Alleinverantwortlichkeit des PKW-Fahrers bei Unfall in Baustellenbereich

Michael PeusMichael Peus

OLG Hamm, Beschluss vom 23.06.2023 – 11 U 37/22

Sachverhalt

Der Kläger befuhr mit seinem PKW eine Autobahn und wollte diese an einer Abfahrt verlassen. In dem Abfahrtsbereich gab es eine größere Baustelle. Diese war mit gelben Leitlinien, Absperrbaken und auch Schildern. versehen. Dass diese ausreichend gewesen seien wurde von dem Kläger ebenso angegriffen wie der Umstand, dass sie irrtumserregend gewesen seien und bestimmte Abstände nicht eingehalten gewesen wären. Jedenfalls bog der Kläger – behauptet auch wegen Nebels – zu früh ab und setzte mit dem Karosserieboden auf dem Asphalt auf, weil die rechten Räder des Fahrzeuges in dem Baugraben rechts der Fahrbahn keinen Untergrund vorfanden. Die öffentliche Hand wurde im Rahmen des § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG in Anspruch genommen. Das Landgericht wies die Klage ab, da keine Pflichtverletzung vorgelegen habe.

Der Kläger stellte die Entscheidung zur Überprüfung.

Entscheidung

Die Berufung hatte keinen Erfolg. Zuvor hat das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 23.06.2023 auf folgende Umstände hingewiesen:

  1. Trotz Einschaltung eines Bauunternehmers bleibe eine öffentlich-rechtliche Verkehrssicherungspflicht bei der öffentlichen Hand.
  2. Ob es einen Beschilderungsplan durch dir öffentliche Hand gegeben hat, ist jedenfalls dann unerheblich, wenn die konkreten Maßnahmen genügten. Entscheidend ist die tatsächliche Absicherung:

    Der vom Kläger geltend gemachte Schadensersatzanspruch im Zusammenhang mit einer vermeintlich unzureichenden Absicherung einer Baustelle ist danach zu beurteilen, wie die Unfallstelle tatsächlich abgesichert war. Maßgeblich waren die konkreten Verhältnisse vor Ort und nicht etwaige abstrakte Planungsvorstellungen des beklagten Landes, das sich nicht darauf beruft, dass die angeordneten Absicherungen nicht oder nicht richtig vor Ort umgesetzt wurden (vgl. dazu auch: OLG München, Urteil vom 16.02.2012 – 1 U 3409/11 – BeckRS 2012, 4400).

  3. Wenn eine durchgezogene Linie grundsätzlich erkennbar ist, bleibt sie wirksam, auch wenn sie an einigen Stellen verschmutzt und ggfls. etwas beschädigt ist:

    Die Feststellung des Landgerichts, wonach die durchgezogene Linie in dem Bereich, in dem der Kläger nach seinem Vorbringen abgebogen sein will, als solche erkennbar gewesen sei, ist frei von Rechtsfehlern. Insbesondere konnte das Landgericht die insoweit getroffenen Feststellungen anhand der zur Gerichtsakte eingereichten Lichtbilder der Unfallstelle treffen. Auf den Lichtbildern I und II auf Bl. 207 und auf dem Lichtbild Ia auf Bl. 213 der landgerichtlichen Akte lässt sich erkennen, dass die durchgezogene Linie im Bereich des Hinweisschildes zwar etwas verdreckt oder geringfügig beschädigt sein mag, jedoch als solche weiterhin deutlich zu erkennen war. Dass eine Erkennbarkeit auch bei den klägerseits behaupteten Sichtverhältnissen gegeben war, durfte das Landgericht ebenfalls annehmen, ohne dass es sich dazu etwa eines Sachverständigen hätte bedienen müssen. Der Kläger hatte – wie jeder andere Verkehrsteilnehmer auch – seine Fahrweise den Sicht- und Witterungsverhältnissen anzupassen (§ 3 Abs. 1 Satz 2 StVO).

  4. Weil ein Verkehrsteilnehmer nach § 3 Abs. 1 StVO seine Fahrweise an die Sichtverhältnisse anzupassen hat, benötigt man kein Sachverständigengutachten für die Frage, ob eine Erkennbarkeit dann gegeben ist:

    Dass eine Erkennbarkeit auch bei den klägerseits behaupteten Sichtverhältnissen gegeben war, durfte das Landgericht ebenfalls annehmen, ohne dass es sich dazu etwa eines Sachverständigen hätte bedienen müssen. Der Kläger hatte – wie jeder andere Verkehrsteilnehmer auch – seine Fahrweise den Sicht- und Witterungsverhältnissen anzupassen (§ 3 Abs. 1 Satz 2 StVO).

  5. Hinweisschilder beanspruchen für sich nicht die Geltung wie Richtzeichen. Hinweisschilder können auch in einiger Entfernung vor der „geltenden‟ Stelle aufgestellt sein:

    Eine Verkehrssicherungspflichtverletzung folgt vorliegend auch nicht aus der Positionierung des Hinweisschildes. Hinsichtlich der Aufstellung von Richtzeichen ordnet § 42 Abs. 3 StVO lediglich an, dass diese dort aufzustellen seien, von wo an die Anordnung zu befolgen ist. Soweit die Zeichen aus Gründen der Leichtigkeit oder der Sicherheit des Verkehrs in einer bestimmten Entfernung zum Beginn der Befolgungspflicht stehen, ist die Entfernung zu dem maßgeblichen Ort auf einem Zusatzzeichen anzugeben. Die Regelung betrifft demnach nur Richtzeichen, welche ein Ge- oder Verbot enthalten, was bei dem Richtzeichen 430 gerade nicht der Fall ist. Es soll lediglich einen besonderen Hinweis zur Erleichterung des Verkehrs geben. Dabei ist es sogar üblich, dass solche Hinweise in einiger Entfernung zum Kreuzungsbereich erfolgen, um dem Fahrer die Möglichkeit zu geben, seine Fahrweise vorausschauend zu gestalten. Es handelt sich insbesondere nicht um ein dem Zeichen 333 (Ausfahrt) vergleichbares Richtzeichen, aufgrund dessen der Kraftfahrer den Schluss ziehen könnte, dass sich eben an dem Aufstellungsort der Beginn der Ausfahrt befindet.

  6. Wenn die allgemeinen sicherungsmaßnahmen genügen, muss auch ein plötzlicher, seitlicher Abfall der Straße (Fräskante) nicht gesondert gesichert werden:

    Letztlich begründet auch der Umstand, dass die Fräskante nicht gesondert gesichert war – entgegen der Annahme des Klägers – keine Verkehrssicherungspflichtverletzung des beklagten Landes. Durch die Kennzeichnung des Fahrbahnverlaufs mittels Leitbaken und durchgezogener Linie wurde hinreichend Sorge dafür getragen, dass Verkehrsteilnehmer nicht in den Baustellenbereich gelangen. Einer zusätzlichen Absicherung in dem für den allgemeinen Verkehr nicht freigegebenen Baustellenbereich bedurfte es vor diesem Hintergrund nicht.

 

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


(keine) schuldhafte Verkehrssicherungspflichtverletzung bei DIN-widrigem Inventar

Michael PeusMichael Peus

Landgericht Passau
SR 000438-23

 

Sachverhalt

Die Beklagte betreibt seit 20 Jahren einen Bereich mit Liegeflächen. In dem Bereich waren hunderte Liegen, vor 20 Jahren aus den USA importiert, für die Besucher zur Nutzung zur Verfügung gestellt. Die Kopflehne war in bekannter Art und Weise aufgebaut, nämlich, dass an der Kopflehne ein „einseitig geöffnetes, abgerundetes Rechteck‟ angebracht war, welches an den beiden Enden mit der Kopflehne verbunden war. Bei der der Öffnung gegenüberliegenden Rechteckseite handelte es sich nur um ein Verbindungsstück. Die andern beiden Rechteckseiten, die einerseits an der Verbindung zur Kopflehen endeten und andererseits in das Verbindungsstück übergingen, hatten jeweils „Zähne‟, die in eine feste Liegenstange unter dem Kopfteil eingreifen konnten und so durch Arretierung den Neigungsgrad des Kopfstücks bestimmten.

