Hinterbliebenengeld XIII: Hinterbliebenengeld nach Verkehrsunfall

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Schleswig-Holsteinisches OLG, Urteil vom 23.02.2021 – 7 U 149/20

 

Amtliche Leitsätze

  1. Es gibt keine Legaldefinition für „seelisches Leid“. Mit dem Hinterbliebenengeld soll der Trauerschaden, der die erlittenen seelischen Beeinträchtigungen umfasst, abgegolten werden.
  2. Der Betrag von 10.000,00 € stellt nach dem Sinn und Zweck der neu eingefügten Regelungen (§§ 844 Abs. 3 BGB, 10 Abs. 3 StVG) keine Obergrenze, sondern Anker, Richtschnur und Orientierungshilfe für die Bemessung im Einzelfall dar. Bei der konkreten Bemessung ist § 287 ZPO anwendbar.
  3. Schockschäden für psychisches Leid einerseits und Hinterbliebenengeld für seelisches Leid andererseits stehen nicht in einem Stufenverhältnis zueinander, sondern es handelt sich um zwei unterschiedliche Ansprüche. Andauernde seelische Schmerzen können zumindest gleichwertige oder sogar – je nach Dauer und Intensität – höhere Betroffenheiten auslösen.
  4. Wie beim Schmerzensgeld handelt es sich auch beim Hinterbliebenengeld um einen Anspruch wegen einer immateriellen Einbuße. In beiden Fällen sind sowohl die Ausgleichs- als auch die Genugtuungsfunktion zu berücksichtigen.
  5. Die Bemessung des Hinterbliebenengeldes muss sich in das stimmige Gesamtgefüge der deutschen und europäischen Rechtsprechung zum Schmerzens- / Hinterbliebenengeld einfügen.

 

Zum Fall
Im Dezember 2018 ist der Vater der Klägerin bei einem schweren Verkehrsunfall verunglückt. Der Vater der Klägerin verstarb noch am Unfallort. Die Beklagte ist der Haftpflichtversicherer des unfallverursachenden Fahrers. Die Klägerin verlangt ein Hinterbliebenengeld in Höhe von mindestens 10.000 €.

 

Entscheidung
Das Oberlandesgericht sah ein Hinterbliebenengeld i.H.v. 10.000 € als berechtigt an.

 

1. Besonderes Näheverhältnis
Nach § 10 III StVG (entsprechend § 844 III BGB) schuldet der Ersatzpflichtige dem Hinterbliebenen, der mit dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld. Ein besonders Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene ein Kind des Getöteten ist. Mit dem Hinterbliebenengeld soll der Trauerschaden abgegolten werden, sofern kein Nachweis für eine physische oder psychische Erkrankung geführt werden kann bzw. die Schwelle zum nachweisbarer Schockschaden nicht überschritten wurde.

2. Bemessung des Hinterbliebenengeldes
Das Hinterbliebenengeld soll eine angemessene Entschädigung in Geld für das seelische Leid sein. Es kann nie das Leid des Betroffenen aufwiegen, dient aber zur Anerkennung und Linderung des seelischen Leids. Im Gesetz oder in der Gesetzesbegründung gibt es jedoch keine konkreten Vorgaben, wie die Bemessung erfolgen soll. Allgemeingültige Bemessungskriterien könnten nicht bestimmt werden, da die Beurteilung und Bewertung bei körperlichen und psychischen Schäden stets im Zusammenhang mit vielen Schwierigkeiten verbunden ist.  Das Hinterbliebenengeld erfolgt aus einem Anspruch wegen immaterieller Einbuße (Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion). Als Anhaltspunkt für die Vorstellungen des Gesetzgebers gelte der Betrag von 10.000 €. Dieser stelle aber lediglich einen Anker bzw. Orientierungshilfe für die Bemessung dar. Die Bemessung des Hinterbliebenengeldes muss sich in das stimmige Gesamtgefüge der deutschen und europäischen Rechtsprechung zum Schmerzens-/ Hinterbliebenengeld einfügen (europäisches Entschädigungsniveau deutlich höher)

Das OLG hielt in diesem Fall eine Zahlung von insgesamt 10.000 € für angemessen, weil der Vater der Klägerin verstarb, zu dem sie ein enges Verhältnis pflegte, sie z.B. seine Notfallkontaktperson war.

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