Endlich Klarheit in beA beim Signieren von Schriftsätzen der Kollegen

Dr. Harald ScholzDr. Harald Scholz

Qualifiziert Signieren für Praxiskollegen geht ohne Fallstricke

 

BGH; Beschluss vom 28.02.2024, IX ZB 30/23

Leitsatz 

Signiert ein Mitglied einer mandatierten Anwaltssozietät einen Schriftsatz, den ein anderes Mitglied der Anwaltssozietät verfasst und einfach elektronisch signiert hat, in qualifiziert elek-
tronischer Form und reicht diesen Schriftsatz über sein besonderes elektronisches Anwaltspostfach bei Gericht ein, ist dies wirksam. Eines klarstellenden Zusatzes („für‟) bei der einfa-
chen Signatur des Schriftsatzverfassers bedarf es nicht.

Sachverhalt

Alltag in der Anwaltspraxis. Eine Berufungsbegründung muss eingereicht werden. Ein Anwalt einer Sozietät verfasst den Schriftsatz, und sein Name erscheint in maschinenschriftlicher Form unter dem Schriftsatz (einfache Signatur). Die qualifizierte elektronische Signatur mittels Signaturkarte wird von einem Kollegen aus der Praxis angebracht, ohne dass der Schriftsatz selbst noch irgendwie geändert wird. Es wird kein Zusatz „für‟ angebracht, auch wird die einfache Signatur nicht auf den Kollegen umgeschrieben.

Entscheidung

Das Landgericht Koblenz ist sich nicht zu schade, die Berufungsbegründung als unzulässig zu verwerfen. Der qualifiziert signierende Anwalt trete „im Schriftsatz‟ nicht ausreichend als verantwortende Person in Erscheinung.

Der BGH hebt die Entscheidung auf: Die Berufungsbegründung ist wirksam eingelegt. Die erste Variante des § 130a ZPO ist erfüllt, denn der Schriftsatz ist mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen. Diese entspricht der eigenhändigen Unterschrift auf einem Papierschriftsatz. Es besteht – auch dies eine Parallele zur Papierwelt – kein Anlass daran zu zweifeln, dass der signierende Kollege den Schriftsatz mittels seiner Signatur auch „verantworten‟ wollte. Dies müsse nicht noch einmal zusätzlich auf dem Schriftsatz zum Ausdruck gebracht werden.

Anmerkung

Dies ist eine wichtige Entscheidung für eine funktionierende Praxis.

Wenn die qualifizierte elektronische Signatur nach § 130a ZPO allein reicht, muss gerade nicht mühsam die einfache Signatur des Kollegen gelöscht und die eigene maschinenschriftliche Unterschrift eingesetzt werden. Selbstverständlich kann ich mit meiner Signatur einen Schriftsatz verantworten, den eine Kollegin verfasst hat, deren Name als Schriftzug unter dem Schriftsatz zu lesen ist.

Dies klar zu haben bedeutet eine große Erleichterung. Wir müssen nur noch darauf achten, dass der Schriftsatz qualifiziert signiert und dann versendet wird. An dieser Stelle hat aus meiner Sicht der Leitsatz eine kleine Ungenauigkeit: Es ist nicht erforderlich, dass der Schriftsatz vom Signierenden „über sein elektronisches Anwaltspostfach‟ versendet wird, sondern das kann durchaus irgendwo aus der Praxis geschehen, aus welchem Postfach auch immer. Die qualifizierte elektronische Signatur braucht keine weiteren Absicherungen. Die Entscheidungsgründe des BGH lassen daran auch keinen Zweifel.

Abgesehen davon, dass die Entscheidung überzeugend ist und eine konsequente Fortführung der Spruchpraxis aus dem Papierzeitalter darstellt, tut es einfach gut, wie der BGH eine praxistaugliche Lösung hochhält. Von manchen Gerichten im Lande hat man eher den Eindruck, dass diese zwar selbst vorzugsweise noch per Telefax kommunizieren, aber die Anforderungen an die Anwälte, die seit Jahren zur elektronischen Übersendung verpflichtet sind, nach Möglichkeit hochsetzen – für „eine Handvoll Dollar‟ oder eben „eine glorreich verworfene Berufung‟.

(Dr. Harald Scholz)

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Alleinverantwortlichkeit des PKW-Fahrers bei Unfall in Baustellenbereich

Michael PeusMichael Peus

OLG Hamm, Beschluss vom 23.06.2023 – 11 U 37/22

Sachverhalt

Der Kläger befuhr mit seinem PKW eine Autobahn und wollte diese an einer Abfahrt verlassen. In dem Abfahrtsbereich gab es eine größere Baustelle. Diese war mit gelben Leitlinien, Absperrbaken und auch Schildern. versehen. Dass diese ausreichend gewesen seien wurde von dem Kläger ebenso angegriffen wie der Umstand, dass sie irrtumserregend gewesen seien und bestimmte Abstände nicht eingehalten gewesen wären. Jedenfalls bog der Kläger – behauptet auch wegen Nebels – zu früh ab und setzte mit dem Karosserieboden auf dem Asphalt auf, weil die rechten Räder des Fahrzeuges in dem Baugraben rechts der Fahrbahn keinen Untergrund vorfanden. Die öffentliche Hand wurde im Rahmen des § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG in Anspruch genommen. Das Landgericht wies die Klage ab, da keine Pflichtverletzung vorgelegen habe.

Der Kläger stellte die Entscheidung zur Überprüfung.

Entscheidung

Die Berufung hatte keinen Erfolg. Zuvor hat das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 23.06.2023 auf folgende Umstände hingewiesen:

  1. Trotz Einschaltung eines Bauunternehmers bleibe eine öffentlich-rechtliche Verkehrssicherungspflicht bei der öffentlichen Hand.
  2. Ob es einen Beschilderungsplan durch dir öffentliche Hand gegeben hat, ist jedenfalls dann unerheblich, wenn die konkreten Maßnahmen genügten. Entscheidend ist die tatsächliche Absicherung:

    Der vom Kläger geltend gemachte Schadensersatzanspruch im Zusammenhang mit einer vermeintlich unzureichenden Absicherung einer Baustelle ist danach zu beurteilen, wie die Unfallstelle tatsächlich abgesichert war. Maßgeblich waren die konkreten Verhältnisse vor Ort und nicht etwaige abstrakte Planungsvorstellungen des beklagten Landes, das sich nicht darauf beruft, dass die angeordneten Absicherungen nicht oder nicht richtig vor Ort umgesetzt wurden (vgl. dazu auch: OLG München, Urteil vom 16.02.2012 – 1 U 3409/11 – BeckRS 2012, 4400).