Die Klägerin besuchte die Einrichtung und benutzte eine der Liegen. Die Funktionsweise war ihr durch mehrere Nutzungen zuvor bekannt. Ferner ist die Mechanik selbsterklärend. Als sie – auf der Liege seiend (in welcher Ruhe- und Bewegungsart war streitig) – hinter das Kopfteil griff, um das über das Kopfteil befindliche Badetuch zu richten, klappte das Kopfteil zurück und führte zu einer Handverletzung (medizinisch: Teilamputation eines Fingers), deren Umfang auch streitig war.

Ursprünglich führte die Klägerin die Verletzung darauf zurück, dass die Liegenkonstruktion (unstreitig) aus Metall war und wegen des Alters Verschleiß gehabt hätte. Sodann wurde ein Sachverständigengutachten eingeholt. Der Sachverständige führte aus, dass
a)  das Material „Metall‟ zumindest nicht kausal war,
b) Verschleiß nicht vorhanden war, sondern die Liege uneingeschränkt funktionstüchtig war,
c) im Klappmechanismus eine DIN-widrige Quetschmöglichkeit vorläge. 

Sodann stützte die Klägerin ihre Klage auf die DIN-widrige Quetschmöglichkeit. Die DIN existierte (unstreitig) bereits zum Zeitpunkt des Imports der Liege. Dass die Kausalität der DIN-Problematik streitig war, hielt das Amtsgericht nicht davon ab, die Rechtsansicht zu vertreten, eine Haftung der Beklagten wegen einer schuldhaften Verkehrssicherungspflichtverletzung sei gegeben. Das Amtsgericht gab der Klage auf Schmerzensgeld statt.

Gegen das Urteil des Amtsgerichts wurde Berufung eingelegt und das Landgericht entschied in Kammerbesetzung.

Entscheidung

Die Berufung hatte Erfolg. Die Klage wurde abgewiesen.

Selbst dann, wenn man eine Kausalität einer DIN-Widrigkeit unterstellen würde, habe die Klägerin keinen Anspruch. Es fehle an einem Verschulden.

Das Landgericht Passau folgt dabei der Rechtsprechung des BGH, wonach man im Rahmen der Verkehrssicherungspflichten gehalten sei, die notwendigen und zumutbaren Maßnahmen zu treffen, um andere nicht zu schädigen (…). Dabei könnten DIN-Normen die Sorgfaltspflichten konkretisieren. DIN-Normen seien nicht abschließend, würden aber grundsätzlich den Stand von Wissenschaft und Technik abbilden. Bereits durch den Import der DIN-widrigen Liegen seine objektiv eine Pflichtverletzung erfüllt.

Allerdings fehle es an einem Verschulden der Beklagten. Das Landgericht folgte dabei der hiesigen Hilfsargumentation. Diesseits wurde darauf verwiesen, dass niemand zig tausende DIN-Normen kennen könne und auch nicht die Einhaltung derer durch wiederholte Begehungen des Betriebs sicherstellen könne. Das wäre unverhältnismäßig und würde im Übrigen nicht einmal von öffentlich zugänglichen Gebäuden (Rathäusern, Gerichten etc.) gehandhabt.
Das Landgericht folgte der hiesigen Argumentation (jedenfalls) insoweit, dass es ausführte:

Die Beklagte war aus besonderen persönlichen Gründen nicht zu einer Abwendung der
von der Liege ausgehenden Gefahr verpflichtet, weil sie nicht erkennen konnte, dass die Liege
den maßgeblichen DIN-Normen nicht entsprach. Bei einer solchen Sachlage ist ausnahmsweise
der Schluss von der Nichteinhaltung der “äußeren” Sorgfalt auf eine Verletzung der “inneren”
Sorgfalt nicht gerechtfertigt (vgl. dazu v. Bar, JuS 1988, 169 (173); Deutsch, HaftungsR I, 1976,
S. 276 ff., (279); Steffen, in: RGRK, § 823 Rdnr. 144; s. auch BGHZ 80, 186 (199) = NJW 1981,
1603 = LM § 823 (Dc) BGB Nr. 130; Senat, NJW 1986, 2757 = LM § 823 (Dc) BGB Nr. 152 =
VersR 1986, 765 (766)).

Denn beim Import der Liegen entsprachen diese der Art und dem Erscheinungsbild her den herkömmlichen Liegen. Eine Pflicht, importierte Waren anlasslos durch einen Sachverständigen auf DIN-Konformität zu überprüfen lassen, bestehe nicht. Und bei der Nutzung der hunderten Liegen über 20 Jahre hinweg ohne jeden (bekannten) Zwischenfall sei auch in der Folgezeit keine Kontrollpflicht ausgelöst worden.

Schließlich führt das Gericht auch aus, dass es keine anlasslose Überprüfungspflicht des gesamten Betriebes gab:

dd. Eine schuldhafte Verkehrspflichtverletzung der Beklagten kann – anders als das Amtsgericht Passau annimmt – auch nicht darin gesehen werden, dass die Beklagte es unterlassen hat, in regelmäßigen Abständen anlasslos ihren Betrieb mitsamt den streitgegenständlichen Liegen auf die Einhaltung aktueller Sicherheitsbestimmungen überprüfen zu lassen. Eine solche allgemeine Überprüfungs-, Nachrüstungs- und Anpassungspflicht besteht für den Betreiber einer Anlage gerade nicht. Vielmehr ist eine Einzelfallprüfung durchzuführen und danach zu fragen, ob sich im konkreten Einzelfall die naheliegende Gefahr ergibt, dass durch die bestehende technische Anlage – ohne Nachrüstung – Rechtsgüter anderer verletzt werden können. Denn welche Sicherheit und welcher Gefahrenschutz im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht zu gewährleisten sind, richtet sich nicht ausschließlich nach den modernsten Erkenntnissen und nach dem neuesten Stand der Technik. Es kommt vielmehr maßgeblich auch auf die Art der Gefahrenquelle an. Je größer die Gefahr und je schwerwiegender die im Falle ihrer Verwirklichung drohenden Folgen sind, umso eher wird eine Anpassung an neueste Sicherheitsstandards geboten sein (vgl. hierzu BGH, NJW 2010, 1967). Ein konkreter Handlungsbedarf bestand für die Beklagte in Hinblick auf eine Überprüfung der vorhandenen Liegen und den Erwerb neuer DIN-Norm-konformer Liegen nicht. Der seit dem Import der Liegen bestehende Konstruktionsfehler und die damit verbundene Gefahr für Verletzungen der Gäste war für einen durchschnittlichen Klinikbetreiber wie die Beklagte nicht erkennbar. Ein konkreter Anlass, die Liegen auf Funktionstüchtigkeit und Verkehrssicherheit durch einen Sachverständigen überprüfen zu lassen, ergab sich bis zum streitgegenständlichen Vorfall am 31.05.2018 gerade nicht. Mit einer über das allgemeine Lebensrisiko hinausgehenden Gefährlichkeit der Liegen musste niemand rechnen. Eine regelmäßige anlasslose Überprüfung der Liegen, welche nur zusammen mit einer regelmäßigen anlasslosen Überprüfung des
gesamten Geschäftsbetriebs der Beklagten sinnvoll erscheinen würde, durch fachkundige Personen wie Sachverständige ist in rechtlicher Hinsicht weder geboten noch kann ein solches Vorgehen mit den entsprechenden Konsequenzen einer nach dem Rat der Sachverständigen durchzuführenden Anpassung und Erneuerung der Beklagten finanziell und mit Blick auf die Funktionsfähigkeit ihres Betriebes zugemutet werden.

 

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


Einheitlicher Vergütungsanspruch des Bauträgers ist der Regelfall: 10-jährige Verjährungsfrist

Michael PeusMichael Peus

BGH, Urteil vom 07.12.2023 – VII ZR 231/22

Sachverhalt
Die Klägerin ist Bauträgerin. Sie begehrt von den Beklagten die Zahlung der letzten Rate aus einem Bauträgervertrag über den Erwerb einer Eigentumswohnung in Höhe von 15.511,50 € nebst Zinsen.

