Weiteres Schmerzensgeld bei Verschlimmerung
OLG Düsseldorf, Urteil v. 27.04.2021, AZ.: 1 U 152/20
Leitsätze
1. Verlangt der Geschädigte wegen der Chronifizierung seiner unfallbedingten, behandlungsbedürftigen Erkrankung ein weiteres Schmerzensgeld, kann dem die Rechtskraft des vorangegangenen Schmerzensgeldurteils entgegenstehen.
2. Ob sich Verletzungsfolgen im Zeitpunkt der Zuerkennung eines Schmerzensgeldes im Vorprozess nach den Kenntnissen und Erfahrungen eines insoweit Sachkundigen als derart nahe liegend darstellten, dass sie schon dort bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigt werden konnten, beurteilt sich nicht nach der prozentualen Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieser Verletzungsfolgen. Entscheidend ist allein die objektive Möglichkeit des Geschädigten, das diesbezügliche Risiko zu diesem Zeitpunkt schmerzensgelderhöhend geltend zu machen.
3. Nur dann, wenn eine Berücksichtigung der Verletzungsfolge so gut wie ausgeschlossen erscheint, weil die Möglichkeit ihres Eintritts eher theoretischer Natur, ohne jegliche konkrete Anhaltspunkte ist, weswegen sie ein Sachkundiger nicht in eine Darstellung möglicher Verletzungsfolgen aufnehmen würde, fehlt es an der objektiven Möglichkeit in dem vorgenannten Sinne.
Sachverhalt
Die 1947 geborene Klägerin begehrt von den Beklagten die Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes wegen einer psychischen Erkrankung, die sie auf einen tödlichen Verkehrsunfall ihres Ehemannes im Jahr 2003 zurückführt. Die alleinige Unfallverantwortlichkeit der Beklagten steht zwischen den Parteien nicht in Streit. Die Klägerin nahm daraufhin die Beklagten vor dem Landgericht Duisburg unter anderem auf Schmerzensgeld wegen infolge des Unfalls erlittener psychischer Beeinträchtigungen in Anspruch. Das Landgericht Duisburg holte ein psychiatrisches Gutachten der Sachverständigen K. ein, die bei der Klägerin eine Anpassungsstörung im Sinne einer abnormen prolongierten Trauerreaktion (ICD-10: F 43.21) diagnostizierte. Es bestehe nach wie vor eine akute Behandlungsbedürftigkeit. Unter intensiver psychotherapeutischer Begleitung sei damit zu rechnen, dass die erhebliche Instabilität und Dysbalance gebessert und stabilisiert werden könne. Auf der Grundlage der sachverständigen Ausführungen entschied das Landgericht Duisburg unter anderem, dass die Beklagten ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000,00 Euro an die Klägerin zu zahlen haben und verpflichtet sind, ihr jeden weiteren über den ausgeurteilten Schmerzensgeldbetrag hinausgehenden Schaden aus dem Verkehrsunfall zu ersetzen.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 17.12.2018 forderte die Klägerin die Beklagten auf, bis zum 14.01.2019 ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 Euro an sie zu zahlen, was von der Beklagten zu 3) in einem Schreiben vom 15.01.2019 unter Verweis auf das rechtskräftige Urteil im Vorprozess abgelehnt wurde. Die Klägerin hat behauptet, sie leide weiterhin unter der im Vorprozess festgestellten traumatischen verlustbezogenen Trauer in Form einer Anpassungsstörung und dieser Zustand sei nunmehr entsprechend den Ausführungen der Therapeutin M. von dauerhafter Natur. Zusätzlich seien die Krankheitssymptome jetzt mit suizidalen Tendenzen durchsetzt. Die Klägerin ist der Ansicht, die Rechtskraft der Entscheidung über den Schmerzensgeldanspruch im Vorprozess umfasse ihren nunmehr dauerhaften Krankheitszustand nicht, weil nach dem im Vorprozess eingeholten Gutachten mit einer Besserung des Zustands zu rechnen gewesen sei. Die veränderte Situation in Gestalt einer Chronifizierung ihres Krankheitszustandes rechtfertige ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von nunmehr 30.000,00 Euro. Dies klagt sie ein….
Entscheidung
Und verliert: Da die Behandlung der unfallbedingten Verletzung noch nicht abgeschlossen sei und sich – wie regelmäßig – der Behandlungserfolg nicht sicher vorhersagen ließe, bestehe für den Geschädigten bei Erhebung seiner Schmerzensgeldklage die Gelegenheit wie auch der Anlass, entweder einen Aufschlag auf das Schmerzensgeld wegen des fortbestehenden Risikos geltend zu machen oder aber sich auf eine offene Teilklage zu beschränken, mit der die mögliche, aber noch nicht eingetretene Schadensfolge aus der Schmerzensgeldbemessung herausgenommen wird. So hätte die Klägerin vorgehen müssen.
Dass die im Vorprozess aufgestellte Prognose, wonach mit einer Besserung des Zustands zu rechnen sei, an die Voraussetzung einer erfolgreichen Therapie geknüpft ist, habe die Sachverständige K. an mehreren Stellen ihres Gutachtens deutlich hervorgehoben. Sie habe damit inzident verdeutlicht, dass diese Therapie auch scheitern und der Behandlungserfolg ausbleiben könne. Insofern sei es vorhersehbar gewesen, dass der Krankheitszustand der Klägerin gegebenenfalls auch ohne Besserung bleiben könne. Es bedürfe keiner Feststellungen zu der Frage, wie wahrscheinlich ein Misserfolg einer psychotherapeutischen Behandlung und damit eine Chronifizierung der Erkrankung im Zeitpunkt des Vorprozesses gewesen sei. Maßgeblich sei allein die konkrete Möglichkeit, eine bestimmte Verletzungsfolge im Rahmen der Schmerzensgeldforderung zu berücksichtigen. Eine solche Möglichkeit bestehe grundsätzlich unabhängig von dem Grad der Wahrscheinlichkeit, der für den Eintritt dieser Verletzungsfolge spreche. Auch wenn nach den Erkenntnismöglichkeiten eines Sachkundigen nur eine geringe Wahrscheinlichkeit für den Eintritt der Verletzungsfolge spreche, werde der Geschädigte grundsätzlich in die Lage versetzt, seine Schmerzensgeldforderung zu beschränken und eine weitere Klage zu erheben, sobald die Folge eingetreten sei. Nur dann, wenn eine Berücksichtigung der Verletzungsfolge so gut wie ausgeschlossen erscheine, weil die Möglichkeit ihres Eintritts eher theoretischer Natur ohne konkrete Anhaltspunkte sei, weswegen sie ein Sachkundiger nicht in eine Darstellung möglicher Verletzungsfolgen aufnehmen würde, fehle es an der objektiven Vorhersehbarkeit im oben dargestellten Sinne. Bei wie chronifizierten Leiden liege aber keine nur theoretischen Möglichkeit vor.