  3. Wenn eine durchgezogene Linie grundsätzlich erkennbar ist, bleibt sie wirksam, auch wenn sie an einigen Stellen verschmutzt und ggfls. etwas beschädigt ist:

    Die Feststellung des Landgerichts, wonach die durchgezogene Linie in dem Bereich, in dem der Kläger nach seinem Vorbringen abgebogen sein will, als solche erkennbar gewesen sei, ist frei von Rechtsfehlern. Insbesondere konnte das Landgericht die insoweit getroffenen Feststellungen anhand der zur Gerichtsakte eingereichten Lichtbilder der Unfallstelle treffen. Auf den Lichtbildern I und II auf Bl. 207 und auf dem Lichtbild Ia auf Bl. 213 der landgerichtlichen Akte lässt sich erkennen, dass die durchgezogene Linie im Bereich des Hinweisschildes zwar etwas verdreckt oder geringfügig beschädigt sein mag, jedoch als solche weiterhin deutlich zu erkennen war. Dass eine Erkennbarkeit auch bei den klägerseits behaupteten Sichtverhältnissen gegeben war, durfte das Landgericht ebenfalls annehmen, ohne dass es sich dazu etwa eines Sachverständigen hätte bedienen müssen. Der Kläger hatte – wie jeder andere Verkehrsteilnehmer auch – seine Fahrweise den Sicht- und Witterungsverhältnissen anzupassen (§ 3 Abs. 1 Satz 2 StVO).

  4. Weil ein Verkehrsteilnehmer nach § 3 Abs. 1 StVO seine Fahrweise an die Sichtverhältnisse anzupassen hat, benötigt man kein Sachverständigengutachten für die Frage, ob eine Erkennbarkeit dann gegeben ist:

    Dass eine Erkennbarkeit auch bei den klägerseits behaupteten Sichtverhältnissen gegeben war, durfte das Landgericht ebenfalls annehmen, ohne dass es sich dazu etwa eines Sachverständigen hätte bedienen müssen. Der Kläger hatte – wie jeder andere Verkehrsteilnehmer auch – seine Fahrweise den Sicht- und Witterungsverhältnissen anzupassen (§ 3 Abs. 1 Satz 2 StVO).

  5. Hinweisschilder beanspruchen für sich nicht die Geltung wie Richtzeichen. Hinweisschilder können auch in einiger Entfernung vor der „geltenden‟ Stelle aufgestellt sein:

    Eine Verkehrssicherungspflichtverletzung folgt vorliegend auch nicht aus der Positionierung des Hinweisschildes. Hinsichtlich der Aufstellung von Richtzeichen ordnet § 42 Abs. 3 StVO lediglich an, dass diese dort aufzustellen seien, von wo an die Anordnung zu befolgen ist. Soweit die Zeichen aus Gründen der Leichtigkeit oder der Sicherheit des Verkehrs in einer bestimmten Entfernung zum Beginn der Befolgungspflicht stehen, ist die Entfernung zu dem maßgeblichen Ort auf einem Zusatzzeichen anzugeben. Die Regelung betrifft demnach nur Richtzeichen, welche ein Ge- oder Verbot enthalten, was bei dem Richtzeichen 430 gerade nicht der Fall ist. Es soll lediglich einen besonderen Hinweis zur Erleichterung des Verkehrs geben. Dabei ist es sogar üblich, dass solche Hinweise in einiger Entfernung zum Kreuzungsbereich erfolgen, um dem Fahrer die Möglichkeit zu geben, seine Fahrweise vorausschauend zu gestalten. Es handelt sich insbesondere nicht um ein dem Zeichen 333 (Ausfahrt) vergleichbares Richtzeichen, aufgrund dessen der Kraftfahrer den Schluss ziehen könnte, dass sich eben an dem Aufstellungsort der Beginn der Ausfahrt befindet.

  6. Wenn die allgemeinen sicherungsmaßnahmen genügen, muss auch ein plötzlicher, seitlicher Abfall der Straße (Fräskante) nicht gesondert gesichert werden:

    Letztlich begründet auch der Umstand, dass die Fräskante nicht gesondert gesichert war – entgegen der Annahme des Klägers – keine Verkehrssicherungspflichtverletzung des beklagten Landes. Durch die Kennzeichnung des Fahrbahnverlaufs mittels Leitbaken und durchgezogener Linie wurde hinreichend Sorge dafür getragen, dass Verkehrsteilnehmer nicht in den Baustellenbereich gelangen. Einer zusätzlichen Absicherung in dem für den allgemeinen Verkehr nicht freigegebenen Baustellenbereich bedurfte es vor diesem Hintergrund nicht.

 

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(keine) schuldhafte Verkehrssicherungspflichtverletzung bei DIN-widrigem Inventar

Michael PeusMichael Peus

Landgericht Passau
SR 000438-23

 

Sachverhalt

Die Beklagte betreibt seit 20 Jahren einen Bereich mit Liegeflächen. In dem Bereich waren hunderte Liegen, vor 20 Jahren aus den USA importiert, für die Besucher zur Nutzung zur Verfügung gestellt. Die Kopflehne war in bekannter Art und Weise aufgebaut, nämlich, dass an der Kopflehne ein „einseitig geöffnetes, abgerundetes Rechteck‟ angebracht war, welches an den beiden Enden mit der Kopflehne verbunden war. Bei der der Öffnung gegenüberliegenden Rechteckseite handelte es sich nur um ein Verbindungsstück. Die andern beiden Rechteckseiten, die einerseits an der Verbindung zur Kopflehen endeten und andererseits in das Verbindungsstück übergingen, hatten jeweils „Zähne‟, die in eine feste Liegenstange unter dem Kopfteil eingreifen konnten und so durch Arretierung den Neigungsgrad des Kopfstücks bestimmten.

Die Klägerin besuchte die Einrichtung und benutzte eine der Liegen. Die Funktionsweise war ihr durch mehrere Nutzungen zuvor bekannt. Ferner ist die Mechanik selbsterklärend. Als sie – auf der Liege seiend (in welcher Ruhe- und Bewegungsart war streitig) – hinter das Kopfteil griff, um das über das Kopfteil befindliche Badetuch zu richten, klappte das Kopfteil zurück und führte zu einer Handverletzung (medizinisch: Teilamputation eines Fingers), deren Umfang auch streitig war.

