Unfall zwischen überholendem Motorrad und abbiegendem Ackerschlepper
OLG Hamm, Urteil vom 02.07.2024 – 7 U 74/23
Sachverhalt
Ein Ackerschlepper biegt von einer Straße links von einer Straße in einen Wirtschaftsweg. Der von dem beklagten Kfz-Haftpflichtversicherer versicherte Motorradfahrer setzte kurz vorher zum Überholen an. Es kam zur Kollision. Der Ackerschlepper nahm Schaden.
Es stellte sich heraus, dass das Blinklicht und der Rückspiegel des Ackerschleppers verschmutzt waren. Ein Sachverständiger hat im Gerichtsverfahren ermittelt, dass nicht sichergestellt sei, dass ein Verkehrsteilnehmer ein Blinken des Ackerschleppers wahrnehmen konnte. Denn Sonnenstand und Verschmutzung hätten in ihrer Kombination möglicherweise zu einer Nichterkennbarkeit geführt. Aufgrund eines gezogenen Güllefasses, des Sonnenstands und der verdreckten Spiegel war eine Beobachtung des rückwärtigen Verkehrs für den Fahrer des Ackerschleppers nicht möglich.
Das Landgericht urteilte Schadensersatz für den klagenden Eigentümer des Ackerschleppers aus. Die Beklagte stellte das Urteil zur Überprüfung vor dem Oberlandesgericht Hamm. Die Beklagte bekam Recht und die Klage wurde vollständig abgewiesen.
Entscheidungsgründe
Der Kläger hat keine Ansprüche gegen Halter, Fahrer oder Versicherer des überholenden Motorrades. Das ergab sich nach folgender Rechtsanwendung:
1. Beim Betrieb der Fahrzeuge
Da beide Fahrzeuge mit Motorkraft im öffentlichen Raum gefahren wurden, was das Tatbestandsmerkmal unproblematisch erfüllt.
2. Keine Unabwendbarkeit
Der Eigentümer des Ackerschleppers machte geltend, der Unfall sei für ihn ein unabwendbares Ereignis gewesen. Dem Argument erteilte das OLG Hamm bereits eine Absage, weil der Rückspiegel verschmutzt gewesen sei. Wer sich auf Unabwendbarkeit berufe, müsse alle Tatsachen beweisen. Da die Möglichkeit im Raum stand, dass bei einem sauberen Spiegel das Motorrad rechtzeitig erkannt worden wäre, sei eine Unabwendbarkeit nicht feststellbar.
Folge der „fehlenden Unabwendbarkeit‟ ist die Abwägung der Verursachungsbeiträge.
3. Abwägung der Verursachungsbeiträge
Für die Abwägung der Verursachungsbeiträge sind nur die unstreitigen, zugestandenen oder bewiesenen Tatsachen anzusetzen, also diejenigen, von denen das Gericht überzeugt ist oder prozessual als unstreitig zu akzeptieren hat.
a) Ein Verstoß des Motorradfahrers konnte das OLG Hamm nicht erkennen:
aa) Wer den Blinker unverschuldet nicht sehen kann, kann ihn auch nicht berücksichtigen
Unabhängig davon lässt sich ein schuldhafter Verstoß des Motorradfahrers gegen § 5 Abs. 7 Satz 1 StVO auch deshalb nicht feststellen, weil nicht auszuschließen ist, dass ein etwaig gesetzter Fahrtrichtungsanzeiger für diesen nicht (rechtzeitig) erkennbar war. Das linke Blinklicht war möglicherweise gar nicht oder nur schwer für den nachfolgenden Verkehr erkennbar, weil dieses zum einen verdreckt war und zum anderen die Sonneneinstrahlung von hinten die Erkennbarkeit erheblich reduzierte; diesen Aspekt hat das landgerichtliche Urteil zu Unrecht unberücksichtigt gelassen.
