Hinterbliebenengeld XXX: Eltern und Schwester d. Verstorbenen

OLG Celle, Urteil vom 18.01.2024, Az. 5 U 172/21

Sachverhalt

Der Verstorbene erlitt am 19.04.2020 einen Verkehrsunfall mit Todesfolge. Er hatte versucht, mit seinem Motorrad ein Gespann von Traktor und Anhänger zu überholen, als dies zum Linksabbiegen ansetzte. Das Landgericht hat die Klage der Eltern des Verstorbenen sowie der jüngeren Schwester (aus Haftungsgründen) abgewiesen. Die Kläger verfolgten mit der Berufung die Ansprüche weiter und hatten hier im tenorierten Umfang Erfolg.

Entscheidung

Das Oberlandesgericht Celle bewertete die Haftung abweichend der ersten Instanz. Der Verstorbene habe eine Verantwortung von 1/3 an dem Unfallgeschehen zu tragen.

Das Oberlandesgericht setzt sich umfangreich mit der Bemessung des Hinterbliebenengeldes auseinander:

Die Beklagten sind ferner gemäß § 10 Abs. 3 StVG verpflichtet, den Klägern ein Hinterbliebenengeld zu zahlen, den Klägern zu 1. und 2. in Höhe jeweils 8.000 Euro und der Klägerin zu 3. in Höhe von 6.500 Euro.

Nach dieser Vorschrift hat der Ersatzpflichtige dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten; ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war. Hiervon ausgehend haben die Beklagten den Klägern zu 1. und 2., den Eltern des Verstorbenen, ein Hinterbliebenengeld zu zahlen.

a)

Die Kläger sind die Eltern bzw. die Schwester des Verstorbenen und gehören damit zu seinen nahen Angehörigen, sodass sie nach Maßgabe des vorgenannten Wortlautes und des Zwecks dieser Anspruchsgrundlage, nahen Angehörigen auch ungeachtet eines etwaigen Schmerzensgeldanspruchs wegen psychischer Beeinträchtigungen das erlittene seelische Leid zu kompensieren (BT-Drs. 18/11397, S. 1), dem Grunde nach anspruchsberechtigt sind. Insbesondere ist zwischen den Parteien unstreitig, dass die Klägerin zu 2. leibliche Mutter des Verstorbenen ist. Soweit die Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 13.12.2023 angedeutet haben, die Klägerin zu 2. sei „eventuell‟ nicht die leibliche Mutter des Verstorbenen (Protokoll vom 13.12.2023, S. 2, Bl. 628 d. A.), haben sie – auf ausdrückliche Nachfrage des Senats – die gegenteilige Behauptung der Kläger gleichwohl nicht streitig stellen wollen.

b)

Die Kläger standen zu dem Verstorbenen in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis. Kennzeichnend hierfür ist eine besonders enge persönliche Bindung zwischen dem Getöteten und dem Hinterbliebenen. Insoweit erforderlich ist eine tatsächlich gelebte soziale Beziehung, auch außerhalb der Familie, die besonders eng ist und ungeachtet eines Zusammenlebens in ihrer Intensität deutlich über übliche Verbindungen in der Sozialsphäre hinausgeht und derjenigen entspricht, wie sie üblicherweise zwischen den in § 11 Abs. 3 Satz 2 StVG genannten Personen besteht. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, indiziert dies, dass der Hinterbliebene infolge der Tötung seelisches Leid empfunden hat (BT-Drs. 18/11397, S. 13 – 15; Sprau in: Grüneberg, BGB, 83. Auflage 2024, § 844 Rn. 22).

Das Vorliegen dieser Voraussetzungen wird für die Kläger zu 1. und 2. vermutet, da sie die Eltern des Verstorbenen sind. Auch für die Klägerin zu 3. ist im Unfallzeitpunkt ein besonderes Näheverhältnis zwischen ihr und dem Verstorbenen festzustellen. Dieses ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus der persönlichen Anhörung des Klägers zu 1., der vorgetragen hat, dass der Verstorbene ungeachtet seines Auszugs aus dem elterlichen Haus drei- bis viermal pro Woche mit der der dort wohnhaften Klägerin zu 3., seiner Schwester, Kontakt gehabt und sie zu verschiedenen, aufgrund ihrer Schwerbehinderung erforderlichen Therapien und sonstigen Terminen begleitet habe, so insbesondere zur Physiotherapie und zur Reittherapie. Außerdem habe er mit ihr regelmäßig gespielt und sie oft besucht (Protokoll vom 13.12.2023, S. 15). Diesen Vortrag hält der Senat angesichts seines lebensnahen und anschaulichen Inhalts für erlebnisbasiert und glaubhaft, zumal zwischen den Parteien unstreitig ist, dass es sich bei der Klägerin zu 3. um die Schwester des Verstorbenen handelt, die seit ihrer Geburt unter einer Schwerbehinderung leidet (vgl. Betreuer- und Schwerbehindertenausweis, Anlage K16, Anlagenband Kläger).