Mit notariellem Bauträgervertrag vom 26.02.2013 veräußerte die Klägerin an die Beklagten zwei Miteigentumsanteile an einer von der Klägerin auf klägerischem Grundbesitz zu errichtenden Anlage, verbunden mit dem Sondereigentum an einer Wohnung und dem Sondereigentum an einem PKW-Abstellplatz, zum Preis von insgesamt 448.900 €. Der Vertrag enthält einen Ratenplan zur Kaufpreiszahlung. Danach ist der Kaufpreis in sieben vom Baufortschritt abhängigen Raten zu zahlen. Die Schlussrate von 3,5 % des vereinbarten Preises (= 15.711,50 €) ist vertragsgemäß nach vollständiger Fertigstellung zu zahlen.

Sodann kam es zu folgender Chronologie:

20.06.2014 Begehung der Wohnung durch Klägerin und Beklagte. Dabei wurde ein von den Anwesenden unterzeichnetes Abnahmeprotokoll erstellt, in dem 27 Beanstandungen aufgeführt wurden. In diesem Protokoll heißt es unter anderem: „Die Übergabe/Abnahme erfolgt gemäß des Kaufvertrags vom 26.02.2013; UR Nr.‟
23.06.2014 auf diesen Zeitpunkt bezogene Abnahme des Gemeinschaftseigentums ohne Außenanlage und Tiefgarage
11.07.2014 auf diesen Zeitpunkt bezogene Abnahme der Außenanlage und Tiefgarage
06.11.2014 Erklärung der Abnahme des Gemeinschaftseigentums (ohne Außenanlage und Tiefgarage) rückwirkend zum 23.06.2014 und rückwirkend zum 11.07.2014 die Abnahme hinsichtlich Außenanlagen und Tiefgarage.
21.11.2014 Bautenstandsmeldung, das Objekt vollständig fertiggestellt zu haben.
24.11.2014 Mitteilung der Klägerin an den Beklagten, dass der Bautenstand „vollständige Fertigstellung‟ erreicht sei, und Aufforderung zur Zahlung der letzten noch offenen Rate in Höhe von 15.711,50 €.
08.12.2014 Zurückweisung der Zahlungsaufforderung durch die Beklagten wegen Baumängeln.
28.12.2017 Antrag auf Erlass eines Mahnbescheides
03.01.2018 Zustellung des Mahnbescheides
11.01.2018 Widerspruch gegen den Mahnbescheid
15.01.2018 Information der Klägerin über den Widerspruch
??.??.2018 Verzicht auf die Einrede der Verjährung durch die Beklagten bis zum 31.12.2018
28.12.2018 Eingang des Kostenvorschusses
02.01.2019 Abgabe des Verfahrens an das Landgericht
24.09.2020 Anspruchsbegründung
05.02.2021 Zustellung der Anspruchsbegründung bei der Beklagten

Die Beklagten haben im Rechtsstreit die Einrede der Verjährung erhoben. Daneben berufen sie sich auf ein Zurückbehaltungsrecht wegen der von ihnen gerügten Mängel, deren Beseitigungsaufwand sie unter Berücksichtigung eines anzusetzenden Druckzuschlags auf 33.545,51 € beziffern. Die Klägerin hat eine Minderung ihrer Vergütung wegen Mängeln in Höhe von 200 € anerkannt und diesen Betrag von der Schlussrate in Abzug gebracht. Im Übrigen ist sie der Auffassung, dass die erhobenen Mängelrügen kein Zurückbehaltungsrecht, jedenfalls nicht in Höhe der Klageforderung, rechtfertigten.

Das Landgericht hat die Klage wegen des Eintritts der Verjährung abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

Die Revision führte zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgerichts.

 

Entscheidungsgründe

1. Die vereinbarte Bauträgervergütung war nicht aufteilbar in einen Kaufpreis für die Grundstücksanteile einerseits und eine Vergütung für die Bauleistungen andererseits. Eine Aufteilung der Bauträgervergütung in einen Kaufpreis für das Grundstück einerseits und eine Vergütung für die Bauleistungen andererseits kommt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (…) allenfalls dann in Betracht, wenn die Parteien eine derartige Aufteilung vereinbaren.

2. Ein Anspruch der Klägerin auf Erhalt einer einheitlichen Vergütung kann nur einheitlich verjähren (vgl. Hertel, DNotZ 2002, 6, 22; Pause/Vogel, Bauträgerkauf und Baumodelle, 7. Aufl., Kap. 4 Rn. 365). Für den einheitlichen Vergütungsanspruch des Bauträgers gilt nicht die dreijährige Regelverjährungsfrist gemäß § 195 BGB, sondern die zehnjährige Verjährungsfrist gemäß § 196 BGB. Denn § 196 BGB ist dahin auszulegen, dass die in dieser Vorschrift geregelte Verjährungsfrist für den einheitlichen Vergütungsanspruch des Bauträgers aus einem Bauträgervertrag gilt. Nach § 196 BGB verjähren Ansprüche auf Übertragung des Eigentums an einem Grundstück sowie auf Begründung, Übertragung oder Aufhebung eines Rechts an einem Grundstück oder auf Änderung des Inhalts eines solchen Rechts sowie die Ansprüche auf die Gegenleistung in zehn Jahren. § 196 BGB verdrängt insoweit als speziellere gesetzliche Regelung die Vorschrift des § 195 BGB. Die Vorschrift des § 195 BGB stellt innerhalb des Verjährungsrechts die Grundnorm dar. Sie ist jedoch nur anwendbar, wenn sie nicht durch eine speziellere Regelung verdrängt wird (vgl. BeckOGK/Piekenbrock, BGB, Stand: 15. Mai 2023, § 195 Rn. 13, 13.1). § 196 BGB stellt eine solche speziellere Verjährungsregelung dar (vgl. BGH, Urteil vom 21. November 2014- V ZR 32/14 Rn. 22, NJW-RR 2015, 338). Diese spezielle Verjährungsregelung ist auch auf den Vergütungsanspruch des Bauträgers anwendbar.

(….) Danach ist die zehnjährige Verjährungsfrist gemäß § 196 BGB im Streitfall nicht abgelaufen. Denn der Anspruch der Klägerin auf Zahlung der letzten Rate ist jedenfalls nicht vor November 2014 fällig geworden.

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


keine Haftung bei Baumsturz

Michael PeusMichael Peus

OLG Hamm Beschluss vom 28.06.2023, Az. 11 U 170/22

Sachverhalt

Der Teil eines Baumes aus einem Waldgebiet fiel bei orkanartigem Sturmgeschehen auf eine öffentliche Straße. Das Fahrzeug des Klägers wurde dadurch geschädigt. In Anspruch wurde die öffentliche Hand im Wege der Amtshaftung genommen. Das Landgericht wies die auf Schadensersatz gerichtete Klage ab. Der Kläger stellte die Entscheidung zur Überprüfung durch das Oberlandesgericht Hamm.