Ursprünglich führte die Klägerin die Verletzung darauf zurück, dass die Liegenkonstruktion (unstreitig) aus Metall war und wegen des Alters Verschleiß gehabt hätte. Sodann wurde ein Sachverständigengutachten eingeholt. Der Sachverständige führte aus, dass
a)  das Material „Metall‟ zumindest nicht kausal war,
b) Verschleiß nicht vorhanden war, sondern die Liege uneingeschränkt funktionstüchtig war,
c) im Klappmechanismus eine DIN-widrige Quetschmöglichkeit vorläge. 

Sodann stützte die Klägerin ihre Klage auf die DIN-widrige Quetschmöglichkeit. Die DIN existierte (unstreitig) bereits zum Zeitpunkt des Imports der Liege. Dass die Kausalität der DIN-Problematik streitig war, hielt das Amtsgericht nicht davon ab, die Rechtsansicht zu vertreten, eine Haftung der Beklagten wegen einer schuldhaften Verkehrssicherungspflichtverletzung sei gegeben. Das Amtsgericht gab der Klage auf Schmerzensgeld statt.

Gegen das Urteil des Amtsgerichts wurde Berufung eingelegt und das Landgericht entschied in Kammerbesetzung.

Entscheidung

Die Berufung hatte Erfolg. Die Klage wurde abgewiesen.

Selbst dann, wenn man eine Kausalität einer DIN-Widrigkeit unterstellen würde, habe die Klägerin keinen Anspruch. Es fehle an einem Verschulden.

Das Landgericht Passau folgt dabei der Rechtsprechung des BGH, wonach man im Rahmen der Verkehrssicherungspflichten gehalten sei, die notwendigen und zumutbaren Maßnahmen zu treffen, um andere nicht zu schädigen (…). Dabei könnten DIN-Normen die Sorgfaltspflichten konkretisieren. DIN-Normen seien nicht abschließend, würden aber grundsätzlich den Stand von Wissenschaft und Technik abbilden. Bereits durch den Import der DIN-widrigen Liegen seine objektiv eine Pflichtverletzung erfüllt.

Allerdings fehle es an einem Verschulden der Beklagten. Das Landgericht folgte dabei der hiesigen Hilfsargumentation. Diesseits wurde darauf verwiesen, dass niemand zig tausende DIN-Normen kennen könne und auch nicht die Einhaltung derer durch wiederholte Begehungen des Betriebs sicherstellen könne. Das wäre unverhältnismäßig und würde im Übrigen nicht einmal von öffentlich zugänglichen Gebäuden (Rathäusern, Gerichten etc.) gehandhabt.
Das Landgericht folgte der hiesigen Argumentation (jedenfalls) insoweit, dass es ausführte:

Die Beklagte war aus besonderen persönlichen Gründen nicht zu einer Abwendung der
von der Liege ausgehenden Gefahr verpflichtet, weil sie nicht erkennen konnte, dass die Liege
den maßgeblichen DIN-Normen nicht entsprach. Bei einer solchen Sachlage ist ausnahmsweise
der Schluss von der Nichteinhaltung der “äußeren” Sorgfalt auf eine Verletzung der “inneren”
Sorgfalt nicht gerechtfertigt (vgl. dazu v. Bar, JuS 1988, 169 (173); Deutsch, HaftungsR I, 1976,
S. 276 ff., (279); Steffen, in: RGRK, § 823 Rdnr. 144; s. auch BGHZ 80, 186 (199) = NJW 1981,
1603 = LM § 823 (Dc) BGB Nr. 130; Senat, NJW 1986, 2757 = LM § 823 (Dc) BGB Nr. 152 =
VersR 1986, 765 (766)).

Denn beim Import der Liegen entsprachen diese der Art und dem Erscheinungsbild her den herkömmlichen Liegen. Eine Pflicht, importierte Waren anlasslos durch einen Sachverständigen auf DIN-Konformität zu überprüfen lassen, bestehe nicht. Und bei der Nutzung der hunderten Liegen über 20 Jahre hinweg ohne jeden (bekannten) Zwischenfall sei auch in der Folgezeit keine Kontrollpflicht ausgelöst worden.

Schließlich führt das Gericht auch aus, dass es keine anlasslose Überprüfungspflicht des gesamten Betriebes gab:

dd. Eine schuldhafte Verkehrspflichtverletzung der Beklagten kann – anders als das Amtsgericht Passau annimmt – auch nicht darin gesehen werden, dass die Beklagte es unterlassen hat, in regelmäßigen Abständen anlasslos ihren Betrieb mitsamt den streitgegenständlichen Liegen auf die Einhaltung aktueller Sicherheitsbestimmungen überprüfen zu lassen. Eine solche allgemeine Überprüfungs-, Nachrüstungs- und Anpassungspflicht besteht für den Betreiber einer Anlage gerade nicht. Vielmehr ist eine Einzelfallprüfung durchzuführen und danach zu fragen, ob sich im konkreten Einzelfall die naheliegende Gefahr ergibt, dass durch die bestehende technische Anlage – ohne Nachrüstung – Rechtsgüter anderer verletzt werden können. Denn welche Sicherheit und welcher Gefahrenschutz im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht zu gewährleisten sind, richtet sich nicht ausschließlich nach den modernsten Erkenntnissen und nach dem neuesten Stand der Technik. Es kommt vielmehr maßgeblich auch auf die Art der Gefahrenquelle an. Je größer die Gefahr und je schwerwiegender die im Falle ihrer Verwirklichung drohenden Folgen sind, umso eher wird eine Anpassung an neueste Sicherheitsstandards geboten sein (vgl. hierzu BGH, NJW 2010, 1967). Ein konkreter Handlungsbedarf bestand für die Beklagte in Hinblick auf eine Überprüfung der vorhandenen Liegen und den Erwerb neuer DIN-Norm-konformer Liegen nicht. Der seit dem Import der Liegen bestehende Konstruktionsfehler und die damit verbundene Gefahr für Verletzungen der Gäste war für einen durchschnittlichen Klinikbetreiber wie die Beklagte nicht erkennbar. Ein konkreter Anlass, die Liegen auf Funktionstüchtigkeit und Verkehrssicherheit durch einen Sachverständigen überprüfen zu lassen, ergab sich bis zum streitgegenständlichen Vorfall am 31.05.2018 gerade nicht. Mit einer über das allgemeine Lebensrisiko hinausgehenden Gefährlichkeit der Liegen musste niemand rechnen. Eine regelmäßige anlasslose Überprüfung der Liegen, welche nur zusammen mit einer regelmäßigen anlasslosen Überprüfung des
gesamten Geschäftsbetriebs der Beklagten sinnvoll erscheinen würde, durch fachkundige Personen wie Sachverständige ist in rechtlicher Hinsicht weder geboten noch kann ein solches Vorgehen mit den entsprechenden Konsequenzen einer nach dem Rat der Sachverständigen durchzuführenden Anpassung und Erneuerung der Beklagten finanziell und mit Blick auf die Funktionsfähigkeit ihres Betriebes zugemutet werden.