c)

Die Kläger können die Zahlung eines Hinterbliebenengeldes in der vorstehend bezeichneten Höhe verlangen.

Für die Höhe des Hinterbliebenengeldes sind die ebenso für das Schmerzensgeld relevanten Ausgleichs- und Genugtuungsfunktionen bestimmende Gesichtspunkte. Die Entschädigung soll dem Hinterbliebenen einen gewissen Ausgleich bieten für die seelischen Beeinträchtigungen, die durch den Tod einer geliebten Person eintreten, und ihm insofern wenigstens Linderung verschaffen. Zugleich soll die Hinterbliebenenentschädigung dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Hinterbliebenen für das, was er ihm durch die Herbeiführung des Todes einer geliebten Person angetan hat, Genugtuung schuldet. Insbesondere ist das alleinige Abstellen auf den Ausgleichsgedanken nicht möglich, weil sich immaterielle Schäden nicht und Ausgleichsmöglichkeiten nur beschränkt in Geld ausdrücken lassen. Hiervon ausgehend richtet sich die Höhe des Hinterbliebenengeldes im Wesentlichen nach der Intensität und der Dauer des erlittenen seelischen Leids und dem Grad des Verschuldens des Schädigers. Dabei lassen sich aus der Art des Näheverhältnisses, der Bedeutung des Verstorbenen für den Anspruchsteller und der Qualität der tatsächlich gelebten Beziehung indizierte Rückschlüsse auf die Intensität des seelischen Leids ableiten (BGH, Urteil vom 06.12.2022, VI ZR 73/21, Rn. 14 f., zit. nach juris).

Der in der Gesetzesbegründung genannte Betrag von 10.000 Euro kann insoweit als Orientierungshilfe dienen, von der allerdings unter Berücksichtigung der den jeweiligen Einzelfall prägenden Umstände nach unten oder oben abgewichen werden kann, wobei der dem Hinterbliebenen im Einzelfall zuerkannte Betrag im Regelfall hinter demjenigen zurückzubleiben hat, der ihm zustünde, wenn das von ihm erlittene seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte (BGH, a. a. O., Rn. 18, 21; Urteil vom 23.05.2023, VI ZR 161/22, Rn. 12, zit. nach juris). Bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes sind ferner ein etwaiges Mitverschulden des Getöteten oder eine von seinem Kraftfahrzeug ausgegangene Betriebsgefahr zu berücksichtigen (Sprau, a. a. O., § 844 Rn. 25).

Unerheblich ist demgegenüber der von den Beklagten behauptete Vorfall vom 18.09.2020, zu dem sie vortragen, der Kläger zu 1. und dessen Sohn M. W. seien an diesem Tag an der Unfallstelle dem einen Traktor führenden Beklagten zu 1. begegnet und hätten seinen Traktor bespuckt, Herr M. W. sei überdies mit erhobenen Fäusten auf den Beklagten zu 1. zugegangen und haben versucht, ihm verbal drohend nach dem Leben zu trachten (Klageerwiderung vom 20.01.2021, S. 8, Bl. 26 d. A.; Schriftsatz vom 12.03.2021, S. 6, Bl. 98 d. A.). Abgesehen davon, dass das dem Kläger zu 1. zustehende Hinterbliebenengeld nicht von Handlungen Dritter beeinflusst wird, etwa denen seines Sohnes M. W., welche er sich nicht zurechnen lassen muss, ist der von den Beklagten in Bezug auf den Kläger zu 1. behauptete Sachverhalt – eine nicht im Einzelnen vorgetragene Meinungsverschiedenheit mit dem Beklagten zu 1., bei dem der Kläger zu 1. jedenfalls den Traktor des Beklagten zu 1. bespuckt habe – nicht geeignet, dass anspruchsbegründende, dem Kläger zu 1. entstandene seelische Leid nachträglich zu relativieren.