Entscheidung
Das OLG Hamm wies darauf hin, dass es dem Rechtsmittel des Klägers keinen Erfolg beimesse. Wesentlich seien hierfür folgende Erwägungen:

  1. Der Baum stand in einem Waldstück. Es handelte sich mangels besonderer Merkmale, welche ihn zu einem Straßenbaum machen würden, nicht um einen Straßenbaum, auf den sich eine Amtspflicht der öffentlich-rechtlichen Verkehrssicherungspflicht erstrecke (Verweis auf BGH, 19.01.1989, III ZR 258/87).
  2. Selbst wenn es sich um einen Straßenbaum handele und sich eine öffentlich-rechtliche Verkehrssicherungspflicht auf ihn erstrecke, sei die Klage unbegründet:
      • Der Pflichtenumfang läge grundsätzlich nur in Kontrollen; lediglich in Ausnahmefällen müssten Verkehrswege gesperrt werden, wenn eine Kontrolle nicht in angemessener Zeit habe erfolgen können:

        „Denn der Straßenbaulastträger hat aufgrund der ihm für die Straße obliegenden Verkehrssicherungspflicht zur Abwehr der von Straßenbäumen ausgehenden Gefahren nur die Maßnahmen zu treffen, die einerseits zum Schutz gegen Astbruch und Umsturz erforderlich sind, andererseits ihm unter Berücksichtigung des umfangreichen Baumbestandes der öffentlichen Hand auch zumutbar sind. Er genügt seiner Überwachungs- und  Verkehrssicherungspflicht hinsichtlich der Straßenbäume, wenn er diese in regelmäßigen zeitlichen Abständen hin auf die Standsicherheit hin kontrolliert. Er hat die dabei von ihm als gefahrbringend festgestellten Bäume oder Teile von diesen zu entfernen. Ist ihm dies innerhalb angemessener Zeit nicht möglich, kann ihn im Einzelfall auch die Pflicht treffen, die Straße bis zur Beseitigung des gefahrbringenden Baumes oder Teiles davon für den Verkehr zu sperren.‟

      • Bäume bedeuten allgemein eine abstrakte Gefahr. Diese ist jedem bekannt und sind Teil des allgemeinen Lebensrisikos (vgl. auch BGH, Urteil vom 06.03.2014, III ZR 352/13).

        „Dass nicht jede von einem Baum oder einzelnen seiner Äste ausgehende Gefahr immer von außen erkennbar ist, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Vielmehr muss der Verkehr gewisse Gefahren, die nicht durch menschliches Handeln entstehen, sondern auf Gegebenheiten oder Gewalten der Natur beruhen, als unvermeidbar hinnehmen. Eine Verletzung der  Verkehrssicherungspflicht liegt deshalb in solchen Fällen nur vor, wenn Anzeichen verkannt oder übersehen worden sind, die nach der Erfahrung auf eine weitere Gefahr durch den Baum hinweisen (BGH, Urteil vom 21.01.1965 – III ZR 217/63, juris Rn. 13; Senatsurteil vom 30.10.2020 – 11 U 34/20, juris Rn. 7; Senatsbeschluss vom 04.11.2013 – 11 U 38/13, juris Rn. 13; Senatsbeschluss vom 04.11. 2022 – I-11 U 86/21 -, juris Rn. 6).‟

      • Allgemein gilt bezüglich der Verkehrssicherungspflicht auch in der Ausprägung als Amtspflicht, dass nur in „vernünftigem‟ Ausmaß Sicherheit geschuldet ist:

        „Die der Beklagten als Straßenbaulastträgerin nach §§ 9, 9a StrWG NW obliegende Straßenverkehrssicherungspflicht umfasst (nur) diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren (BGH, Urteil vom 6. Februar 2007 – VI ZR 274/05 -, Rn. 14, juris). Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnet werden kann. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar. Deshalb muss nicht für alle denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Es sind vielmehr nur diejenigen Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden. Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 Abs. 2 BGB) ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält.‟

      • Nach dem allgemeinen Grundsatz des Umfangs der Verkehrssicherungspflicht war allgemein wegen Existenz des Baumes eine Sperrung des Straßenabschnitts nicht notwendig:

        „Nach diesen Grundsätzen muss der Träger der Straßenbaulast bei einem aufkommen-den Sturm nicht einzelne Straßenabschnitte sperren, um bereits vorbeugend den sonst teilnehmenden Verkehr vor Schäden durch auf die Straße umstürzende Bäume oder Teile davon zu schützen.‟

      • Nach allgemeinen Grundsätzen musste vor Gefahren nur gewarnt werden, wenn eine Gefahr nicht rechtzeitig erkannt werden kann:

        „Darüber hinaus muss der Verkehrssicherungspflichtige auch nur diejenigen Gefahren ausräumen oder vor ihnen warnen, die für den Benutzer, der die erforderliche Sorgfalt walten lässt, nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten vermag (OLG Köln, Beschluss vom 07.01.2016 – 7 U 160/15 – juris Rn. 5).‟

      • Deshalb gab es auch im konkreten Einzelfall keine Pflicht zur Warnung, dass Bäume bei Orkan umfallen können oder sich Teile von ihnen lösen:

        „Dass bei einem orkanartigen Sturm die Gefahr besteht, dass umherwehende Gegenstände oder umstehende Bäume oder Teile von ihnen auf die Straße stürzen, ist aber allgemein bekannt, so dass sich jeder umsichtige Verkehrsteilnehmer auf die damit einhergehenden Gefahren – und sei es durch einen Verzicht auf das Befahren der Straße – einstellen kann. Aufgrund dieser allgemein anzunehmenden Kenntnis besteht kein Anspruch darauf, durch den Inhaber der Verkehrssicherungspflicht vor Schäden, welche auf solche Extremwetterlagen und damit höhere Gewalt zurückzuführen sind, gewarnt oder – wie vom Kläger verlangt – durch vorbeugende Maßnahmen geschützt zu werden (Wingler in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 10. Aufl., § 839 BGB [Stand: 21.03.2023], Rn. 564).‟

      • Ein Absperren wäre für eine Kommune bzw. sonstigen Amtsträger wegen des personellen Aufwands unzumutbar:

        „Zudem würde die Annahme einer solchermaßen weitgehenden Verkehrssicherungspflicht den Verkehrssicherungspflichtigen auch in personeller und wirtschaftlicher Hinsicht überfordern und wäre ihm deshalb auch nicht zumutbar.‟

  3. Selbst wenn an anderer Stelle Maßnahmen wie das Absperren von Straßen erfolgt sein sollten, wären diese nach den allgemeinen Maßstäben überobligatorisch und würden damit den Pflichtenkreis nicht erweitern.

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


Recht im Winter – Lichterkette im Mietshaus / Weihnachtsbaum im Gefängnis

Michael PeusMichael Peus

AG Eschweiler, Urteil vom 01.08.2014 – 26 C 43/14
und
LG Berlin, Urteil vom 01.06.2010 – 65 S 390/09
und
KG, Beschluss vom 14.09.2017 – 5 Ws 180/17 Vollz

 

Sachverhalte

  1. Das Amtsgericht Eschweiler hatte einen Sachverhalt zu entscheiden, bei dem sich der Vermieter an der Lichterkette seiner Mieter störte, welche aus sechzehn durch ein Kabel verbundenen – de gustibus non est disputandum – verschieden farbigen runden Leuchtkörpern auf einer Gesamtlänge von drei Metern bestand. Mit Blick auf den Mietvertrag klagte der Vermieter auf Entfernung der Lichterkette. Der Mietvertrag enthält folgende Regelungen:

    Nach Ziffer 2 bedarf der Mieter für Instandsetzung jeglicher Art, baulichen oder sonstigen Änderungen und neuen Einrichtungen die vorherige Zustimmung des Vermieters. Nach Ziffer 3 hat der Mieter sich verpflichtet, bauliche oder sonstige Änderungen und Einrichtungen, die er ohne Zustimmung des Vermieters vorgenommen hat, auf Verlangen des Vermieters zu beseitigen. Nach Ziffer 3 dürfen Außenantennen, Reklameschilder, Leuchtreklame, Schaukästen, Plakate, Warenautomaten usw. der vorherigen Zustimmung des Vermieters. Wegen des genauen Wortlauts wird auf die als Anlage K1 zur Akte gelangte Urkunde des Mietvertrages verwiesen.

  2. Ebenfalls über eine Lichterkette an einem vermieteten Objekt hatte das Landgericht Berlin zu entscheiden. Wegen der nicht konkret genehmigten Lichterkette wurde – neben anderen Gründen – die Kündigung des Mietverhältnisses erklärt.
  3.  Das Kammergericht hatte einen Sachverhalt zu entscheiden, in dem ein Strafgefangener einen künstlichen Weihnachtsbaum inklusive Lichterkette in seinem Haftraum aufstellen wollte. Das wurde von der Justizanstalt verboten.