 

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(K)ein Schweigen im Wald – Bauherr scheitert an der Darlegung konkreter Bauüberwachungspflichten

Dr. Michael Kappelhoff

Problemdarstellung
Regelmäßig werden Architekten nicht mit einem ausgearbeiteten schriftlichen Vertrag, sondern quasi im Vorbeigehen – mündlich auf der Baustelle, telefonisch etc. – beauftragt. Das ist stets nur so lange unproblematisch, wie man sich nicht streitet. Dann kann es sich für beide Parteien schmerzlich auswirken, wenn der eine Schadensersatzansprüche wegen Mängeln und der andere Honoraransprüche geltend machen will.

Sachverhalt
Ein Bauherr beauftragt einen Architekten mit der Bauüberwachung. Einen belastbaren schriftlichen Vertrag gibt es nicht, denn eine vorhandene schriftliche Vereinbarung wird vom Bauherrn rückdatiert. Es kommt zu Mängeln, worauf der Bauherr Schadensersatzansprüche gegen den Architekten wegen unvollständiger Bauüberwachung geltend macht. Auf seine Klage hin gibt ihm das Landgericht erstinstanzlich Recht und verurteilt den Architekten zu Schadensersatz.

Entscheidung
Das KG beurteilt in seiner jetzt veröffentlichten Entscheidung vom 28.04.2023 (Az. 7 U 154/21) die Rechtslage in der Berufung anders und weist die Klage ab. Das Gericht könne nicht feststellen, dass der Architekt schuldhaft seine vertraglichen Pflichten verletzt habe, weil schon keine Pflicht zur vollumfänglichen Bauüberwachung nachgewiesen sei – in welchem konkreten Umfang Baubewachungspflichten vereinbart worden sei, sei nicht eindeutig feststellbar. Nachdem der Architekt bestritten habe, etwaig teilweise beauftragte Baubewachungspflichten verletzt zu haben, hätte es der Bauherren oblegen, vollen Beweis darüber zu erbringen, dass und welche Werkverpflichtung der Architekt verletzt habe. Der Vortrag des Bauherrn sei vage und widersprüchlich gewesen, zudem habe der Beklagte Architekt die Bauleitung ab einem gewissen Zeitpunkt von einem anderen Architekten übernommen. Die durchgeführte Zeugenvernehmung hätte auch keine Klarheit in Bezug auf die beauftragte Bauüberwachungspflicht gebracht. Die vorgelegte schriftliche Vereinbarung sei lediglich einseitig vom Bauherren verfasst und unstreitig rückdatiert worden; sie diene laut Bauherren dem Zweck, den tatsächlichen Auftragsumfang zu dokumentieren. Der Vortrag des Architekten sei zwar ebenfalls zum Teil inkonsistent und konturlos, zumal Bauüberwachungstätigkeiten auf Stundenlohnbasis und nicht pauschal beauftragt worden seien. Die vorgelegten Stundenlohnabrechnungen belegten allerdings nur die Beauftragung des Architekten mit einzelnen Bauüberwachungsmaßnahmen.
Letztlich sei das Gericht nicht in der Lage, „mit vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietender hinreichender Gewissheit irgendetwas konkretes zum Umfang der tatsächlichen Leistungsverpflichtungen des Architekten“ festzustellen.

Anmerkung
Möglicherweise ist der Architekt hier mit einem blauen Auge davongekommen. Hätte der Bauherr nicht widersprüchlich vorgetragen und zudem rückdatierte schriftliche „Vereinbarungen“ erklären müssen, wäre die Entscheidung möglicherweise anders ausgefallen. Da der Architekt seine Bauüberwachung auf Stundenlohnbasis erbracht hat, kam es ihm hier zugute, dass jedenfalls dem Gericht nur Stundenlohnabrechnungen für begrenzte Überwachungstätigkeiten vorlagen. Die Klägerseite hat es offenbar nicht hinbekommen, die gerügten Mängel am Bauwerk zeitlich jenen Tätigkeiten zuzuordnen und darüber hinaus vorzutragen, dass und wann der Architekt weitere Tätigkeiten erbracht hat. Man muss dem Architekten hier gar keine böse Absicht unterstellen, wenn er nur einzelne Stundennachweise bzw. Abrechnungen vorgelegt hat, denn auch die nachträgliche Dokumentation und verzögerte (Teil-)Abrechnung von Architektenleistungen ist bekanntlich nichts Ungewöhnliches. Sein Honoraranspruch, den er hier widerklagend geltend gemacht hat, ist allerdings darauf beschränkt. Auch nicht ungewöhnlich und hilfreich bei der Abwehr von Schadensersatzansprüche: Die Übernahme von Planungs- bzw. Überwachungstätigkeiten von Architekten und Ingenieuren, die aus dem Bauvorhaben ausscheiden, wird oft nicht sauber dokumentiert, sodass unklar ist, in wessen Leistungszeitraum einzelne Baumaßnahmen und damit verbundene Mängel wohl fallen.

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Einheitlicher Vergütungsanspruch des Bauträgers ist der Regelfall: 10-jährige Verjährungsfrist

Michael PeusMichael Peus

BGH, Urteil vom 07.12.2023 – VII ZR 231/22

Sachverhalt
Die Klägerin ist Bauträgerin. Sie begehrt von den Beklagten die Zahlung der letzten Rate aus einem Bauträgervertrag über den Erwerb einer Eigentumswohnung in Höhe von 15.511,50 € nebst Zinsen.