bb) Wer überholen will, muss schneller fahren
Auch war die zulässige Höchstgeschwindigkeit des Motorrads nicht nach § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO wegen der Überholsituation auf eine geringere Geschwindigkeit als 100 km/h begrenzt. Der Überholende ist nämlich nicht verpflichtet, seine Geschwindigkeit bei Annäherung an das zu überholende Fahrzeug zu ermäßigen, vielmehr muss er den Überholungsvorgang mit möglichster Beschleunigung durchführen (BGH Urt. v. 19.1.1956 – 4 StR 427/55, BeckRS 1956, 103580 Rn. 5).
cc) kein verspäteter Spurwechsel
Zwar wäre der Unfall durch einen früheren Spurwechsel des Motorradfahrers nach den Feststellungen des Sachverständigen vermeidbar gewesen (Gutachten I S. 17, eGA I-70). Ein früherer Spurwechsel war aber rechtlich nicht geboten. Vielmehr war der Motorradfahrer nach § 2 Abs. 2 StVO gehalten, möglichst lange möglichst weit rechts zu fahren. Der Überholende darf nicht zu früh ausscheren (Hentschel/König/Dauer/König, StVR, 47. Aufl., § 5 Rn. 40 StVO; vgl. auch Wertung aus § 5 Abs. 4 Satz 5 StVO).
dd) kein Überholen bei unklarer Verkehrslage
Der Motorradfahrer hat auch nicht gegen ein wegen unklarer Verkehrslage nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO bestehendes Überholverbot verstoßen, da bei Beginn des Überholmanövers eine Abbiegeabsicht des Zeugen A nicht erwiesenermaßen erkennbar war. Insbesondere war ein merkbares Einordnen des Ackerschleppers zur Fahrbahnmitte nicht möglich, da das Güllefass (mit Reifen) nahezu die gesamte rechte Fahrbahn einnahm. Zudem konnte der Motorradfahrer die Abbiegeabsicht des Zeugen nach den Darlegungen des Sachverständigen erst erkennen, als er auf die Gegenfahrbahn ausgeschert und bereits bis auf gut 80 m auf das Gespann aufgerückt war (vgl. Gutachten I, Weg-Zeit-Betrachtung Anlage A 34, eGA-I 107). Erst in diesem Zeitpunkt, in dem er die Kollision nicht mehr vermeiden konnte, wurde die Verkehrslage für ihn in dem Sinne unklar, dass er auf ein Ausscheren zum Überholen hätte verzichten müssen.
b) Dagegen gab es einen krassen Verstoß des Eigentümers des Ackerschleppers
aa) Rückschau und Umsicht
Auch wenn beim Abbiegen in einen Wirtschaftsweg § 9 Abs. 5 StVO nicht direkt anwendbar sei, ergaben sich die Pflichten des Ackerschlepperfahrers aus § 1 Abs. 2 StVO. Wenn besondere Umstände bestehen, besteht die Rückschaupflicht auf nach den in § 9 Abs. 1 S. 4 StVO genannten Zeitpunkten, so zum Beispiel:
– Abbiegen mit einem sehr langsamen Fahrzeug auf einer Straße mit Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h
– Abbiegen in einen völlig untergeordneten, schwer erkennbaren Feldweg.
bb) überhöhte Geschwindigkeit
Indem der Zeuge A den Abbiegevorgang mit normaler Geschwindigkeit durchgeführt hat, hat er gegen die Gebote der sichtangepassten Geschwindigkeit und der Rücksichtnahme verstoßen (§ 3 Abs. 1 Satz 2, § 1 Abs. 2 StVO). Wegen der nach hinten jedenfalls stark eingeschränkten Sicht bestand die Pflicht des Zeugen, sich in den Abbiegevorgang langsam und mit jederzeitiger Abbruchmöglichkeit hineinzutasten.
