Beweislastumkehr Arzthaftungsrecht analog
BGH, Urteil vom 4.4.2019 — Aktenzeichen: III ZR 35/18
Die Beweislastgrundsätze des Arzthaftungsrechts können auf Sachverhalte des allgemeinen Haftpflichtrechts übertragen werden. Mit Urteil vom 04.04.2019 hat der BGH die Voraussetzungen hierfür im Fall einer unterlassenen Hilfeleistung im Sportunterricht zusammengefasst und darüber hinaus konkretisiert, wann im Amtshaftungsrecht nach § 839 BGB die Haftungsbeschränkung des § 680 BGB gilt.
Leitsatz
1. Bei pflichtwidrig unterlassenen Erste-Hilfe-Maßnahmen von Sportlehrern bei einem Unglücksfall während des Sportunterrichts beschränkt sich die Haftung (§ 839 BGB, Art. 34 Satz 1 GG) nicht auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit, da das Haftungsprivileg für Nothelfer (§ 680 BGB) nicht eingreift.
2. Bei grober Fahrlässigkeit sind in einem solchen Fall die im Arzthaftungsrecht entwickelten Beweisgrundsätze bei groben Behandlungsfehlern (Beweislastumkehr), die nach der Senatsrechtsprechung entsprechend bei grober Verletzung von spezifisch dem Schutz von Leben und Gesundheit dienenden Berufs- oder Organisationspflichten (Kernpflichten) gelten, nicht anwendbar, da es sich bei der Amtspflicht der Sportlehrer zur Ersten Hilfe nicht um eine Haupt-, sondern nur eine Nebenpflicht der Lehrkräfte handelt.
Sachverhalt
Der Kläger war Schüler der Schule X. Während des Sportunterrichts traten Kopfschmerzen auf und er wurde ohnmächtig. Nach dem Notruf der Sportlehrer stellten die eintreffenden Rettungssanitäter fest, dass der Kläger nicht mehr atmete. Er musste wiederbelebt werden, nachdem er beim Eintreffen des Notarztes bereits 8 Minuten ohne Eigenatmung und ohne jegliche Laienreanimation bewusstlos gewesen ist. Anschließend wurde beim Kläger ein hypoxischer Hirnschaden nach Kammerflimmern diagnostiziert, wobei die Genese unklar war. Er behauptet, sein gesundheitlicher Zustand sei unmittelbare Folge des erlittenen hypoxischen Hirnschadens wegen mangelnder Sauerstoffversorgung des Gehirns infolge unterlassener Reanimationsmaßnahmen durch die beiden Sportlehrer. Er nimmt das zuständige Land als Dienstherr der Sportlehrer wegen Amtshaftung nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG auf immateriellen und materiellen Schadensersatz in Anspruch.
Das Landgericht hat die Klage nach Vernehmung der Zeugen abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die vom Senat zugelassene Revision des Klägers.
Entscheidung
Die Revision hatte Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz, da die Annahme der Instanzgerichte, es fehle an ausreichenden Anknüpfungstatsachen für ein Sachverständigengutachten zur Kausalitätsfrage der unterlassenen Hilfeleistung der Lehrer für die Schäden, unzutreffend sei.
Abseits dieses Verfahrensfehlers hatte sich der Kläger entsprechend den im Arzthaftungsrecht entwickelten Beweisgrundsätzen bei groben Behandlungsfehlern darauf berufen, das Berufungsgericht hätte wegen der Vergleichbarkeit der Interessenlage auch in seinem Fall eine Umkehr der Beweislast annehmen müssen. Dem widerspricht der BGH zwar, macht jedoch umfassende Ausführungen dazu, in welchen Fällen eine analoge Anwendung der Beweislastgrundsätze des Arzthaftungsrechts zulässig ist:
Im Arzthaftungsrecht führt ein grober Behandlungsfehler, der geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, regelmäßig zur Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Fehler und dem Gesundheitsschaden; § 630h Abs. 5 BGB. Diese Grundsätze gelten nach der Rechtsprechung des BGH wegen der Vergleichbarkeit der Interessenlage entsprechend bei grober Verletzung von Berufs- oder Organisationspflichten, sofern diese, ähnlich wie beim Arztberuf, spezifisch dem Schutz von Leben und Gesundheit anderer dienen. Wer eine solche besondere Berufs- oder Organisationspflicht, andere vor Gefahren für Leben und Gesundheit zu bewahren, grob vernachlässigt hat, kann nach Treu und Glauben die Folgen der Ungewissheit, ob der Schaden abwendbar war, nicht dem Geschädigten aufbürden. Auch in derartigen Fällen kann die regelmäßige Beweislastverteilung dem Geschädigten nicht zugemutet werden. Der seine Pflichten grob Vernachlässigende muss daher die Nichtursächlichkeit festgestellter Fehler beweisen, die allgemein als geeignet anzusehen sind, einen Schaden nach Art des eingetretenen herbeizuführen (zB Senat, Urteile vom 11.05.2017 — III ZR 92/16, BGHZ 215, 44 Rn. 24 und vom 23.11.2017 — III ZR 60/16, BGHZ 217, 50 Rn. 24). Im Urteil vom 23.11.2017 (aaO) ging es um die Pflichten der Bäderaufsicht. Insoweit hat der Senat ausgeführt, dass diese Pflichten wegen der dem Schwimmbetrieb immanenten spezifischen Gefahren für Gesundheit und Leben der Badegäste besonders und in erster Linie dem Schutz dieser Rechtsgüter dienen. Bei einer groben Verletzung dieser „Kernpflichten“ ist dem Geschädigten die regelmäßige Beweislastverteilung nicht mehr zuzumuten — also Beweislastumkehr analog zum Arzthaftungsrecht, weil vergleichbare Interessenlage.Im Urteil vom 11.05.2017 ging es um einen Hausnotrufvertrag, der in erster Linie gerade den Schutz von Leben und Gesundheit der zumeist älteren und pflegebedürftigen Menschen bezweckte und bei dem dieses Dienstleistungsangebot die zentrale Aussage eines Werbeprospekts war. Auch dort wurde Vergleichbarkeit bejaht.