Mit notariellem Bauträgervertrag vom 26.02.2013 veräußerte die Klägerin an die Beklagten zwei Miteigentumsanteile an einer von der Klägerin auf klägerischem Grundbesitz zu errichtenden Anlage, verbunden mit dem Sondereigentum an einer Wohnung und dem Sondereigentum an einem PKW-Abstellplatz, zum Preis von insgesamt 448.900 €. Der Vertrag enthält einen Ratenplan zur Kaufpreiszahlung. Danach ist der Kaufpreis in sieben vom Baufortschritt abhängigen Raten zu zahlen. Die Schlussrate von 3,5 % des vereinbarten Preises (= 15.711,50 €) ist vertragsgemäß nach vollständiger Fertigstellung zu zahlen.

Sodann kam es zu folgender Chronologie:

20.06.2014 Begehung der Wohnung durch Klägerin und Beklagte. Dabei wurde ein von den Anwesenden unterzeichnetes Abnahmeprotokoll erstellt, in dem 27 Beanstandungen aufgeführt wurden. In diesem Protokoll heißt es unter anderem: „Die Übergabe/Abnahme erfolgt gemäß des Kaufvertrags vom 26.02.2013; UR Nr.‟
23.06.2014 auf diesen Zeitpunkt bezogene Abnahme des Gemeinschaftseigentums ohne Außenanlage und Tiefgarage
11.07.2014 auf diesen Zeitpunkt bezogene Abnahme der Außenanlage und Tiefgarage
06.11.2014 Erklärung der Abnahme des Gemeinschaftseigentums (ohne Außenanlage und Tiefgarage) rückwirkend zum 23.06.2014 und rückwirkend zum 11.07.2014 die Abnahme hinsichtlich Außenanlagen und Tiefgarage.
21.11.2014 Bautenstandsmeldung, das Objekt vollständig fertiggestellt zu haben.
24.11.2014 Mitteilung der Klägerin an den Beklagten, dass der Bautenstand „vollständige Fertigstellung‟ erreicht sei, und Aufforderung zur Zahlung der letzten noch offenen Rate in Höhe von 15.711,50 €.
08.12.2014 Zurückweisung der Zahlungsaufforderung durch die Beklagten wegen Baumängeln.
28.12.2017 Antrag auf Erlass eines Mahnbescheides
03.01.2018 Zustellung des Mahnbescheides
11.01.2018 Widerspruch gegen den Mahnbescheid
15.01.2018 Information der Klägerin über den Widerspruch
??.??.2018 Verzicht auf die Einrede der Verjährung durch die Beklagten bis zum 31.12.2018
28.12.2018 Eingang des Kostenvorschusses
02.01.2019 Abgabe des Verfahrens an das Landgericht
24.09.2020 Anspruchsbegründung
05.02.2021 Zustellung der Anspruchsbegründung bei der Beklagten

Die Beklagten haben im Rechtsstreit die Einrede der Verjährung erhoben. Daneben berufen sie sich auf ein Zurückbehaltungsrecht wegen der von ihnen gerügten Mängel, deren Beseitigungsaufwand sie unter Berücksichtigung eines anzusetzenden Druckzuschlags auf 33.545,51 € beziffern. Die Klägerin hat eine Minderung ihrer Vergütung wegen Mängeln in Höhe von 200 € anerkannt und diesen Betrag von der Schlussrate in Abzug gebracht. Im Übrigen ist sie der Auffassung, dass die erhobenen Mängelrügen kein Zurückbehaltungsrecht, jedenfalls nicht in Höhe der Klageforderung, rechtfertigten.

Das Landgericht hat die Klage wegen des Eintritts der Verjährung abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

Die Revision führte zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgerichts.

 

Entscheidungsgründe

1. Die vereinbarte Bauträgervergütung war nicht aufteilbar in einen Kaufpreis für die Grundstücksanteile einerseits und eine Vergütung für die Bauleistungen andererseits. Eine Aufteilung der Bauträgervergütung in einen Kaufpreis für das Grundstück einerseits und eine Vergütung für die Bauleistungen andererseits kommt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (…) allenfalls dann in Betracht, wenn die Parteien eine derartige Aufteilung vereinbaren.

2. Ein Anspruch der Klägerin auf Erhalt einer einheitlichen Vergütung kann nur einheitlich verjähren (vgl. Hertel, DNotZ 2002, 6, 22; Pause/Vogel, Bauträgerkauf und Baumodelle, 7. Aufl., Kap. 4 Rn. 365). Für den einheitlichen Vergütungsanspruch des Bauträgers gilt nicht die dreijährige Regelverjährungsfrist gemäß § 195 BGB, sondern die zehnjährige Verjährungsfrist gemäß § 196 BGB. Denn § 196 BGB ist dahin auszulegen, dass die in dieser Vorschrift geregelte Verjährungsfrist für den einheitlichen Vergütungsanspruch des Bauträgers aus einem Bauträgervertrag gilt. Nach § 196 BGB verjähren Ansprüche auf Übertragung des Eigentums an einem Grundstück sowie auf Begründung, Übertragung oder Aufhebung eines Rechts an einem Grundstück oder auf Änderung des Inhalts eines solchen Rechts sowie die Ansprüche auf die Gegenleistung in zehn Jahren. § 196 BGB verdrängt insoweit als speziellere gesetzliche Regelung die Vorschrift des § 195 BGB. Die Vorschrift des § 195 BGB stellt innerhalb des Verjährungsrechts die Grundnorm dar. Sie ist jedoch nur anwendbar, wenn sie nicht durch eine speziellere Regelung verdrängt wird (vgl. BeckOGK/Piekenbrock, BGB, Stand: 15. Mai 2023, § 195 Rn. 13, 13.1). § 196 BGB stellt eine solche speziellere Verjährungsregelung dar (vgl. BGH, Urteil vom 21. November 2014- V ZR 32/14 Rn. 22, NJW-RR 2015, 338). Diese spezielle Verjährungsregelung ist auch auf den Vergütungsanspruch des Bauträgers anwendbar.

(….) Danach ist die zehnjährige Verjährungsfrist gemäß § 196 BGB im Streitfall nicht abgelaufen. Denn der Anspruch der Klägerin auf Zahlung der letzten Rate ist jedenfalls nicht vor November 2014 fällig geworden.

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keine Haftung bei Baumsturz

Michael PeusMichael Peus

OLG Hamm Beschluss vom 28.06.2023, Az. 11 U 170/22

Sachverhalt

Der Teil eines Baumes aus einem Waldgebiet fiel bei orkanartigem Sturmgeschehen auf eine öffentliche Straße. Das Fahrzeug des Klägers wurde dadurch geschädigt. In Anspruch wurde die öffentliche Hand im Wege der Amtshaftung genommen. Das Landgericht wies die auf Schadensersatz gerichtete Klage ab. Der Kläger stellte die Entscheidung zur Überprüfung durch das Oberlandesgericht Hamm.

