zweite und dritte Fristverlängerungsanträge und die Krux mit beA

BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

BGH, Beschluss vom 10.10.2023 – XI ZB 1/23

 

Sachverhalte

Immer wieder kommt es vor, dass Anwälte bei den Berufungsgerichten beantragen, die Berufungsbegründungsfrist erst-, zweit- oder drittmalig zu verlängern, und die Vorsitzenden des Berufungsgerichts sind der Ansicht, das ginge nun aber nicht.

Fiktiver Fall:

Rechtsanwalt A trifft abends Rechtsanwalt B, als sie im örtlichen Wirtshaus Mandantenakcuise betreiben. Beide stehen sich als Vertreter ihrer Mandanten X bzw. Y vor dem örtlichen Oberlandesgericht in einem Berufungsverfahren gegenüber. A erwähnt beiläufig, dass er schon gespannt ist auf den Erhalt der Berufungsbegründung des B; immerhin laufe die Frist des B ja „heute‟ ab. B, dem leider Kaffee über seinen Fristenkalender gelaufen war und er daher die letzte eingetragene Frist des Tages nicht mehr enträtseln  konnte, schwant, dass der vom Koffein vernichtete Eintrag auf den Ablauf der bereits zweimal (zunächst um einen Monat und sodann um 2 Wochen) verlängerten Berufungsbegründungsfrist hinwies. B erklärte seine missliche Lage und fragte A, ob er weitere sechs Wochen Fristverlängerung von A genehmigt bekäme. Nach Rücksprache mit seinem ebenfalls vor Ort anwesenden Mandanten erklärte sich A einverstanden, gab aber zu bedenken, dass das Berufungsgericht schon bei der letzten Fristverlängerung mitgeteilt habe, die Frist würde „letztmalig‟ verlängert.

Rechtsanwalt B eilte daraufhin in sein Büro. Er erstellte einen Fristverlängerungsantrag und begründete diesen mit allgemeiner Arbeitsüberlastung, teilte das Einverständnis des Kollegen A mit und beantragte Fristverlängerung von 6 Wochen. Dann stellte er fest, dass das besondere elektronische Anwaltsfach nicht funktionierte. Er fertigte noch einen inhaltsgleichen Fristverlängerungsantrag, in den er einen Screenshot des beA-Portals einfügte mit den Hinweisen, dass dies nicht funktioniere und sich die Störung auch aus der Webseite des beA-Portals ergebe, und übersandte ihn vollständig vor Tagesablauf per Telefax an das Berufungsgericht. Von Adrenalin getrieben fertigte B die Berufungsbegründung direkt am nächsten Tag und reichte sowohl den per Telefax bereits eingereichten Fristverlängerungsantrag als auch die Berufungsbegründung ein.

Das Berufungsgericht wies – mit oder ohne Beratung durch den Kantinensenat – den Fristverlängerungsantrag am Folgetag zurück. Immerhin seien schon zwei Verlängerungen erfolgt und es sei darauf hingewiesen worden, dass  eine weitere Fristverlängerung nicht gewährt würde; 6 Wochen Verlängerung seien ohnehin unangemessen. Der weiterer Fristverlängerung  würde auch das Recht des Gegners auf effektiven Rechtsschutz entgegenstehen. Die Tatsache, dass Arbeitsüberlastung an der Fertigung gehindert habe, sei schon dadurch widerlegt, dass am Folgetag die Berufungsbegründung eingegangen sei. Außerdem sei der Fristverlängerungsantrag so spät am Tag des Fristablaufs eingereicht worden, dass an dem Tag weder über dessen Stattgabe entschieden werden konnte noch der Anwalt über dessen Schicksal habe Erkundigungen einholen können. Letztlich könne das alles dahinstehen, weil die Beantragung der Fristverlängerung per Telefax unwirksam sei und Rechtsanwalt B nicht einmal anwaltlich versichert habe, dass beA nicht funktioniere.

B stellte Wiedereinsetzungsantrag (unter Beachtung aller Formalien), der aus vorstehenden Erwägungen zurückgewiesen wurde. Nun wurde der BGH angerufen.