Nach den vorgenannten Maßstäben bemisst der Senat das den Klägern zustehende Hinterbliebenengeld hinsichtlich der Kläger zu 1. und 2. mit jeweils 8.000 Euro, bezüglich der Klägerin zu 3. mit 6.500 Euro. Dabei berücksichtigt der Senat zunächst das den Klägern jeweils entstandene seelische Leid, das im Fall der Kläger zu 1. und 2., den Eltern des Verstorbenen, eine überdurchschnittlich erhebliche Intensität und Dauer angenommen hat. Zu dieser Überzeugung gelangt der Senat angesichts des persönlichen Vortrags der Kläger zu 1. und 2. und den von ihnen gewonnenen Eindrücken in der mündlichen Verhandlung vom 13.12.2023, die eine intensive und langanhaltende Befassung mit dem Tod ihres Sohnes erkennen lassen, sowie – damit einhergehend – den bei ihnen vorhandenen, nachvollziehbaren Wunsch, die Umstände des streitgegenständlichen Unfallereignisses auch noch nach einem Zeitraum von rund 3,5 Jahren möglichst detailliert aufzuklären. Dieser Wunsch sowie die intensive Befassung mit dem Tod ihres Sohnes wird ferner dadurch dokumentiert, dass die Kläger zu 1. und 2. den Dezember 2020 anhängigen Rechtsstreit bis zuletzt intensiv begleitet und zum Zwecke der Aufklärung des Sachverhaltes insgesamt fünf Gutachten bzw. gutachterliche Stellungnahmen von zwei verschiedenen Sachverständigen eingeholt haben. Ferner berücksichtigt der Senat das verkehrswidrige Verhalten und die von dem Beklagtenfahrzeug im Unfallzeitpunkt ausgegangene erhöhte Betriebsgefahr. Anspruchsmindernd hat der Senat jedoch das für die Entstehung des Unfalls mitursächliche Verhalten des Verstorbenen zu berücksichtigen, der den Beklagten zu 1. entsprechend den vorstehenden Ausführungen bei unklarer Verkehrslage überholte. Bei Abwägung dieser Umstände bemisst der Senat das den Klägern zu 1. und 2. zustehende Hinterbliebenengeld in vorgenannter Höhe.

Das der Klägerin zu 3. zustehende Hinterbliebenengeld bemisst der Senat mit 6.500 Euro. Der Senat ist aufgrund der Anhörung der Kläger zu 1. und 2. davon überzeugt, dass die Klägerin zu 3. infolge des Todes des Verstorbenen nicht nur bis zur Gegenwart in erheblicher Weise seelisches Leid erfahren hat, sondern darüber hinaus auch in ihrem durch eine Schwerbehinderung mit einhergehenden epileptischen Anfällen geprägten Lebensalltag mit dem Verstorbenen eine wichtige Bezugsperson verlor, die ihr bei alltäglichen Verrichtungen wie der Physio- und Reittherapie ihre Unterstützung und Halt bot. Einschränkend ist auch insoweit das für die Entstehung des Unfalls mitursächliche Verhalten des Verstorbenen zu berücksichtigen, sodass sich bei Abwägung dieser Umstände das o. g. Hinterbliebenengeld ergibt.

 

Für die Eltern bemisst das OLG Celle die Höhe des Hinterbliebenengeldes (je 8.000 €) unter Berücksichtigung folgender Gründe:

  • überdurchschnittliches seelisches Leid der Eltern
  • Eltern begleiteten das Verfahren in erheblichem Umfang
  • erhöhte Betriebsgefahr des abbiegenden Traktors
  • mindernd: Mitverschulden durch Überholen bei unklarer Verkehrslage, also Mitverschulden und Betriebsgefahr des Fahrzeuges
  • nicht mindernd war ein anschließendes Fehlverhalten eines Dritten, der wohl (in Gegenwart des Vaters des Verstorbenen) den Traktor nach dem tödlichen Unfall bespuckt hatte und verbal drohend dem Beklagten nach dem Leben getrachtet habe

Für die jüngere bemisst das OLG Celle die Höhe des Hinterbliebenengeldes (6.500 €) unter Berücksichtigung folgender Gründe:

  • Schwester ist schwerbehindert und verlor eine wichtige Bezugsperson
  • Verstorbener hatte der Schwester Halt und Unterstützung bei Physio- und Reittherapie geboten
  • mindernd: Mitverschulden durch Überholen bei unklarer Verkehrslage, also Mitverschulden und Betriebsgefahr des Fahrzeuges
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