 

Entscheidungen

  1. Der Mieter durfte seine Lichterkette behalten und weiterbetreiben. Auch wenn er keine Zustimmung des Vermieters eingeholt hatte, sei die Klausel im Mietvertrag tatsächlich so zu verstehen, dass die Zustimmung des Vermieters auch hierfür erforderlich gewesen wäre. Aber eine Beseitigung würde voraussetzen, dass durch die Nutzung des Balkons mit Lichterkette der vertragsgemäße Gebrauch der Mietsache – hier: Balkon – überschritten sei. Das sei nicht der Fall:

    „Denn es ist anerkannt, dass der vertragsgemäße Gebrauch des Außenbereichs der Mietwohnung anders als die Ausgestaltung der Lebensverhältnisse innerhalb der Wohnung im Einzelfall Einschränkungen unterliegen kann. Dabei hat das Gericht nicht darüber zu befinden, ob die Verwendung der Lichterkette ästhetischen Anforderungen genügt. Denn dann würde es unzulässiger Weise sein Ästhetisches Empfunden an die Stelle des Empfindens der Parteien setzen. Zwar wird der Gesamteindruck des Hauses durch die sichtbare Lichterkette beeinflusst. Die Beeinflussung überschreitet aber nicht das Maß einer Beeinflussung durch die ohne weiteres zulässige Verwendung von z. B. bunten Sonnenschirmen oder einer ebenfalls ohne weiteres zulässigen Balkonbepflanzung und Bestuhlung. Angesichts der zwischenzeitlichen Üblichkeit der Verwendung von Leuchtkörpern im Außenbereich in allen gesellschaftlichen Schichten geht von der Verwendung der konkreten Lichterkette auch kein Makel aus. Mithin hat die Klägerin ihre Verwendung zu dulden.‟

  2. Das Landgericht Berlin hat die Zulässigkeit der Anbringung einer Lichterkette in dem dort zu entscheidenden Fall offengelassen, aber herausgestellt, dass selbst eine Unzulässigkeit kein Kündigungsgrund des Mietverhältnisses wäre:

    Die Lichterkette rechtfertigt auch eine Kündigung nicht. Ob es sich überhaupt um eine Pflichtverletzung handelt, soll hier ausdrücklich dahinstehen, denn immerhin handelt es sich um eine inzwischen weit verbreitete Sitte, in der Zeit vor und nach Weihnachten, Fenster und Balkone mit elektrischer Beleuchtung zu schmücken. Selbst wenn man, obwohl es mangels entsprechender Vereinbarung im Mietvertrag dazu schon keinen Anlass gibt, eine solche gleichwohl unterstellen wollte, handelte es sich jedenfalls um eine so verhältnismäßig geringfügige, dass sie weder eine fristlose noch eine fristgemäße Kündigung rechtfertigen könnte.

  3. Das Kammergericht hat das Verbot der Anstaltsleitung bestätigt. Nachdem bereits für natürliche Weihnachtsbäume entschieden sei, dass diese in Hafträumen unzulässig seien, sei dies nun auch für künstliche Weihnachtsbäume zu bestätigen. Von den Bäumen gehe eine Gefahr der Sicherheit aus, weil mit einer Lichterkette gefesselt und stranguliert werden könne sowie „Pendelkontakt‟ zu anderen Hafträumen hergestellt werden könne. Hohlräume in künstlichen Weihnachtsbäumen würden im Übrigen Möglichkeiten geben, Waffen, Werkzeuge oder Drogen zu verstecken.

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


Recht im Winter – Sommerreifen bei Winterwetter

Michael PeusMichael Peus

AG Lüdinghausen, Urteil vom 29.09.2023, Az. 11 C 65/22  

Sachverhalt Unfall mit Sommerreifen bei Winter

Fahrer F fuhr mit seinem Pkw, auf welchem Sommerreifen montiert waren, bei Winterwetter (leichter Schneefall) im öffentlichen Straßenverkehr. Er konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und kollidierte mit dem Fahrzeug des A, welches seinerseits bereits vor diesem Zusammenstoß in einen Unfall verwickelt war und daher am Unfallort auf der Fahrbahn stand. Streitig war – und konnte letztlich auch nicht durch Sachverständigengutachten geklärt werden –, ob sich die erste Kollision in einem erheblichen Zeitraum vor der zweiten Kollision (F in A) ereignete, sodass die verminderte Bremswirkung der Sommerreifen unfallursächlich war oder ob die erste Kollision sich derart ereignete, dass sie unmittelbar im Fahrweg des F erfolgte, daher der Bremsweg verkürzt wurde und F selbst im Falle von montierten Winterreifen nicht mehr unfallvermeidend hätte bremsen können.

Der Kfz-Haftpflichtversicherer von F regulierte 2/3 des Schadens des A, der aus dem zweiten Unfall entstand. A klagte gegen F und seinen Kfz-Haftpflichtversicherer auf das übrige Drittel.

Entscheidungsgründe

Das Gericht wies die Klage ab. Der Kläger hatte keine weitergehenden Ansprüche, da seine Ansprüche durch Erfüllung (§ 362 BGB) erloschen waren.

Da zwei Kraftfahrzeuge beteiligt waren, welche jeweils der Betriebsgefahr unterlagen und das Unfallereignis für niemanden unabwendbar war (, wobei auf den Idealfahrer abzustellen ist, OLG Hamm, Urteil vom 11. September 2012, I-9 U 32/12), hin die Haftungsverteilung gemäß § 17 Abs. 1 Satz 2 StVG davon ab, inwieweit der Unfall von dem einen oder anderen verursacht worden ist. Nur unstreitige oder erwiesene Tatsachen konnten hier Berücksichtigung finden.

Unstreitig war, dass das Fahrzeug des F mit Sommerreifen ausgestattet war, obwohl die Wetterverhältnisse Winterreifen erfordert hätten (vgl. § 2 Abs. 3a StVO). Das führt zur Erhöhung der Betriebsgefahr des Fahrzeuges des F.

Aufgrund des Sachverhaltes stand nicht fest, ob diese Pflichtverletzung (Sommerreifen statt Winterreifen) unfallursächlich gewesen ist. Dies war auch durch einen Sachverständigen nicht feststellbar.

Daher bestand kein Anspruch des A über den regulierten Teil hinaus.

 

Anmerkung

Ob A überhaupt 2/3 verlangen konnte, musste das Gericht nicht mit Rechtskraft entscheiden. Es führte aus, dass es die vorgerichtliche Regulierung als zutreffend ansähe. Hierüber könnte man indes streiten. Denn eine Pflichtverletzung, welche sich nicht kausal ausgewirkt hat (vgl. BGH NJW 1995, 1029 zur absoluten Fahruntüchtigkeit), müsste unbeachtet bleiben. Dann wäre die Quote 50-50 gewesen. Darauf kam es indes vorliegend nicht an.