Warum gibt der BGH Rechtsanwalt B Recht?

 

Entscheidungsgründe

1. Unschädlich war die „späte‟ Stellung des Fristverlängerungsantrages. Denn eine Partei darf eine Frist ausschöpfen. Eine Frist kann auch nach deren Ablauf verlängert werden, solange der Fristverlängerungsantrag vor Fristablauf bei Gericht eingegangen ist:

Eine Partei ist grundsätzlich berechtigt, eine Frist bis zum letzten Tag auszuschöpfen (BGH, Beschluss vom 8. Mai 2018 – VI ZB 5/17, NJW-RR 2018, 958 Rn. 11 mwN).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Der Fristverlängerungsantrag muss nicht so rechtzeitig gestellt werden, dass vor Fristablauf noch mit einer Entscheidung gerechnet werden könnte.
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

Für eine Rückfrage, ob dem Antrag stattgegeben wurde, besteht kein erkennbarer Anlass, wenn der Anwalt – wie im Streitfall – mit der Verlängerung der Frist rechnen konnte (BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2007 – VI ZB 65/06, NJW-RR 2008, 367 Rn. 9; Beschluss vom 5. Juni 2012 – VI ZB 16/12, NJW 2012, 2522 Rn. 10; Beschluss vom 26. Januar 2017 – IX ZB 34/16, NJW-RR 2017, 564 Rn. 12).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Die Begründungsfrist kann auch nach ihrem Ablauf verlängert werden, wenn dies vor Fristablauf beantragt wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 18. März 1982 – GSZ 1/81, BGHZ 83, 217, 219, 221).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

2. Das Telefax des Anwalts B war ausreichend, da beA eine Störung hatte. Eine anwaltliche Versicherung der Störung war nicht erforderlich, da Anwalt B einen Screenshot von der Störung übermittelte und aus den öffentlich zugänglichen Protokollen des beA-Portals bzw. dessen Archivs das Gericht die Störung unproblematisch nachvollziehen konnte:

Allerdings überspannt das Berufungsgericht die sich aus § 130d Satz 3 ZPO ergebenden Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer auf technischen Gründen beruhenden vorübergehenden Unmöglichkeit der Übermittlung als elektronisches Dokument, indem es im vorliegenden Fall eine anwaltliche Versicherung des Scheiterns der Übermittlung für zwingend erforderlich erachtet, ohne den vorgelegten Screenshot zu berücksichtigen.
vgl. BGH, Beschluss vom 10.10.2023 – XI ZB 1/23

 

Die Vorlage dieses Screenshots, bei dem es sich um ein Augenscheinsobjekt im Sinne von § 371 Abs. 1 ZPO handelt (OLG Jena, GRUR-RR 2019, 238 Rn. 15; BeckOK ZPO/Bach, 50. Edition, Stand: 1. September 2023, § 371 Rn. 3), war im vorliegenden Fall geeignet, die behauptete Störung glaubhaft zu machen.
vgl. BGH, Beschluss vom 10.10.2023 – XI ZB 1/23

 

Denn sein Inhalt stimmt überein mit den Angaben in der beA-Störungsdokumentation auf der Internetseite der Bundesrechtsanwaltskammer (…).
vgl. BGH, Beschluss vom 10.10.2023 – XI ZB 1/23

Gegebenenfalls hätte es des Screenshots gar nicht bedurft:

Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob das Berufungsgericht die von der Prozessbevollmächtigten des Klägers geschilderte Störung angesichts der auf der Internetseite der Bundesrechtsanwaltskammer verfügbaren Informationen als offenkundig (§ 291 ZPO) hätte behandeln können (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Mai 2023 – V ZR 14/23, juris Rn. 1 und vom 24. Mai 2023 – VII ZB 69/21, WM 2023, 1428 Rn. 17 ff.).
vgl. BGH, Beschluss vom 10.10.2023 – XI ZB 1/23

 

3.  Auch wenn das Gericht bereits mit der Gewährung der letzten Fristverlängerung mitgeteilt hatte, dass die Frist „letztmalig‟ verlängert würde, stand dies – wenig überraschend – einer weiteren Fristverlängerung nicht entgegen, da weitere Gründe durch das Gericht nicht dargelegt werden:

Der vorangegangene Hinweis, mit einer weiteren Verlängerung sei nicht zu rechnen, stand dem Vertrauen der Prozessbevollmächtigten des Klägers in die Fristverlängerung nicht entgegen. Das Berufungsgericht verkennt, dass ein solcher Hinweis das Gericht nicht davon entbindet, die in § 520 Abs. 2 ZPO angelegte Differenzierung danach, ob der Gegner eingewilligt hat oder nicht, und die vom Gesetzgeber beabsichtigte (BT-Drucks. 14/4722 S. 95) vereinfachte Verlängerungsmöglichkeit bei erteilter Einwilligung zu beachten (vgl. BVerfGE 79, 372, 376 f.; BGH, Beschluss vom 1. August 2001 – VIII ZB 24/01, NJW 2001, 3552).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Der mit der zweiten Fristverlängerung verbundene Hinweis der Vorsitzenden auf eine „letztmalige‟ Verlängerung stand dem Vertrauen des Prozessbevollmächtigten des Klägers in die Fristverlängerung ohne Rücksicht darauf nicht entgegen, ob er ihn bei Aufwendung der gebotenen Sorgfalt zur Kenntnis nehmen konnte. Ein solcher Hinweis entbindet das Gericht nicht davon, die in § 520 Abs. 2 ZPO angelegte Differenzierung danach, ob der Gegner eingewilligt hat oder nicht, und die vom Gesetzgeber (BT-Drucks. 14/4722, S. 95) beabsichtigte vereinfachte Verlängerungsmöglichkeit bei erteilter Einwilligung zu beachten (BGH, Beschluss vom 30. Januar 2023 – VIa ZB 15/22, NJW 2023, 1449 Rn. 11 mwN).
vgl. BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

 

Eine Erschütterung des Vertrauens eines Rechtsmittelführers aufgrund eines entsprechenden Zusatzes hätte allenfalls in Betracht kommen können, wenn das Berufungsgericht mit der Fristverlängerung tragfähige und zum Zeitpunkt der Ermessensausübung fortgeltende Erwägungen offenlegt hätte, aus denen eine weitere Verlängerung der Frist zur Berufungsbegründung nicht in Betracht kam.
vgl. BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

Grundsätzlich steht es dem Gericht mithin nicht frei, das ihm obliegende Ermessen für zukünftige Entscheidungen durch vorherige Ankündigungen zu reduzieren.

 

4. Dass das Berufungsgericht die Arbeitsbelastung nicht als ausreichenden wichtigen Grund ansah, weil die Berufungsbegründung am Folgetag eingereicht wurde, war aus zwei Gründen falsch. Einerseits bedurfte es schon gar keines wichtigen Grundes, weil Rechtsanwalt A einverstanden war.

Auf erhebliche Gründe für die Fristverlängerung im Sinne von § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO kam es entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ebenso wenig an (….)
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

Er durfte darauf vertrauen, dass sein rechtzeitig gestellter Antrag, die bis zum 9. Juni 2022 verlängerte Berufungsbegründungsfrist erneut zu verlängern, nicht abgelehnt würde. Die Auffassung des Berufungsgerichts, der Kläger hätte vor dem Hintergrund eines früheren Hinweises, mit einer weiteren Fristverlängerung sei nicht zu rechnen, über die Mitteilung der Einwilligung der Beklagten hinaus erhebliche Gründe für die erneute Fristverlängerung darlegen müssen, ist unzutreffend. Sie überspannt die sich aus § 520 Abs. 2 Satz 2 ZPO ergebenden Anforderungen an einen bewilligungsfähigen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist.
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

Andererseits konnte das Einreichen der Berufungsbegründung am Folgetag nicht die Arbeitsbelastung widerlegen.

Auf erhebliche Gründe für die Fristverlängerung im Sinne von § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO kam es entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ebenso wenig an wie auf dessen Mutmaßungen, die Einreichung der Berufungsbegründung bereits am Folgetag zeige, dass keine Überlastung vorgelegen habe.
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

Und so war die am Folgetag eingelegte Berufungsbegründung auch grundsätzlich rechtzeitig.