Entscheidung
Das OLG Hamm wies darauf hin, dass es dem Rechtsmittel des Klägers keinen Erfolg beimesse. Wesentlich seien hierfür folgende Erwägungen:

  1. Der Baum stand in einem Waldstück. Es handelte sich mangels besonderer Merkmale, welche ihn zu einem Straßenbaum machen würden, nicht um einen Straßenbaum, auf den sich eine Amtspflicht der öffentlich-rechtlichen Verkehrssicherungspflicht erstrecke (Verweis auf BGH, 19.01.1989, III ZR 258/87).
  2. Selbst wenn es sich um einen Straßenbaum handele und sich eine öffentlich-rechtliche Verkehrssicherungspflicht auf ihn erstrecke, sei die Klage unbegründet:
      • Der Pflichtenumfang läge grundsätzlich nur in Kontrollen; lediglich in Ausnahmefällen müssten Verkehrswege gesperrt werden, wenn eine Kontrolle nicht in angemessener Zeit habe erfolgen können:

        „Denn der Straßenbaulastträger hat aufgrund der ihm für die Straße obliegenden Verkehrssicherungspflicht zur Abwehr der von Straßenbäumen ausgehenden Gefahren nur die Maßnahmen zu treffen, die einerseits zum Schutz gegen Astbruch und Umsturz erforderlich sind, andererseits ihm unter Berücksichtigung des umfangreichen Baumbestandes der öffentlichen Hand auch zumutbar sind. Er genügt seiner Überwachungs- und  Verkehrssicherungspflicht hinsichtlich der Straßenbäume, wenn er diese in regelmäßigen zeitlichen Abständen hin auf die Standsicherheit hin kontrolliert. Er hat die dabei von ihm als gefahrbringend festgestellten Bäume oder Teile von diesen zu entfernen. Ist ihm dies innerhalb angemessener Zeit nicht möglich, kann ihn im Einzelfall auch die Pflicht treffen, die Straße bis zur Beseitigung des gefahrbringenden Baumes oder Teiles davon für den Verkehr zu sperren.‟

      • Bäume bedeuten allgemein eine abstrakte Gefahr. Diese ist jedem bekannt und sind Teil des allgemeinen Lebensrisikos (vgl. auch BGH, Urteil vom 06.03.2014, III ZR 352/13).

        „Dass nicht jede von einem Baum oder einzelnen seiner Äste ausgehende Gefahr immer von außen erkennbar ist, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Vielmehr muss der Verkehr gewisse Gefahren, die nicht durch menschliches Handeln entstehen, sondern auf Gegebenheiten oder Gewalten der Natur beruhen, als unvermeidbar hinnehmen. Eine Verletzung der  Verkehrssicherungspflicht liegt deshalb in solchen Fällen nur vor, wenn Anzeichen verkannt oder übersehen worden sind, die nach der Erfahrung auf eine weitere Gefahr durch den Baum hinweisen (BGH, Urteil vom 21.01.1965 – III ZR 217/63, juris Rn. 13; Senatsurteil vom 30.10.2020 – 11 U 34/20, juris Rn. 7; Senatsbeschluss vom 04.11.2013 – 11 U 38/13, juris Rn. 13; Senatsbeschluss vom 04.11. 2022 – I-11 U 86/21 -, juris Rn. 6).‟

      • Allgemein gilt bezüglich der Verkehrssicherungspflicht auch in der Ausprägung als Amtspflicht, dass nur in „vernünftigem‟ Ausmaß Sicherheit geschuldet ist:

        „Die der Beklagten als Straßenbaulastträgerin nach §§ 9, 9a StrWG NW obliegende Straßenverkehrssicherungspflicht umfasst (nur) diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren (BGH, Urteil vom 6. Februar 2007 – VI ZR 274/05 -, Rn. 14, juris). Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnet werden kann. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar. Deshalb muss nicht für alle denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Es sind vielmehr nur diejenigen Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden. Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 Abs. 2 BGB) ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält.‟

      • Nach dem allgemeinen Grundsatz des Umfangs der Verkehrssicherungspflicht war allgemein wegen Existenz des Baumes eine Sperrung des Straßenabschnitts nicht notwendig:

        „Nach diesen Grundsätzen muss der Träger der Straßenbaulast bei einem aufkommen-den Sturm nicht einzelne Straßenabschnitte sperren, um bereits vorbeugend den sonst teilnehmenden Verkehr vor Schäden durch auf die Straße umstürzende Bäume oder Teile davon zu schützen.‟

      • Nach allgemeinen Grundsätzen musste vor Gefahren nur gewarnt werden, wenn eine Gefahr nicht rechtzeitig erkannt werden kann:

        „Darüber hinaus muss der Verkehrssicherungspflichtige auch nur diejenigen Gefahren ausräumen oder vor ihnen warnen, die für den Benutzer, der die erforderliche Sorgfalt walten lässt, nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten vermag (OLG Köln, Beschluss vom 07.01.2016 – 7 U 160/15 – juris Rn. 5).‟

      • Deshalb gab es auch im konkreten Einzelfall keine Pflicht zur Warnung, dass Bäume bei Orkan umfallen können oder sich Teile von ihnen lösen:

        „Dass bei einem orkanartigen Sturm die Gefahr besteht, dass umherwehende Gegenstände oder umstehende Bäume oder Teile von ihnen auf die Straße stürzen, ist aber allgemein bekannt, so dass sich jeder umsichtige Verkehrsteilnehmer auf die damit einhergehenden Gefahren – und sei es durch einen Verzicht auf das Befahren der Straße – einstellen kann. Aufgrund dieser allgemein anzunehmenden Kenntnis besteht kein Anspruch darauf, durch den Inhaber der Verkehrssicherungspflicht vor Schäden, welche auf solche Extremwetterlagen und damit höhere Gewalt zurückzuführen sind, gewarnt oder – wie vom Kläger verlangt – durch vorbeugende Maßnahmen geschützt zu werden (Wingler in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 10. Aufl., § 839 BGB [Stand: 21.03.2023], Rn. 564).‟

      • Ein Absperren wäre für eine Kommune bzw. sonstigen Amtsträger wegen des personellen Aufwands unzumutbar:

        „Zudem würde die Annahme einer solchermaßen weitgehenden Verkehrssicherungspflicht den Verkehrssicherungspflichtigen auch in personeller und wirtschaftlicher Hinsicht überfordern und wäre ihm deshalb auch nicht zumutbar.‟

  3. Selbst wenn an anderer Stelle Maßnahmen wie das Absperren von Straßen erfolgt sein sollten, wären diese nach den allgemeinen Maßstäben überobligatorisch und würden damit den Pflichtenkreis nicht erweitern.

