Verkehrsrecht: der Auffahrunfall
AG Brühl, Urteil vom 17.05.2024 – 23 C 220/23
und
OLG Hamm, Urteil vom 27.11.2020 – 7 U 24/19
LG Münster, Urteil vom 11.07.2024 – 8 O 7/22
OLG München, Endurteil vom 25.10.2019 – 10 U 3171/18
BGH, Urteil vom 07.02.2012 – VI ZR 133/11
AG Hildesheim, Urteil vom 07.08.2008 – 47 C 119/08
Sachverhalt
Ein Kraftfahrzeug fährt auf ein anderes Kraftfahrzeug.
Hier gibt es viele Varianten. Hierzu ein kleiner Überblick über ergangene Entscheidungen:
Entscheidungen
Um einen Auffahrunfall zu verhindern, muss zunächst ein ausreichender Abstand stets eingehalten werden:
„Doch muss ein Verkehrsteilnehmer jederzeit damit rechnen, dass ein Vorausfahrender plötzlich bremst: Gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 StVO muss der Abstand von einem vorausfahrenden Fahrzeug in der Regel so groß sein, dass auch dann hinter ihm gehalten werden kann, wenn es plötzlich gebremst wird. Gerade vor Lichtzeichenanlagen ist jederzeit wegen der Möglichkeit eines Umschaltens der Anlage mit einem plötzlichen Abbremsen von Vorausfahrenden zu rechnen (vgl. LG Landau, Urteil vom 31.08.2004, 1 S 109/04; OLG Düsseldorf, DAR 1975, 303; KG Berlin, VM 1983, 13; Hentschel- König , Straßenverkehrsrecht, 39. Auflage München 2007, § 4 StVO Rn. 7, 11; Geigel- Zieres , Der Haftpflichtprozess, 25. Auflage München 2008, 27. Kap. Rn. 146). Es liegt mithin kein atypischer Geschehensablauf vor, der den Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Beklagten zu 1) entkräftet, zumal der Kläger – wie nachstehend näher dargelegt wird – nicht ohne zwingenden Grund stark abbremste (zur Erschütterung des Anscheinsbeweises bei grundlosem Abbremsen vgl. OLG Frankfurt, NJW 2007, 87).‟
vgl. AG Hildesheim, Urteil vom 07.08.2008 – 47 C 119/08
Folgeverkehr muss sich auf plötzliches Bremsen der Vorausfahrenden einstellen:
„Auf ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden musste sich der nachfolgende Verkehr ohnehin einstellen (vgl. BGH, Urteil vom 16.01.2007, VI ZR 248/05 – juris Rn. 6; OLG Karlsruhe, Urteil vom 28.04.2017, 9 U 189/15, NJW 2017, 2626 Rn. 24), (…)‟
vgl. OLG Hamm, Urteil vom 27.11.2020 – 7 U 24/19
Nähert man sich einer Kreuzung, ist stets besondere Aufmerksamkeit zu wahren. Denn bei Gelblicht darf/muss der vorausfahrende Verkehrsteilnehmer auch sehr scharf bremsen:
„Das Berufungsgericht hat allerdings festgestellt, dass der Beklagte zu 1 in die Kreuzung eingefahren ist, obwohl die Lichtzeichenanlage für ihn schon längere Zeit Gelb zeigte. Darin hat es mit Recht einen Verstoß gegen § 37 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 StVO gesehen, wonach das Wechsellichtzeichen Gelb an einer Kreuzung anordnet, auf das nächste Zeichen zu warten. Hiergegen hat der Beklagte zu 1 verstoßen, denn das Berufungsgericht nimmt an, dass er in die Kreuzung eingefahren ist, obwohl die Lichtzeichenanlage für ihn schon mehrere Sekunden lang Gelb zeigte. Im Hinblick darauf ist es davon ausgegangen, dass es ihm möglich gewesen wäre, seinen Pkw vor der Kreuzung anzuhalten, wozu er mithin auch verpflichtet gewesen wäre.‟
vgl. BGH, Urteil vom 07.02.2012 – VI ZR 133/11
Wegen dieser hohen Sorgfaltsanforderungen des nachkommenden Verkehrs spricht ein Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden, wenn sich ein Auffahrunfall ereignet:
„2. Zwischen den Parteien ist der Unfallhergang unstreitig, weshalb die Beklagten zunächst zu 100% für den Unfall haften, weil der Beklagte zu 2) durch sein Auffahren und die dadurch entstandene Kettenreaktion (Schieben des übernächsten Fahrzeugs in die vom Kläger benutzte Gegenfahrbahn) den Unfall verursacht hat. Bei Auffahrunfällen spricht bereits der erste Anschein dafür, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 I StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 I StVO) (vgl. BGH, Urteil vom 13. Dezember 2016 – VI ZR 32/16 -, [juris]; BGH Urteil vom 13. Dezember 2011, VI ZR 177/10, BGHZ 192, 84 Rn. 7). Die Beklagten haben den für das Auffahren auf das vorausfahrende Fahrzeug wirkenden Anscheinsbeweis nicht entkräftet bzw. erschüttert, da sie der vom Kläger geschilderten Unfalldarstellung nicht entgegentreten sind.‟
vgl. OLG München, Endurteil vom 25.10.2019 – 10 U 3171/18
„Grundsätzlich spricht bei einem Auffahrunfall der erste Anschein dafür, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat, unaufmerksam war oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist; denn der Kraftfahrer ist verpflichtet, seine Fahrweise so einzurichten, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, wenn ein Hindernis auf der Fahrbahn auftaucht (BGH, Urteil vom 13.12.2016, VI ZR 32/16, NJW 2017, 1177; Urteil vom 16.01.2007, VI ZR 248/05 – juris; OLG Hamm, Beschluss vom 06.09.2018, 7 U 31/18 – juris).‟
vgl. OLG Hamm, Urteil vom 27.11.2020 – 7 U 24/19
Aber: was ist ein Auffahrunfall?