Beantragt der Berufungskläger mit Einverständnis des Gegners, die wegen eines erheblichen Grundes bereits um einen Monat verlängerte Frist zur Berufungsbegründung um weitere sieben Tage zu verlängern, darf der Berufungskläger nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darauf vertrauen, dass dem Antrag stattgegeben werde (BGH, Beschluss vom 9. Juli 2009, aaO, Rn. 10; Beschluss vom 1. Juli 2013 – VI ZB 18/12, NJW 2013, 3181 Rn. 10).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Daran gemessen konnten die Prozessbevollmächtigten des Klägers darauf vertrauen, dass ihrem zweiten Fristverlängerungsantrag – jedenfalls teilweise – gemäß § 520 Abs. 2 Satz 2 ZPO stattgegeben werde. Aus dem Umstand, dass im Streitfall eine Verlängerung um weitere sechs Wochen beantragt wurde, folgt schon deshalb nichts anderes, weil dem Kläger, der die Berufungsbegründung einen Tag nach Fristablauf eingereicht hat, eine teilweise Stattgabe seines Verlängerungsantrags für sieben Tage genügt hätte, um die Frist zu wahren (vgl. BGH, Beschluss vom 8. April 2015 – VII ZB 62/14, NJW 2015, 1966 Rn. 12 mwN).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

5. Wenn das Gerichts dann noch meinte, im Interesse der Gegenseite die Frist nicht verlängern zu können, da diese Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz habe, so stellt der BGH klar, dass dieses Interesse bzw. die Verfahrensbeschleunigungspflicht zurücktritt, wenn der Gegner sich mit der Fristverlängerung einverstanden erklärt hat.

Die aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes (…) resultierende Verpflichtung der Fachgerichte, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zu einem Abschluss zu bringen (…), trat (…) zurück, solange der Gegner mit der weiteren Fristverlängerung einverstanden war (…).
vgl. BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

 

6. Nach den vorstehenden Grundsätzen hätte dem Fristverlängerungsantrag von B eigentlich entsprochen werden müssen. Da dies nicht geschehen war, war die Berufungsbegründung eigentlich verspätet. Über die Wiedereinsetzung war dies – eigentlich schon von dem Berufungsgericht – wieder geradezurücken:

Im Wiedereinsetzungsverfahren kann sich der Rechtsmittelführer deshalb nur dann mit Erfolg auf sein Vertrauen in eine Fristverlängerung berufen, wenn deren Bewilligung mit großer Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte (BGH, Beschluss vom 4. Juli 1996 – VII ZB 14/96, NJW 1996, 3155; Beschluss vom 21. Februar 2000 – II ZB 16/99, NJW-RR 2000, 947; Beschluss vom 9. Juli 2009 – VII ZB 111/08, NJW 2009, 3100 Rn. 8, jeweils mwN).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Das Vertrauen in die Gewährung einer wiederholten Fristverlängerung ist im Regelfall erst erschüttert, wenn aus Sicht eines Rechtsmittelführers Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass die Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens trotz der Einwilligung zu einer Ablehnung der begehrten Fristverlängerung führen kann.
vgl. BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

 

Anders als das Berufungsgericht meint, ist bei Einwilligung des Gegners allerdings auch das Vertrauen in eine zweite Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist geschützt.
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

 

 

obiter dicta:

Das Risiko, dass das Berufungsantrag einem Fristverlängerungsantrag nicht entspricht, trägt der Antragsteller. Der Rechtsmittelführer ist generell mit dem Risiko belastet, dass der Vorsitzende des Rechtsmittelgerichts in Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens eine beantragte Verlängerung der Rechtsmittelbegründungsfrist versagt.
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Dass zahlreiche ähnlich gelagerte Rechtsstreitigkeiten bei Instanzgerichten anhängig sind, ändert im Übrigen nichts an der Gültigkeit allgemeiner prozessualer Grundsätze (aA für Fristverlängerungen in „Massenverfahren‟ OLG Bamberg, Beschluss vom 25. April 2019 – 8 U 2/19, juris Rn. 22).
vgl. BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

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