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Recht im Winter – Lichterkette im Mietshaus / Weihnachtsbaum im Gefängnis

Michael PeusMichael Peus

AG Eschweiler, Urteil vom 01.08.2014 – 26 C 43/14
und
LG Berlin, Urteil vom 01.06.2010 – 65 S 390/09
und
KG, Beschluss vom 14.09.2017 – 5 Ws 180/17 Vollz

 

Sachverhalte

  1. Das Amtsgericht Eschweiler hatte einen Sachverhalt zu entscheiden, bei dem sich der Vermieter an der Lichterkette seiner Mieter störte, welche aus sechzehn durch ein Kabel verbundenen – de gustibus non est disputandum – verschieden farbigen runden Leuchtkörpern auf einer Gesamtlänge von drei Metern bestand. Mit Blick auf den Mietvertrag klagte der Vermieter auf Entfernung der Lichterkette. Der Mietvertrag enthält folgende Regelungen:

    Nach Ziffer 2 bedarf der Mieter für Instandsetzung jeglicher Art, baulichen oder sonstigen Änderungen und neuen Einrichtungen die vorherige Zustimmung des Vermieters. Nach Ziffer 3 hat der Mieter sich verpflichtet, bauliche oder sonstige Änderungen und Einrichtungen, die er ohne Zustimmung des Vermieters vorgenommen hat, auf Verlangen des Vermieters zu beseitigen. Nach Ziffer 3 dürfen Außenantennen, Reklameschilder, Leuchtreklame, Schaukästen, Plakate, Warenautomaten usw. der vorherigen Zustimmung des Vermieters. Wegen des genauen Wortlauts wird auf die als Anlage K1 zur Akte gelangte Urkunde des Mietvertrages verwiesen.

  2. Ebenfalls über eine Lichterkette an einem vermieteten Objekt hatte das Landgericht Berlin zu entscheiden. Wegen der nicht konkret genehmigten Lichterkette wurde – neben anderen Gründen – die Kündigung des Mietverhältnisses erklärt.
  3.  Das Kammergericht hatte einen Sachverhalt zu entscheiden, in dem ein Strafgefangener einen künstlichen Weihnachtsbaum inklusive Lichterkette in seinem Haftraum aufstellen wollte. Das wurde von der Justizanstalt verboten.

 

Entscheidungen

  1. Der Mieter durfte seine Lichterkette behalten und weiterbetreiben. Auch wenn er keine Zustimmung des Vermieters eingeholt hatte, sei die Klausel im Mietvertrag tatsächlich so zu verstehen, dass die Zustimmung des Vermieters auch hierfür erforderlich gewesen wäre. Aber eine Beseitigung würde voraussetzen, dass durch die Nutzung des Balkons mit Lichterkette der vertragsgemäße Gebrauch der Mietsache – hier: Balkon – überschritten sei. Das sei nicht der Fall:

    „Denn es ist anerkannt, dass der vertragsgemäße Gebrauch des Außenbereichs der Mietwohnung anders als die Ausgestaltung der Lebensverhältnisse innerhalb der Wohnung im Einzelfall Einschränkungen unterliegen kann. Dabei hat das Gericht nicht darüber zu befinden, ob die Verwendung der Lichterkette ästhetischen Anforderungen genügt. Denn dann würde es unzulässiger Weise sein Ästhetisches Empfunden an die Stelle des Empfindens der Parteien setzen. Zwar wird der Gesamteindruck des Hauses durch die sichtbare Lichterkette beeinflusst. Die Beeinflussung überschreitet aber nicht das Maß einer Beeinflussung durch die ohne weiteres zulässige Verwendung von z. B. bunten Sonnenschirmen oder einer ebenfalls ohne weiteres zulässigen Balkonbepflanzung und Bestuhlung. Angesichts der zwischenzeitlichen Üblichkeit der Verwendung von Leuchtkörpern im Außenbereich in allen gesellschaftlichen Schichten geht von der Verwendung der konkreten Lichterkette auch kein Makel aus. Mithin hat die Klägerin ihre Verwendung zu dulden.‟

  2. Das Landgericht Berlin hat die Zulässigkeit der Anbringung einer Lichterkette in dem dort zu entscheidenden Fall offengelassen, aber herausgestellt, dass selbst eine Unzulässigkeit kein Kündigungsgrund des Mietverhältnisses wäre:

    Die Lichterkette rechtfertigt auch eine Kündigung nicht. Ob es sich überhaupt um eine Pflichtverletzung handelt, soll hier ausdrücklich dahinstehen, denn immerhin handelt es sich um eine inzwischen weit verbreitete Sitte, in der Zeit vor und nach Weihnachten, Fenster und Balkone mit elektrischer Beleuchtung zu schmücken. Selbst wenn man, obwohl es mangels entsprechender Vereinbarung im Mietvertrag dazu schon keinen Anlass gibt, eine solche gleichwohl unterstellen wollte, handelte es sich jedenfalls um eine so verhältnismäßig geringfügige, dass sie weder eine fristlose noch eine fristgemäße Kündigung rechtfertigen könnte.

  3. Das Kammergericht hat das Verbot der Anstaltsleitung bestätigt. Nachdem bereits für natürliche Weihnachtsbäume entschieden sei, dass diese in Hafträumen unzulässig seien, sei dies nun auch für künstliche Weihnachtsbäume zu bestätigen. Von den Bäumen gehe eine Gefahr der Sicherheit aus, weil mit einer Lichterkette gefesselt und stranguliert werden könne sowie „Pendelkontakt‟ zu anderen Hafträumen hergestellt werden könne. Hohlräume in künstlichen Weihnachtsbäumen würden im Übrigen Möglichkeiten geben, Waffen, Werkzeuge oder Drogen zu verstecken.