„Um einen Auffahrunfall handelt es sich, wenn zwei Fahrzeuge im gleichgerichteten Verkehr fahren, es zu einer Kollision der beiden Fahrzeuge kommt und mindestens eine Teilüberdeckung von Heck und Front vorliegt (KG BeckRS 2014, 06024; NZV 2008, 197; OLG Oldenburg NZV 1991, 428). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Aus dem unstreitigen Parteivortrag ergibt sich, dass das klägerische Fahrzeug im Bereich des linken hinteren Scheibenrades, Radlaufs und Stoßfängers beschädigt wurde. Schäden am Heck des klägerischen Fahrzeuges liegen nicht vor. Dies deckt sich auch mit der als Anlage HWC1 vorgelegten Unfallmitteilung der Polizei (Bl. 48 d.A.).‟
vgl. AG Brühl, Urteil vom 17.05.2024 – 23 C 220/23
Mangels Typizität gibt es keinen typischen Geschehensablauf, wenn es sich um einen Kettenunfall handelt, und damit auch keinen Anscheinsbeweis:
„Vorliegend ist unstreitig, dass der Zeuge L seinerseits (leicht) auf das klägerische Fahrzeug aufgefahren ist und der Anhalteweg der Gesellschafterin der Klägerin dadurch verkürzt wurde. Damit fehlt es im Verhältnis zwischen dem Zeugen L und der Klägerin an dem erforderlichen typischen Geschehensablauf, ein Anscheinsbeweis greift nicht ein. Dies gilt auch im Verhältnis zum Beklagten zu 1 als erstem Fahrer in der Kette. Damit ist die Frage, inwieweit die Gesellschafterin der Klägerin den gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO gebotenen Sicherheitsabstand zum Fahrzeug des Zeugen L eingehalten und ob sie wie gem. § 1 Abs. 2 StVO geboten auf dessen Vollbremsung reagiert hat, offen. Eine weitere diesbezügliche Aufklärung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens war jedoch nicht erforderlich, da auch für den Fall, dass der Gesellschafterin kein Verkehrsverstoß nachgewiesen werden kann, die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs im Verhältnis zu der des Beklagtenfahrzeugs im Rahmen der gebotenen Einzelabwägung der Verursachungsbeiträge des Beklagten zu 1 und der Gesellschafterin der Klägerin so deutlich überwiegt, dass diese dahinter vollständig zurücktritt.‟
vgl. OLG Hamm, Urteil vom 27.11.2020 – 7 U 24/19
Und es greift auch kein Anscheinsbeweis, wenn der Vorausfahrende nicht nur „hart abbremst‟, sondern unvermittelt zum Stillstand gerät:
„Zwar muss ein Kraftfahrer ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden grundsätzlich einkalkulieren. Er muss jedoch nicht mit einem ruckartigen Stehenbleiben seines Vordermannes infolge Auffahrens auf ein Hindernis rechnen, durch das sein Anhalteweg außergewöhnlich verkürzt wird (BGH, Urteil vom 09.12.1986 – VI ZR 138/85 – juris; Urteil vom 16.01.2007, VI ZR 248/05 – juris Rn. 6; Senat, Urteil vom 31.08.2018, 7 U 70/17 – juris Rn. 22; KG Berlin, Urteil vom 06.07.1995, 12 U 1976/94 – juris; OLG Düsseldorf, Urteil vom 12.06.2006, 1 U 206/05 – juris Rn. 30; Helle, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, Stand 22.07.2019, § 4 StVO Rn. 47).‟
vgl. OLG Hamm, Urteil vom 27.11.2020 – 7 U 24/19