Selbst grob fahrlässige Versäumnisse von Lehrkräften, die in der Schule überraschend mit einer Notsituation oder einem Unglücksfall konfrontiert werden, sind nach Ansicht des BGH jedoch nicht vergleichbar mit ärztlichen Pflichtverstößen wie groben Behandlungs- oder Diagnosefehlern beziehungsweise schwerwiegenden Verstößen gegen die Regeln der ärztlichen Kunst im Rahmen freiwillig übernommener Behandlungsverhältnisse.Denn die Hauptaufgabe der Schule besteht in der Erziehung und Unterrichtung der ihr anvertrauten Schüler. Bei der Durchführung dieser Aufgabe trifft die Schule zwar auch die Amtspflicht, die Schüler zu beaufsichtigen, um sie im rechtlich und tatsächlich möglichen und zumutbaren Umfang vor Schäden an Gesundheit und Vermögen zu bewahren. Die daraus folgende Amtspflicht zur Ersten Hilfe bei Notfällen ist wertungsmäßig jedoch nur eine die oben angesprochene Hauptpflicht begleitende Pflicht beziehungsweise Nebenpflicht. Die Sportlehrer werden an der Schule nicht primär oder in erster Linie — sondern vielmehr „auch“ — eingesetzt, um in Notsituationen Erste-Hilfe-Maßnahmen durchführen zu können. Eine Verletzung dieser Nebenpflicht, auch wenn sie grob fahrlässig erfolgt sein sollte, rechtfertigt keine Beweislastumkehr in Anlehnung an die oben aufgeführten Fallgruppen.
Der Kläger bleibt somit in der Beweisplicht für die Kausalität (noch einzuholendes Sachverständigengutachten).
Das beklagte Land hatte sich generell gegen eine Inanspruchnahme mit dem Argument gewehrt, dass zugunsten der beteiligten Sportlehrer und damit des Landes das Haftungsprivileg des § 680 BGB auch im Rahmen des § 839 BGB eingreife. Nach § 680 BGB haftet der Geschäftsführer nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit, wenn die Geschäftsführung die Abwendung einer dem Geschäftsherrn drohenden dringenden Gefahr bezweckt. Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass bei einer die Voraussetzungen einer Geschäftsführung ohne Auftrag erfüllenden Nothilfe die Haftungsbeschränkung des § 680 BGB auch für einen konkurrierenden Anspruch aus § 823 BGB gilt. Der BGH hatte im Rahmen der Frage einer analogen Anwendung des § 680 BGB auf Amtshaftungsansprüche bereits entschieden, dass der Haftungsmaßstab des § 680 BGB nicht auf Amtspflichtverletzungen professioneller Nothelfer (z.B. Berufsfeuerwehr) angewendet werden kann (vgl.: BGH, NJW 2018, 2723). Anders bei einer spontan bei einem Unglücksfall Hilfe leistenden unbeteiligten Person, die keine öffentlich-rechtliche Verpflichtung zur Hilfeleistung habe. Zwar seien die Sportlehrer des Beklagten keine professionellen Nothelfer, bei denen — wie im Bereich der öffentlich-rechtlich organisierten Gefahrenabwehr — die betroffene Tätigkeit den Kernbereich ihrer öffentlich-rechtlich zugewiesenen Aufgaben bilde. Gleichwohl verneint der BGH hier eine Anwendbarkeit des § 680 BGB. Denn Sportlehrern obliegt ähnlich wie bei professionellen Nothelfern die Amtspflicht, etwa erforderliche und zumutbare Erste-Hilfe-Maßnahmen rechtzeitig und in ordnungsgemäßer Weise durchzuführen. Um dies zu gewährleisten, mussten die Sportlehrer des beklagten Landes über eine aktuelle Ausbildung in Erster Hilfe verfügen.Es wäre daher nicht angemessen, wenn der Staat einerseits die Schüler zur Teilnahme am Sportunterricht verpflichtet, andererseits bei Notfällen im Sportunterricht eine Haftung für Amtspflichtverletzungen der zur Durchführung des staatlichen Sportunterrichts berufenen Lehrkräfte nur bei grober Fahrlässigkeit und damit nur in Ausnahmefällen eintreten solle.
Etwas kurios ist an der Entscheidung, dass die für den Kläger zuständige Unfallkasse den Vorfall nicht als Versicherungsfall nach § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Nr. 8b SGB VII anerkannt hat. Dies leuchtet nicht ein. Eine auf Anerkennung gerichtet Klage vor den Sozialgerichten hat der Kläger nicht erhoben. Der Beklagte hat erstinstanzlich den Verzicht auf die nochmalige Eröffnung eines sozialrechtlichen Verfahrens erklärt. Dies aller verwundert: Für den Kläger wäre es günstig, den Unfall als Versicherungsfall anerkennen zu lassen. Er erhält dann umfangreiche SVT-Leistungen wie z.B. eine lebenslange Verletztenrente. Auch der Schädiger bzw. das Land hätte von einer Anerkennung profitiert, da er sich dann auf ein Haftungsprivileg nach §§ 104, 105 SGB VII hätte berufen können.