Insgesamt gab es 6,7 + 26,8 + 3,3 = 36,8 Teile, was zu nachstehenden Ergebnissen der Gesamtabwägung führt:

  • 6,7/36,8 * 25 € = 4,55 € musste der Kläger selbst tragen.
  • 26,8/36,8 * 25 € = 18,21 € entfallen auf Beklagten zu 1)
  • 3,3/36,8 * 25 € = 2,24 € entfallen auf Beklagten zu 3)

Insgesamt kann der Kläger Ersatz in Höhe von 20,45 € bzgl. seiner Kostenpauschale (25 €) verlangen. Hier ist aber zu berücksichtigen, dass die Beklagte zu 1) nur begrenzt auf 20 € [Haftungsverantwortung im Rahmen der Einzelabwägung] in Anspruch genommen werden kann und die Beklagte zu 3) nur zu 1/3 * 25 € = 8,33 € (, was das LG Kassel auf 8,25 € abrundet).  Aufgrund dieser Begrenzungen berechnet das LG Kassel dann verständlich die Höhen der Gesamtschuld und jeweiligen darüberhinausgehenden Einzelschuld.

 

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