Dass der Zeuge sich nicht in den Abbiegevorgang hineingetastet hat, steht fest, da der Kläger die diesbezügliche Behauptung der Beklagten zu keinem Zeitpunkt bestritten hat. Der Sachverständige hat in seinem für die Staatsanwaltschaft gefertigten Gutachten festgestellt, dass der Zeuge A mit einer Geschwindigkeit von 7 km/h abbog, die eine Reaktion auf nachfolgenden Verkehr nicht mehr ermöglichte (Gutachten I S. 18, eGA I-71). Die Beklagte hat sich dies bereits in der Klageerwiderung zu eigen gemacht (S. 3, eGA I-50). Weder der Kläger noch der Zeuge sind dem entgegengetreten, weswegen auch nicht von einem konkludenten Bestreiten (§ 138 Abs. 3 2. Halbsatz ZPO) ausgegangen werden kann.
Vor diesem Hintergrund hat der Zeuge die mehraktige Pflicht, den Abbiegevorgang „tastend‟ – mit jederzeitiger Fähigkeit und Bereitschaft, den Vorgang abzubrechen – und mit Beobachtung des rückwärtigen Verkehrs, sobald dies wegen der Schrägstellung des Treckers möglich war, durchzuführen, verletzt.
cc) Verschmutzte Leuchtmittel
Schließlich hat der Zeuge A gegen § 54 Abs. 1 Satz 3 StVZO verstoßen, wonach Fahrtrichtungsanzeiger so beschaffen sein müssen, dass die Anzeige der beabsichtigten Richtungsänderung unter allen Beleuchtungs- und Betriebsverhältnissen von anderen Verkehrsteilnehmern, für die ihre Erkennbarkeit von Bedeutung ist, deutlich wahrgenommen werden kann. Dies war wegen der Verschmutzung und der darauf beruhenden erschwerten Erkennbarkeit nicht der Fall, was aufgrund der überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen B feststeht (Gutachten I S. 20, eGA I-73).
Die Verschmutzung war auch für den Unfall kausal, wenn man – zugunsten des Klägers – unterstellt, dass der Zeuge A den Fahrtrichtungsanzeiger rechtzeitig gesetzt hat. Dass der Motorradfahrer bei eingeschaltetem und erkennbarem Blinklicht nicht zum Überholen angesetzt hätte, steht zur Überzeugung des Senats fest, da ein Überholvorgang unter diesen Umständen für den Motorradfahrer lebensgefährlich ist und ein grundsätzlich denkbares Übersehen im konkreten Fall mit Blick auf die Bekundung des Zeugen A, er habe den Fahrtrichtungsanzeiger 130 m vor dem Abbiegevorgang betätigt, ausgeschlossen werden kann.
Zudem steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Sonnentiefstand allein die Erkennbarkeit des Fahrtrichtungsanzeigers nicht erheblich herabgesetzt hätte. Die Darlegungen des Sachverständigen sind so zu verstehen, dass die Kombination aus Sonnentiefstand und Verschmutzung die erschwerte Erkennbarkeit des Fahrtrichtungsanzeigers verursacht hat.
4. Ergebnis der Abwägung
Der Fahrer/Eigentümer des Ackerschleppers hat für die Folgen des Unfalls bei Abwägung aller Umstände allein einzustehen:
Da die Beklagte lediglich für die reine Betriebsgefahr einzustehen hat, der Zeuge A aber gegen die Pflichten beim Abbiegen, indem er quasi nach hinten „blind‟ abgebogen ist, schwerwiegend verstoßen hat und sich das Gespann mit dem schwer erkennbaren Fahrtrichtungsanzeiger in einem nicht ordnungsgemäßen Zustand befunden hat, tritt die reine Betriebsgefahr des bei der Beklagten versicherten Motorrads – bei Durchführung der nach § 17 Abs. 2 und 1 StVG gebotenen Abwägung der Verursachungsbeiträge – vollständig zurück.
