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Familienprivileg a.F. & gestörte Gesamtschuld

BGH, Urteil vom 07.12.2021, Az.: VI ZR 1189/20

Leitsätze

1. Dem Übergang des Direktanspruchs des Geschädigten gegen den Kfz-Haftpflichtversicherer des schädigenden Fahrzeugführers auf den Sozialversicherungsträger stand auch unter Berücksichtigung der Vorschrift des § 116 Abs. 1 VVG das Familienprivileg des § 116 Abs. 6 SGB X aF entgegen.

2. Der Anspruch gegen den nicht dem Familienprivileg unterfallenden Fahrzeughalter konnte vom Sozialversicherungsträger nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld gegenüber dem Kfz-Haftpflichtversicherer aufgrund seiner Akzessorietät nicht geltend gemacht werden, weil im Innenverhältnis zwischen Halter und Fahrzeugführer der letztere allein für die Unfallfolgen einzustehen hatte.

Sachverhalt

Die Klägerinnen, eine gesetzliche Krankenversicherung und eine Pflegekasse, nehmen den beklagten Kraftfahrzeughaftpflichtversicherer aus übergegangenem Recht ihres Versicherten auf Ersatz materiellen Schadens in Anspruch. Der zum damaligen Zeitpunkt 1 ½ jährige J. saß am 15. Februar 2016 als Beifahrer in einem von seiner Mutter gelenkten Pkw, dessen Halterin seine Großmutter und dessen Haftpflichtversicherer die Beklagte war. Das Fahrzeug geriet bei einem Bremsvorgang ins Schleudern, die Fahrerin verlor die Kontrolle über das Fahrzeug und es kam zu einer frontalen Kollision mit einem entgegenkommenden Lkw. Der Unfall ist von der Fahrerin allein verursacht worden. J. wurde dabei sehr schwer verletzt. Zum Unfallzeitpunkt lebte er in häuslicher Gemeinschaft mit seiner Mutter. Die Klägerinnen haben Leistungen, insbesondere Krankenhausbehandlungen und Pflege und sind der Auffassung, dass das Angehörigenprivileg des § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X aF und die Grundsätze der gestörten Gesamtschuld einem Übergang des Direktanspruchs gegen den Unfallhaftpflichtversicherer gemäß § 116 Abs. 1 SGB X wegen § 116 Abs. 1 VVG nicht entgegenstünden.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung hat das Oberlandesgericht die Beklagte verurteilt, an die Klägerin zu 1 297.787,14 € nebst Zinsen zu zahlen und hinsichtlich beider Klägerinnen jeweils festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihnen sämtliche weiter entstandenen und entstehenden erforderlichen Aufwendungen zu erstatten.

Entscheidung

Das Berufungsurteil hielt der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand: Das Berufungsgericht habe zwar zutreffend gesehen, dass nach § 116 Abs. 6 SGB X aF der Übergang des Anspruchs gegen die Mutter auf die Klägerinnen ausgeschlossen sei, da der Geschädigte mit dieser zum Unfallzeitpunkt in häuslicher Gemeinschaft lebte. Da die Neuregelung des § 116 Abs. 6 SGB X, die nunmehr bestimme, dass ein Ersatzanspruch bei nicht vorsätzlicher Schädigung durch eine Person, die im Zeitpunkt des Schadensereignisses mit dem Geschädigten in häuslicher Gemeinschaft lebt, zwar nach § 116 Abs. 1 SGB X übergehe, aber nicht geltend gemacht werden könne, nur auf Schadensereignisse nach dem 31. Dezember 2020 anzuwenden sei, müssten frühere Schadensereignisse wie der Streitfall nach der Regelung das bis zum 31. Dezember 2020 geltende Rechts entscheiden werden. In der Folge gehe auch der Direktanspruch gegen den Versicherer aus § 115 Abs. 1 VVG, soweit er auf den Schadensersatzanspruch gegen die Fahrerin aus § 18 Abs. 1 StVG bezogen sei, nicht auf die Klägerinnen über.

Im Weiteren sei das zwischen Fahrerin und Halterin (Mutter und Großmutter) bestehende Gesamtschuldverhältnis durch das Angehörigenprivileg des § 116 Abs. 6 SGB X aF gestört. Das mit dem Forderungsübergang entstehende Schuldverhältnis zwischen dem Sozialversicherungsträger und dem Fremdschädiger könne nicht isoliert von der Schuld des angehörigen Schädigers betrachtet werden. Danach kann sich der Sozialversicherungsträger an den Fremdschädiger nur insoweit halten, als dieser im Innenverhältnis zum angehörigen Schädiger den Schaden zu tragen habe. Die Halterin (Großmutter) haftet hier dem Sozialversicherungsträger jedoch nicht, weil sie im Innenverhältnis zum angehörigen Schädiger den Schaden nicht zu tragen habe. Eine Klage gegen die Halterin wäre abzuweisen. Dann bestehe aber auch kein akzessorischer Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer. Da die Fahrerin (Mutter) vom Angehörigenprivileg des § 116 Abs. 6 SGB X aF profitiere, sei nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld die Halterin nur in jenem Umfang haftbar, der ohne die Haftungsprivilegierung von ihr als Gesamtschuldnerin zu tragen wäre, da einerseits die haftungsrechtliche Privilegierung des angehörigen Schädigers nicht durch eine Heranziehung im Rahmen eines Gesamtschuldregresses unterlaufen werden solle, andererseits es nicht gerechtfertigt wäre, den nicht privilegierten Gesamtschuldner im Ergebnis den Schaden allein tragen zu lassen. Im Innenverhältnis zwischen der aus Verschulden (§ 18 Abs. 1 StVG bzw. § 823 Abs. 1 BGB) haftenden Fahrerin (Mutter) einerseits und der allein nach § 7 Abs. 1 StVG aufgrund bloßer Gefährdungshaftung haftenden Fahrzeughalterin (Großmutter) andererseits habe allein Erstere für die gesamten Unfallfolgen einzustehen. Es bestehe kein sachlicher Grund, die Begünstigungen des familienangehörigen Erstschädigers, die letztlich dem Versicherten des Sozialversicherungsträgers und seinen Familienbelangen zugutekommen sollen, im Ergebnis zu Lasten des Zweitschädigers ausschlagen zu lassen. Dies führe dazu, dass die Halterin (Großmutter) nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld gänzlich von der Haftung frei sei. Der Umstand, dass ein Direktanspruch gegen einen Kfz-Haftpflichtversicherer bestehe, welcher nach § 116 Abs. 1 Satz 1 VVG bzw. nach altem Recht gemäß § 3 Nr. 9 PflVG letztlich den Schaden allein zu tragen habe, stehe der Anwendung der Grundsätze über die gestörte Gesamtschuld im Hinblick auf ein für einen mithaftenden Schädiger bestehendes Haftungsprivileg nicht entgegen.

Relevanz

Damit spricht sich der BGH gegen die Anwendung der neuen Rechtsfolgen des § 116 Abs. 6 SGB X auf Altfälle aus, was von einigen SVT wegen der Neuregelung eingewandt wird bzw. nun wurde.

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