Maßnahmen zur Abwendung von Selbstgefährdungen im Pflegeheim
BGH, Urteil vom 14.01.2021, Az. III ZR 168/19
Sachverhalt
Am 27.04.2014 stürzte ein Heimbewohner aus einem Fenster im dritten Obergeschoss eines Alten- und Pflegeheims und erlitt schwere Verletzungen, die trotz mehrerer Behandlungen ein paar Monate später zum Tod führten. Die Klägerin, Ehefrau des Verstorbenen und dessen Miterbin, verlangt von der Betreiberin des Alten- und Pflegeheims die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes.
Der Ehemann lebte seit Anfang Februar 2014 in dem Pflegeheim, war hochgradig dement und litt unter Gedächtnisstörungen infolge des Korsakow-Syndroms. Ihn verfolgte eine psychisch-motorische Unruhe, sowie eine örtliche, zeitliche und räumliche Desorientierung. Eine besondere Betreuung war aufgrund der Lauftendenz, Selbstgefährdung, nächtlicher Unruhe und auch Sinnestäuschungen notwendig.
Die Beklagte brachte den Verstorbenen in einem Zimmer im Dachgeschoss unter, wobei die zwei großen Dachfenster nicht gegen unbeaufsichtigtes Öffnen gesichert waren. Aus einem dieser Fenster kletterte der Patient hinaus, stürzte hinab und erlitt schwere Verletzungen, die zu seinem Tod führten.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Berufungsgericht die Berufung zurückgewiesen, da Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung fehlten.
Entscheidung
Die Revision der Klägerin gegen das Berufungsurteil hatte Erfolg. Der BGH verwies die Angelegenheit zur erneuten Verhandlung zurück.
Die Obhutspflichten der Beklagten werden durch den Heimvertrag begründet. Der Heimbetreiber hat unter anderem die Pflicht, die anvertrauten Bewohner unter Wahrung der Würde und des Selbstbestimmungsrechts vor Gefahren zu sichern, die Menschenwürde und Freiheitsrecht eines körperlich oder geistig beeinträchtigten Heimbewohners zu achten, sowie die körperliche Unversehrtheit zu schützen. Diesen Pflichten nachzukommen, ist durch finanziellen und personellen Aufwand begrenzt. Maßstab ist – so der BGH – das Erforderliche und das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare.
Die Wahrung dieser Rechte eines geistig und körperlich beeinträchtigen Heimbewohners, kann daher nicht generell geregelt werden, sondern ist abhängig vom Einzelfall unter sorgfältiger Abwägung der Umstände. Maßgeblich für die einzuhaltende Sorgfalt ist, ob aus ex-ante-Perspektive aufgrund der körperlichen oder geistigen Verfassung damit gerechnet werden musste, dass ohne eine Sicherungsmaßnahme der Patient sich selbst schädigen könnte. Eine Gefahr, deren Realisierung zwar unwahrscheinlich erscheint, aber zu besonders schweren Folgen führen kann, begründet bereits Sicherungspflichten des Heimträgers.
Im vorliegenden Fall fehlte es jedoch an einer medizinisch fundierten Risikoprognose und Gesamtbewertung aller Einzelumstände durch die Tatsachengerichte. Schon seit Beginn seines Aufenthalts waren schwere Demenzerscheinungen sowie Sinnestäuschungen des Patienten bekannt. Er kletterte unter anderem mehrfach aus zugewiesenen Gehwagen heraus, wodurch er auch eine gewisse motorische Geschicklichkeit unter Beweis stellte. In den Pflegedokumenten wurden außerdem zahlreiche Ereignisse festgehalten, bei denen der Verstorbene desorientiert versuchte, die Etage zu verlassen. Es bestand zudem eine Sturzgefahr, da der Patient sich unkontrolliert und orientierungslos Treppen näherte.
Die Fenster in seinem Zimmer waren leicht zu öffnen und nicht gesichert. Der davor angebrachte Heizkörper half dabei diese treppenartig zu erreichen.
Unkontrollierte selbstschädigende Handlungen konnten hier somit nicht ausgeschlossen werden. Die Ergreifung von Sicherungsmaßnahmen zur Verhinderung eines Fenstersturzes sind bei erkennbaren, nicht lediglich abstrakt bestehenden Selbstschädigungsgefahren zwingend geboten. Eine Möglichkeit wäre gewesen, verschließbare Fenstergriffe anzubringen oder die Fenster in Kippstellung zu verriegeln. Dies hätte den Patienten in seinen Rechten nicht beeinträchtigt.
Eine Beweislastumkehr im weiteren Verfahrensverlauf sollte der Klägerin nach Vorstellung des BGH allerdings nicht zugutekommen. Der Sturz ereignete sich nicht in einer konkreten Gefahrensituation, bei der der Erblasser einer Pflegekraft im Rahmen einer konkreten Pflegemaßnahme anvertraut war, so dass keine voll beherrschbare Gefahr vorlag.