Dies entspricht der gefestigten Rechtsprechung des Senats, wonach die nicht erhöhte Betriebsgefahr des Überholenden, wenn also ein Verschulden des Überholenden nicht nachgewiesen werden kann oder ausgeschlossen ist, regelmäßig hinter dem – vorliegend sogar mehrfachen – Verschulden desjenigen, der verkehrswidrig nach links abbiegt, vollständig zurücktritt (OLG Hamm, Urteil vom 8. Juli 2022 – I-7 U 106/20, NJOZ 2022, 1550 Rn. 23 mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
Allgemeines
1. erneute Prüfung durch das Berufungsgericht
Der Senat ist an diese Feststellung des Landgerichts aber nicht gebunden, da an den Feststellungen des Landgerichts Zweifel bestehen. Nach § 529 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist das Berufungsgericht an die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte, welche die Bindung an diese Feststellungen entfallen lassen, können sich aus erstinstanzlichen Verfahrensfehlern ergeben. Ein Verfahrensfehler liegt vor, wenn die Beweiswürdigung nicht den Anforderungen genügt, die von der Rechtsprechung zu § 286 Abs. 1 ZPO entwickelt worden sind. Dies ist der Fall, wenn sie unvollständig oder in sich widersprüchlich ist oder gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen können sich außerdem aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht die Beweisaufnahme anders würdigt als die Vorinstanz. Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet (st. Rspr.; vgl. BGH Urt. v. 16.11.2021 – VI ZR 100/20, r+s 2022, 48 Rn. 15 f.; Senat Beschl. v. 7.1.2021 – 7 U 53/20, BeckRS 2021, 2530 = juris Rn. 21 m. w. N.).
2. Feststellungen nach dem Unfall müssen isoliert betrachtet werden; Vermutungen sind nicht zwingend
Der Umstand, dass der Blinker bei Eintreffen der Polizei gesetzt war, begründet isoliert keinen Beweis, dass er auch rechtzeitig vor dem Abbiegen gesetzt worden ist (OLG Hamm Urt. v. 2.3.2012 – 9 U 193/11, juris Rn. 28), da zum einen der Blinker zwar vor dem Abbiegen, aber zu spät gesetzt worden sein kann, zum anderen aber auch nach dem Unfall, nachdem der Fahrer seinen Fehler bemerkt hat.
3. Langsamkeit deutet nicht immer auf Abbiegen hin
Aus der Sicht eines Überholenden ist nämlich bei einem langsam fahrenden Fahrzeug, besonders einem Trecker, auf freier Strecke nicht ohne weiteres aus der geringen Geschwindigkeit auf ein bevorstehendes Abbiegen zu schließen; zudem ist bei Treckern oft wegen der Breite eine Einordnung zur Mitte kaum zu erkennen. Treckerfahrer und anderen langsam Fahrende haben daher jedes nachfolgende Fahrzeug als potentiellen Überholer anzusehen und daher den nachfolgenden Verkehr ständig im Auge zu behalten (vgl. OLG Hamm Urt. v. 9.10.1992 – 9 U 14/92, NZV 1993, 396).
4. Pflichten des § 9 Abs. 5 StVO gelten nicht „unmittelbar‟ für das Abbiegen in Wirtschaftsweg; aber: § 1 Abs. 2 StVO
Diese Pflicht folgt indes nicht schon aus § 9 Abs. 5 StVO (analog), da es sich bei dem Weg, in den der Zeuge A abbiegen wollte, um einen Wirtschaftsweg handelt, auf den § 9 Abs. 5 StVO weder direkt noch analog anwendbar ist. Schon bei einem Wald- oder Feldweg handelt es sich zwar nicht um ein „Grundstück‟ im Sinne des § 9 Abs. 5 StVO, es gelten hier jedoch, abhängig von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls, ähnlich verschärfte Pflichten. Im Grundsatz gilt, dass, je weniger erkennbar das Abbiegeziel im Fahrverkehr ist, um so sorgfältiger der Abbiegende sich verhalten muss (OLG Sachsen-Anhalt Urt. v. 12.12.2008 – 6 U 106/08, juris Rn. 19; OLG Stuttgart Beschl. v. 08.04.2011 – 13 U 2/11, juris Rn. 16; Hentschel/König/Dauer/König, 47. Aufl., StVO § 9 Rn. 45). Bei einem – wie hier – deutlich markierten Wirtschaftsweg, der nicht nur ein einzelnes Grundstück anbindet, scheidet eine Analogie jedenfalls mangels Vergleichbarkeit aus.