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


Recht im Winter – Übersicht 2024

Michael PeusMichael Peus

Übersicht zu Artikeln „Winter & Recht‟:

– Vorstellung und Kommentierung  zur ergangenen Rechtsprechung nach Themen der Urteile –

 

Dachlawinen:

Dachlawine beschädigt Kfz, OLG Hamm, RA Krappel

Dachlawinen und Kfz, LG Detmold u. OLG Hamm, RA Peus

 

Fußgängerstürze wegen Glätte:

Sturz auf Bahnhofsgelände, BGH, RA Dr. Schmidt

Sturz auf dem Bahnhofsgelände, OLG Hamm, RA Möhlenkamp

Sturz auf dem Weg zum Kfz, OLG München, RA Dr. Schmidt

Sturz wegen Glätte nach streupflichtiger Zeit, LG Braunschweig, RA Möhlenkamp

Sturz wegen ungeeigneten Streumittels, OLG Hamm, RA Möhlenkamp

 

Mieter

Lichterkette am Balkon der Mietwohnung, RA Peus

 

Sommerreifen

Unfall mit Sommerreifen bei Schnee, RA Peus

 

Weihnachtsbräuche:

Lichterkette am Balkon der Mietwohnung, RA Peus

Sturz über Schlauch auf Weihnachtsmarkt, OLG Sachsen-Anhalt, RA Dr. Schmidt

Verkehrssicherungspflicht für Weihnachtsbaum, OLG Düsseldorf, RA Peus

Weihnachtsbaum in Gefängniszelle: nicht gestattet, RA Peus

 

Winterreifen

Winterreifen am Mietwagen von Schadensersatzanspruch umfasst, RA Peus

Winterreifen am Radarmesswagen, RA Peus

 

Wintersport:

Rodeln und Skifreizeit, AG Bonn und LG Augsburg, RA Peus

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


Recht im Winter – Geschwindigkeitsmesswagen mit Winterreifen

Michael PeusMichael Peus

AG Landstuhl, Beschluss vom 05.02.2022 – 2 OWi 4211 Js 8338/21

Geschwindigkeitsmesswagen müssen geeicht sein. Vorliegend war es so, dass der Geschwindigkeitsmesswagen zwar geeicht war, aber mit Sommerreifen. Zum Zeitpunkt der Geschwindigkeitsmessung waren Winterreifen montiert. „Leider‟ hatten diese Winterreifen dieselbe Größe, weshalb das Gericht den Vorwurf der fehlerhaften Messung zurückwies:

„Der Verstoß wurde gemessen mit dem geeichten Messfahrzeug des Typs Provida 2000 modular. Laut Eichschein (AS19) wurde das Messgerät im Kraftfahrzeug am 1.9.2020 geeicht, wobei die Eichfrist am 31.12.2021 endete. Die Eichung erfolgte mit Sommerreifen der Größe 255/40 R19. Zum Messzeitpunkt waren Winterreifen derselben Größe aufgezogen (AS84), sodass nur eine formale Diskrepanz, aber keine eichrechtliche oder messtechnische Relevanz vorliegt (OLG Hamm Beschl. v. 7.6.2011 – III – 1 RBs 75/11, BeckRS 2011, 20102).‟

 

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


Recht im Winter – Winterreifen im Rahmen des Schadensersatzanspruchs

Michael PeusMichael Peus

Winterreifenaufschlag beim Mietwagen ein Schaden?

AG Wuppertal, Urteil vom 23.02.2021 – 31 C 102/20 – 

 

Es war streitig, ob ein Geschädigter, der schadenbedingt (z.B. nach einem Verkehrsunfall) einen Mietwagen anmieten muss, Anspruch auf die Kostenposition „Winterreifen‟ hat.

Das Landgericht Essen urteilte im Jahr 2009, dass ein im Winter angemieteter Mietwagen Winterreifen haben müsse. Diese könnten mithin nicht gesondert abgerechnet und in Rechnung gestellt werden:

„Winterreifen gehören bei einem im Dezember gemieteten Fahrzeug zur Grundausstattung; sie rechtfertigen daher keine Aufschlag.‟

vgl. LG Essen, Urteil vom 13.01.2009 – 15 S 265/08

Abweichend sah es das Landgericht Karlsruhe (Urteil vom 27.09.2013 – 10 O 122/13), welches neben dem Normaltarif ungeprüft auch die Aufschläge für Winterreifen zusprach.

Nachvollziehbar führte das LG Düsseldorf zu der heute herrschenden Rechtsansicht aus, dass es darauf ankomme, ob der örtliche Markt üblicherweise gesondertes Entgelt für Winterreifen verlangt oder nicht. Dies sei entscheidend für die Frage, ob diese Kostenposition nach § 249 BGB einen Schaden darstelle:

„bb) Hinsichtlich der Erstattungsfähigkeit der Kosten für die Winterbereifung besteht Streit. Die Klägerin fordert in den Fällen, 2, 3, 5, 8 und 9 diese Kosten. Nach Ansicht des Gerichts sind diese Kosten ebenfalls grundsätzlich erstattungsfähige Nebenleistungen. Denn gemäß § 249 Abs. 2 S. 1 BGB haben die Geschädigten Anspruch auf die zur Naturalrestitution erforderlichen Mittel. „Erforderlich“ ist demnach der Geldbetrag, der nach den Marktgegebenheiten für eine solche Anmietung aufgewandt werden muss. Wenn auf dem Mietwagenmarkt Mietfahrzeuge mit Winterbereifung nur gegen Zahlung eines Zuschlags für dieses Ausstattungsmerkmal angeboten werden, dann ist der zusätzliche Kostenaufwand für die Ausstattung mit Winterreifen erforderlich i. S. v. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB. Vorausgesetzt ist dabei, dass die Winterbereifung ihrerseits erforderlich ist, um den Verlust der Nutzungsmöglichkeit des eigenen Kfz auszugleichen. Dies ist nicht nur stets dann der Fall, wenn das verunfallte Kfz mit Winterreifen ausgestattet war, sondern auch in allen Fällen, in denen während der Mietdauer ernstlich mit der Möglichkeit von Wetterlagen gerechnet werden muss, die mit Rücksicht auf § 2 Abs. 3a StVO a.F. eine Winterausrüstung des Mietwagens erforderlich machen. Da der Mieter Verantwortung für fremdes Eigentum übernehmen muss, ist ihm in der kalten Jahreszeit die Haftung für den Mietwagen ohne Winterreifen selbst dann nicht zuzumuten, wenn er sein eigenes Fahrzeug nicht mit Winterreifen ausgerüstet hat.

Das Argument, in der Winterzeit sei die Ausrüstung eines Mietwagens mit Winterreifen eine „Selbstverständlichkeit“, die mit dem Normaltarif abgegolten sei, trägt dann nicht, wenn der Markt dies gerade nicht als „selbstverständlich“ voraussetzt. Dass dies so ist, ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus dem Umstand, dass die Schwacke-Liste aufgrund der Erhebungen bei unzähligen Autovermietern Winterreifen als typischerweise gesondert zu vergütende Zusatzausstattung ausweist.‟

vgl. LG Düsseldorf, Urteil vom 23.04.2014 – 7 O 143/13

Dieser Ansicht folgten richtigerweise beispielsweise auch das OLG Düsseldorf, Urteil vom 21. April 2015 – I-1 U 114/14, und das AG Wuppertal, Urteil vom 23.02.2021 – 31 C 102/20.

Dieser Anspruch soll sogar dann bestehen können, wenn das Fahrzeug des Geschädigten keine Winterreifen montiert hat:

Voraussetzung für die Erstattungsfähigkeit der Winterreifen ist dabei aber stets, dass diese ihrerseits erforderlich gewesen sind, um den Verlust der Nutzungsmöglichkeit des eigenen Kfz auszugleichen. Dies ist nicht nur dann der Fall, wenn das verunfallte Kfz mit Winterreifen ausgestattet war, sondern in allen Fällen, in denen während der Mietdauer ernstlich mit der Möglichkeit von Wetterlagen gerechnet werden muss, die mit Rücksicht auf § 2 Abs. 3a StVO eine Winterausrüstung des Mietwagens erforderlich machen. Da der Mieter Verantwortung für fremdes Eigentum übernehmen muss, ist ihm in der kalten Jahreszeit die Haftung für den Mietwagen ohne Winterreifen selbst dann nicht zuzumuten, wenn er sein eigenes Fahrzeug nicht mit Winterreifen ausgerüstet hat (vgl. OLG Stuttgart, NZV 2011, 556 ff.).

vgl. AG Königswinter, Schlussurteil vom 29.11.2022 – 10 C 23/22

Die Anmietung des Ersatzfahrzeuges mit Winterreifen wird in der Regel auch noch im März erforderlich sein, wenn jedenfalls partiell mit Winterwetter gerechnet werden muss.

 vgl. AG Waldbröl, Urteil vom 18.06.2020 – 15 C 10/20

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


zweite und dritte Fristverlängerungsanträge und die Krux mit beA

Michael PeusMichael Peus

BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

BGH, Beschluss vom 10.10.2023 – XI ZB 1/23

 

Sachverhalte

Immer wieder kommt es vor, dass Anwälte bei den Berufungsgerichten beantragen, die Berufungsbegründungsfrist erst-, zweit- oder drittmalig zu verlängern, und die Vorsitzenden des Berufungsgerichts sind der Ansicht, das ginge nun aber nicht.