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Recht im Winter – Sommerreifen bei Winterwetter

Michael PeusMichael Peus

AG Lüdinghausen, Urteil vom 29.09.2023, Az. 11 C 65/22  

Sachverhalt Unfall mit Sommerreifen bei Winter

Fahrer F fuhr mit seinem Pkw, auf welchem Sommerreifen montiert waren, bei Winterwetter (leichter Schneefall) im öffentlichen Straßenverkehr. Er konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und kollidierte mit dem Fahrzeug des A, welches seinerseits bereits vor diesem Zusammenstoß in einen Unfall verwickelt war und daher am Unfallort auf der Fahrbahn stand. Streitig war – und konnte letztlich auch nicht durch Sachverständigengutachten geklärt werden –, ob sich die erste Kollision in einem erheblichen Zeitraum vor der zweiten Kollision (F in A) ereignete, sodass die verminderte Bremswirkung der Sommerreifen unfallursächlich war oder ob die erste Kollision sich derart ereignete, dass sie unmittelbar im Fahrweg des F erfolgte, daher der Bremsweg verkürzt wurde und F selbst im Falle von montierten Winterreifen nicht mehr unfallvermeidend hätte bremsen können.

Der Kfz-Haftpflichtversicherer von F regulierte 2/3 des Schadens des A, der aus dem zweiten Unfall entstand. A klagte gegen F und seinen Kfz-Haftpflichtversicherer auf das übrige Drittel.

Entscheidungsgründe

Das Gericht wies die Klage ab. Der Kläger hatte keine weitergehenden Ansprüche, da seine Ansprüche durch Erfüllung (§ 362 BGB) erloschen waren.

Da zwei Kraftfahrzeuge beteiligt waren, welche jeweils der Betriebsgefahr unterlagen und das Unfallereignis für niemanden unabwendbar war (, wobei auf den Idealfahrer abzustellen ist, OLG Hamm, Urteil vom 11. September 2012, I-9 U 32/12), hin die Haftungsverteilung gemäß § 17 Abs. 1 Satz 2 StVG davon ab, inwieweit der Unfall von dem einen oder anderen verursacht worden ist. Nur unstreitige oder erwiesene Tatsachen konnten hier Berücksichtigung finden.

Unstreitig war, dass das Fahrzeug des F mit Sommerreifen ausgestattet war, obwohl die Wetterverhältnisse Winterreifen erfordert hätten (vgl. § 2 Abs. 3a StVO). Das führt zur Erhöhung der Betriebsgefahr des Fahrzeuges des F.

Aufgrund des Sachverhaltes stand nicht fest, ob diese Pflichtverletzung (Sommerreifen statt Winterreifen) unfallursächlich gewesen ist. Dies war auch durch einen Sachverständigen nicht feststellbar.

Daher bestand kein Anspruch des A über den regulierten Teil hinaus.

 

Anmerkung

Ob A überhaupt 2/3 verlangen konnte, musste das Gericht nicht mit Rechtskraft entscheiden. Es führte aus, dass es die vorgerichtliche Regulierung als zutreffend ansähe. Hierüber könnte man indes streiten. Denn eine Pflichtverletzung, welche sich nicht kausal ausgewirkt hat (vgl. BGH NJW 1995, 1029 zur absoluten Fahruntüchtigkeit), müsste unbeachtet bleiben. Dann wäre die Quote 50-50 gewesen. Darauf kam es indes vorliegend nicht an.

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Recht im Winter – Übersicht 2024

Michael PeusMichael Peus

Übersicht zu Artikeln „Winter & Recht‟:

– Vorstellung und Kommentierung  zur ergangenen Rechtsprechung nach Themen der Urteile –

 

Dachlawinen:

Dachlawine beschädigt Kfz, OLG Hamm, RA Krappel

Dachlawinen und Kfz, LG Detmold u. OLG Hamm, RA Peus

 

Fußgängerstürze wegen Glätte:

Sturz auf Bahnhofsgelände, BGH, RA Dr. Schmidt

Sturz auf dem Bahnhofsgelände, OLG Hamm, RA Möhlenkamp

Sturz auf dem Weg zum Kfz, OLG München, RA Dr. Schmidt

Sturz wegen Glätte nach streupflichtiger Zeit, LG Braunschweig, RA Möhlenkamp

Sturz wegen ungeeigneten Streumittels, OLG Hamm, RA Möhlenkamp

 

Mieter

Lichterkette am Balkon der Mietwohnung, RA Peus

 

Sommerreifen

Unfall mit Sommerreifen bei Schnee, RA Peus

 

Weihnachtsbräuche:

Lichterkette am Balkon der Mietwohnung, RA Peus

Sturz über Schlauch auf Weihnachtsmarkt, OLG Sachsen-Anhalt, RA Dr. Schmidt

Verkehrssicherungspflicht für Weihnachtsbaum, OLG Düsseldorf, RA Peus

Weihnachtsbaum in Gefängniszelle: nicht gestattet, RA Peus

 

Winterreifen

Winterreifen am Mietwagen von Schadensersatzanspruch umfasst, RA Peus

Winterreifen am Radarmesswagen, RA Peus

 

Wintersport:

Rodeln und Skifreizeit, AG Bonn und LG Augsburg, RA Peus

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Recht im Winter – Geschwindigkeitsmesswagen mit Winterreifen

Michael PeusMichael Peus

AG Landstuhl, Beschluss vom 05.02.2022 – 2 OWi 4211 Js 8338/21

Geschwindigkeitsmesswagen müssen geeicht sein. Vorliegend war es so, dass der Geschwindigkeitsmesswagen zwar geeicht war, aber mit Sommerreifen. Zum Zeitpunkt der Geschwindigkeitsmessung waren Winterreifen montiert. „Leider‟ hatten diese Winterreifen dieselbe Größe, weshalb das Gericht den Vorwurf der fehlerhaften Messung zurückwies:

„Der Verstoß wurde gemessen mit dem geeichten Messfahrzeug des Typs Provida 2000 modular. Laut Eichschein (AS19) wurde das Messgerät im Kraftfahrzeug am 1.9.2020 geeicht, wobei die Eichfrist am 31.12.2021 endete. Die Eichung erfolgte mit Sommerreifen der Größe 255/40 R19. Zum Messzeitpunkt waren Winterreifen derselben Größe aufgezogen (AS84), sodass nur eine formale Diskrepanz, aber keine eichrechtliche oder messtechnische Relevanz vorliegt (OLG Hamm Beschl. v. 7.6.2011 – III – 1 RBs 75/11, BeckRS 2011, 20102).‟

 

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