Fiktiver Fall:

Rechtsanwalt A trifft abends Rechtsanwalt B, als sie im örtlichen Wirtshaus Mandantenakcuise betreiben. Beide stehen sich als Vertreter ihrer Mandanten X bzw. Y vor dem örtlichen Oberlandesgericht in einem Berufungsverfahren gegenüber. A erwähnt beiläufig, dass er schon gespannt ist auf den Erhalt der Berufungsbegründung des B; immerhin laufe die Frist des B ja „heute‟ ab. B, dem leider Kaffee über seinen Fristenkalender gelaufen war und er daher die letzte eingetragene Frist des Tages nicht mehr enträtseln  konnte, schwant, dass der vom Koffein vernichtete Eintrag auf den Ablauf der bereits zweimal (zunächst um einen Monat und sodann um 2 Wochen) verlängerten Berufungsbegründungsfrist hinwies. B erklärte seine missliche Lage und fragte A, ob er weitere sechs Wochen Fristverlängerung von A genehmigt bekäme. Nach Rücksprache mit seinem ebenfalls vor Ort anwesenden Mandanten erklärte sich A einverstanden, gab aber zu bedenken, dass das Berufungsgericht schon bei der letzten Fristverlängerung mitgeteilt habe, die Frist würde „letztmalig‟ verlängert.

Rechtsanwalt B eilte daraufhin in sein Büro. Er erstellte einen Fristverlängerungsantrag und begründete diesen mit allgemeiner Arbeitsüberlastung, teilte das Einverständnis des Kollegen A mit und beantragte Fristverlängerung von 6 Wochen. Dann stellte er fest, dass das besondere elektronische Anwaltsfach nicht funktionierte. Er fertigte noch einen inhaltsgleichen Fristverlängerungsantrag, in den er einen Screenshot des beA-Portals einfügte mit den Hinweisen, dass dies nicht funktioniere und sich die Störung auch aus der Webseite des beA-Portals ergebe, und übersandte ihn vollständig vor Tagesablauf per Telefax an das Berufungsgericht. Von Adrenalin getrieben fertigte B die Berufungsbegründung direkt am nächsten Tag und reichte sowohl den per Telefax bereits eingereichten Fristverlängerungsantrag als auch die Berufungsbegründung ein.

Das Berufungsgericht wies – mit oder ohne Beratung durch den Kantinensenat – den Fristverlängerungsantrag am Folgetag zurück. Immerhin seien schon zwei Verlängerungen erfolgt und es sei darauf hingewiesen worden, dass  eine weitere Fristverlängerung nicht gewährt würde; 6 Wochen Verlängerung seien ohnehin unangemessen. Der weiterer Fristverlängerung  würde auch das Recht des Gegners auf effektiven Rechtsschutz entgegenstehen. Die Tatsache, dass Arbeitsüberlastung an der Fertigung gehindert habe, sei schon dadurch widerlegt, dass am Folgetag die Berufungsbegründung eingegangen sei. Außerdem sei der Fristverlängerungsantrag so spät am Tag des Fristablaufs eingereicht worden, dass an dem Tag weder über dessen Stattgabe entschieden werden konnte noch der Anwalt über dessen Schicksal habe Erkundigungen einholen können. Letztlich könne das alles dahinstehen, weil die Beantragung der Fristverlängerung per Telefax unwirksam sei und Rechtsanwalt B nicht einmal anwaltlich versichert habe, dass beA nicht funktioniere.

B stellte Wiedereinsetzungsantrag (unter Beachtung aller Formalien), der aus vorstehenden Erwägungen zurückgewiesen wurde. Nun wurde der BGH angerufen.

Warum gibt der BGH Rechtsanwalt B Recht?

 

Entscheidungsgründe

1. Unschädlich war die „späte‟ Stellung des Fristverlängerungsantrages. Denn eine Partei darf eine Frist ausschöpfen. Eine Frist kann auch nach deren Ablauf verlängert werden, solange der Fristverlängerungsantrag vor Fristablauf bei Gericht eingegangen ist:

Eine Partei ist grundsätzlich berechtigt, eine Frist bis zum letzten Tag auszuschöpfen (BGH, Beschluss vom 8. Mai 2018 – VI ZB 5/17, NJW-RR 2018, 958 Rn. 11 mwN).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Der Fristverlängerungsantrag muss nicht so rechtzeitig gestellt werden, dass vor Fristablauf noch mit einer Entscheidung gerechnet werden könnte.
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

Für eine Rückfrage, ob dem Antrag stattgegeben wurde, besteht kein erkennbarer Anlass, wenn der Anwalt – wie im Streitfall – mit der Verlängerung der Frist rechnen konnte (BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2007 – VI ZB 65/06, NJW-RR 2008, 367 Rn. 9; Beschluss vom 5. Juni 2012 – VI ZB 16/12, NJW 2012, 2522 Rn. 10; Beschluss vom 26. Januar 2017 – IX ZB 34/16, NJW-RR 2017, 564 Rn. 12).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Die Begründungsfrist kann auch nach ihrem Ablauf verlängert werden, wenn dies vor Fristablauf beantragt wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 18. März 1982 – GSZ 1/81, BGHZ 83, 217, 219, 221).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

2. Das Telefax des Anwalts B war ausreichend, da beA eine Störung hatte. Eine anwaltliche Versicherung der Störung war nicht erforderlich, da Anwalt B einen Screenshot von der Störung übermittelte und aus den öffentlich zugänglichen Protokollen des beA-Portals bzw. dessen Archivs das Gericht die Störung unproblematisch nachvollziehen konnte:

Allerdings überspannt das Berufungsgericht die sich aus § 130d Satz 3 ZPO ergebenden Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer auf technischen Gründen beruhenden vorübergehenden Unmöglichkeit der Übermittlung als elektronisches Dokument, indem es im vorliegenden Fall eine anwaltliche Versicherung des Scheiterns der Übermittlung für zwingend erforderlich erachtet, ohne den vorgelegten Screenshot zu berücksichtigen.
vgl. BGH, Beschluss vom 10.10.2023 – XI ZB 1/23

 

Die Vorlage dieses Screenshots, bei dem es sich um ein Augenscheinsobjekt im Sinne von § 371 Abs. 1 ZPO handelt (OLG Jena, GRUR-RR 2019, 238 Rn. 15; BeckOK ZPO/Bach, 50. Edition, Stand: 1. September 2023, § 371 Rn. 3), war im vorliegenden Fall geeignet, die behauptete Störung glaubhaft zu machen.
vgl. BGH, Beschluss vom 10.10.2023 – XI ZB 1/23

 

Denn sein Inhalt stimmt überein mit den Angaben in der beA-Störungsdokumentation auf der Internetseite der Bundesrechtsanwaltskammer (…).
vgl. BGH, Beschluss vom 10.10.2023 – XI ZB 1/23

Gegebenenfalls hätte es des Screenshots gar nicht bedurft:

Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob das Berufungsgericht die von der Prozessbevollmächtigten des Klägers geschilderte Störung angesichts der auf der Internetseite der Bundesrechtsanwaltskammer verfügbaren Informationen als offenkundig (§ 291 ZPO) hätte behandeln können (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Mai 2023 – V ZR 14/23, juris Rn. 1 und vom 24. Mai 2023 – VII ZB 69/21, WM 2023, 1428 Rn. 17 ff.).
vgl. BGH, Beschluss vom 10.10.2023 – XI ZB 1/23

 

3.  Auch wenn das Gericht bereits mit der Gewährung der letzten Fristverlängerung mitgeteilt hatte, dass die Frist „letztmalig‟ verlängert würde, stand dies – wenig überraschend – einer weiteren Fristverlängerung nicht entgegen, da weitere Gründe durch das Gericht nicht dargelegt werden:

Der vorangegangene Hinweis, mit einer weiteren Verlängerung sei nicht zu rechnen, stand dem Vertrauen der Prozessbevollmächtigten des Klägers in die Fristverlängerung nicht entgegen. Das Berufungsgericht verkennt, dass ein solcher Hinweis das Gericht nicht davon entbindet, die in § 520 Abs. 2 ZPO angelegte Differenzierung danach, ob der Gegner eingewilligt hat oder nicht, und die vom Gesetzgeber beabsichtigte (BT-Drucks. 14/4722 S. 95) vereinfachte Verlängerungsmöglichkeit bei erteilter Einwilligung zu beachten (vgl. BVerfGE 79, 372, 376 f.; BGH, Beschluss vom 1. August 2001 – VIII ZB 24/01, NJW 2001, 3552).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Der mit der zweiten Fristverlängerung verbundene Hinweis der Vorsitzenden auf eine „letztmalige‟ Verlängerung stand dem Vertrauen des Prozessbevollmächtigten des Klägers in die Fristverlängerung ohne Rücksicht darauf nicht entgegen, ob er ihn bei Aufwendung der gebotenen Sorgfalt zur Kenntnis nehmen konnte. Ein solcher Hinweis entbindet das Gericht nicht davon, die in § 520 Abs. 2 ZPO angelegte Differenzierung danach, ob der Gegner eingewilligt hat oder nicht, und die vom Gesetzgeber (BT-Drucks. 14/4722, S. 95) beabsichtigte vereinfachte Verlängerungsmöglichkeit bei erteilter Einwilligung zu beachten (BGH, Beschluss vom 30. Januar 2023 – VIa ZB 15/22, NJW 2023, 1449 Rn. 11 mwN).
vgl. BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

 

Eine Erschütterung des Vertrauens eines Rechtsmittelführers aufgrund eines entsprechenden Zusatzes hätte allenfalls in Betracht kommen können, wenn das Berufungsgericht mit der Fristverlängerung tragfähige und zum Zeitpunkt der Ermessensausübung fortgeltende Erwägungen offenlegt hätte, aus denen eine weitere Verlängerung der Frist zur Berufungsbegründung nicht in Betracht kam.
vgl. BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

Grundsätzlich steht es dem Gericht mithin nicht frei, das ihm obliegende Ermessen für zukünftige Entscheidungen durch vorherige Ankündigungen zu reduzieren.

 

4. Dass das Berufungsgericht die Arbeitsbelastung nicht als ausreichenden wichtigen Grund ansah, weil die Berufungsbegründung am Folgetag eingereicht wurde, war aus zwei Gründen falsch. Einerseits bedurfte es schon gar keines wichtigen Grundes, weil Rechtsanwalt A einverstanden war.

Auf erhebliche Gründe für die Fristverlängerung im Sinne von § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO kam es entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ebenso wenig an (….)
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

Er durfte darauf vertrauen, dass sein rechtzeitig gestellter Antrag, die bis zum 9. Juni 2022 verlängerte Berufungsbegründungsfrist erneut zu verlängern, nicht abgelehnt würde. Die Auffassung des Berufungsgerichts, der Kläger hätte vor dem Hintergrund eines früheren Hinweises, mit einer weiteren Fristverlängerung sei nicht zu rechnen, über die Mitteilung der Einwilligung der Beklagten hinaus erhebliche Gründe für die erneute Fristverlängerung darlegen müssen, ist unzutreffend. Sie überspannt die sich aus § 520 Abs. 2 Satz 2 ZPO ergebenden Anforderungen an einen bewilligungsfähigen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist.
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

Andererseits konnte das Einreichen der Berufungsbegründung am Folgetag nicht die Arbeitsbelastung widerlegen.

Auf erhebliche Gründe für die Fristverlängerung im Sinne von § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO kam es entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ebenso wenig an wie auf dessen Mutmaßungen, die Einreichung der Berufungsbegründung bereits am Folgetag zeige, dass keine Überlastung vorgelegen habe.
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

Und so war die am Folgetag eingelegte Berufungsbegründung auch grundsätzlich rechtzeitig.

Beantragt der Berufungskläger mit Einverständnis des Gegners, die wegen eines erheblichen Grundes bereits um einen Monat verlängerte Frist zur Berufungsbegründung um weitere sieben Tage zu verlängern, darf der Berufungskläger nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darauf vertrauen, dass dem Antrag stattgegeben werde (BGH, Beschluss vom 9. Juli 2009, aaO, Rn. 10; Beschluss vom 1. Juli 2013 – VI ZB 18/12, NJW 2013, 3181 Rn. 10).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Daran gemessen konnten die Prozessbevollmächtigten des Klägers darauf vertrauen, dass ihrem zweiten Fristverlängerungsantrag – jedenfalls teilweise – gemäß § 520 Abs. 2 Satz 2 ZPO stattgegeben werde. Aus dem Umstand, dass im Streitfall eine Verlängerung um weitere sechs Wochen beantragt wurde, folgt schon deshalb nichts anderes, weil dem Kläger, der die Berufungsbegründung einen Tag nach Fristablauf eingereicht hat, eine teilweise Stattgabe seines Verlängerungsantrags für sieben Tage genügt hätte, um die Frist zu wahren (vgl. BGH, Beschluss vom 8. April 2015 – VII ZB 62/14, NJW 2015, 1966 Rn. 12 mwN).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

5. Wenn das Gerichts dann noch meinte, im Interesse der Gegenseite die Frist nicht verlängern zu können, da diese Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz habe, so stellt der BGH klar, dass dieses Interesse bzw. die Verfahrensbeschleunigungspflicht zurücktritt, wenn der Gegner sich mit der Fristverlängerung einverstanden erklärt hat.

Die aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes (…) resultierende Verpflichtung der Fachgerichte, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zu einem Abschluss zu bringen (…), trat (…) zurück, solange der Gegner mit der weiteren Fristverlängerung einverstanden war (…).
vgl. BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

 

6. Nach den vorstehenden Grundsätzen hätte dem Fristverlängerungsantrag von B eigentlich entsprochen werden müssen. Da dies nicht geschehen war, war die Berufungsbegründung eigentlich verspätet. Über die Wiedereinsetzung war dies – eigentlich schon von dem Berufungsgericht – wieder geradezurücken:

Im Wiedereinsetzungsverfahren kann sich der Rechtsmittelführer deshalb nur dann mit Erfolg auf sein Vertrauen in eine Fristverlängerung berufen, wenn deren Bewilligung mit großer Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte (BGH, Beschluss vom 4. Juli 1996 – VII ZB 14/96, NJW 1996, 3155; Beschluss vom 21. Februar 2000 – II ZB 16/99, NJW-RR 2000, 947; Beschluss vom 9. Juli 2009 – VII ZB 111/08, NJW 2009, 3100 Rn. 8, jeweils mwN).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Das Vertrauen in die Gewährung einer wiederholten Fristverlängerung ist im Regelfall erst erschüttert, wenn aus Sicht eines Rechtsmittelführers Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass die Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens trotz der Einwilligung zu einer Ablehnung der begehrten Fristverlängerung führen kann.
vgl. BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

 

Anders als das Berufungsgericht meint, ist bei Einwilligung des Gegners allerdings auch das Vertrauen in eine zweite Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist geschützt.
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

 

 

obiter dicta:

Das Risiko, dass das Berufungsantrag einem Fristverlängerungsantrag nicht entspricht, trägt der Antragsteller. Der Rechtsmittelführer ist generell mit dem Risiko belastet, dass der Vorsitzende des Rechtsmittelgerichts in Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens eine beantragte Verlängerung der Rechtsmittelbegründungsfrist versagt.
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Dass zahlreiche ähnlich gelagerte Rechtsstreitigkeiten bei Instanzgerichten anhängig sind, ändert im Übrigen nichts an der Gültigkeit allgemeiner prozessualer Grundsätze (aA für Fristverlängerungen in „Massenverfahren‟ OLG Bamberg, Beschluss vom 25. April 2019 – 8 U 2/19, juris Rn. 22).
vgl. BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info