Hinterbliebenengeld XII: Hinterbliebenengeld für ein ungeborenes Kind?

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OLG München, Urteil vom 05.08.2021 – 24 U 5354/20

 

Zum Fall
Der Versicherungsnehmer der Beklagten verursachte durch eine Geisterfahrt auf der Autobahn einen tödlichen Unfall bei dem sowohl er, als auch der Vater der – zu diesem Zeitpunkt ungeborenen – Klägerin getötet wurden.
Die beklagte Versicherung, die sich für die Folgen des Unfalls zu 100 % haftet, widerspricht der Forderung der zum Zeitpunkt des Todesfalls ungeborenen Klägerin Hinterbliebenengeld zu zahlen.
Das Landgericht verneinte bereits einen Anspruch auf Zahlung von Hinterbliebenengeld, da u.a. der Nasciturus vom Schutzbereich des § 844 III BGB nicht umfasst sei.

 

Entscheidungsgründe
Das OLG entscheidet, dass ein ungeborenes Kind keinen Anspruch auf Hinterbliebenengeld hat.
Der Klägerin stünde kein Hinterbliebenengeld nach § 844 III BGB, §§ 7 I, 10 III StVG i.V.m. § 115 I Nr.1 VVG, § 1 PflVG zu.

1. Einem Anspruch aus § 844 III BGB stehe entgegen, dass die Klägerin weder zur Zeit des schädigenden Ereignisses, noch beim Schadenseintritt geboren war. Die Rechtsfähigkeit eines Menschen beginnt jedoch erst mit der Vollendung der Geburt gem. § 1 BGB. Daher fehle ihr die nötige Rechtsfähigkeit.

2. Auch die Ausnahmevorschriften nach § 844 II 2 BGB – der nur für den Unterhaltsanspruch gelte – und § 1923 II BGB über die Erbfähigkeit eines bereits gezeugten Kindes, greifen in diesem Fall nicht ein.

3. Das OLG argumentiert gegen eine analoge Anwendung des § 844 II 2 BGB. Es sei eine nicht analogiefähige Sondervorschrift. Einer Anwendung stünde bereits entgegen, dass § 844 II 2 BGB bereits eine Sonderregelung für unterhaltsrechtliche Ansprüche enthalte. Es läge daher kein Anhaltspunkt vor, dass der Gesetzgeber bei der Einführung des Hinterbliebenengeldes das ungeborene Kind planwidrig übersehen hätte.

4. Außerdem wird herausgestellt, dass kein besonderes persönliches Näheverhältnis zwischen dem ungeborenen Kind und dem getöteten Vater bestanden hätte. Dies sei für einen Anspruch aus § 844 III 1 BGB jedoch erforderlich. Die allmähliche Entwicklung der Sinnesorgane des Embryos reiche für eine Begründung eines persönlichen Näheverhältnisses nicht aus. Das ein solches Verhältnis eventuell nach der Geburt erwartet werden kann, könne nicht berücksichtigt werden. Ein Kindschaftsverhältnis zum Vater läge ebenfalls nicht vor. Dieses beginne ebenfalls erst mit der Geburt des Kindes.

5. Auch könne ein persönliches Näheverhältnis nach § 844 III 2 BGB nicht vermutet werden. Nach dem Wortlaut ergibt sich, dass lediglich bei dem „Kind“ des Getöteten ein solches Verhältnis vermutet werden könne. Der Nasciturus wird laut Senat nicht von diesem Begriff umfasst.

6. Aus der Rechtsprechung, nach der derjenige, der für den Schaden bei einem Kind mit Gesundheitsschaden im Mutterleib ursächlich war, haftet (BGH, Urteil vom 05.02.2985 – VI ZR 198/83), könne kein Anspruch des Nasciturus auf Hinterbliebenengeld hergeleitet werden. In diesem Fall sei bei der Klägerin kein körperlicher Schaden durch den Unfall entstanden. Es komme nur ein immaterieller Schadensersatzanspruch in Betracht.

7. Anders als die Klägerin behauptet, vertritt das Oberlandesgericht die Ansicht, dass es nicht die Menschenwürde nach Art. 1 I GG verletze, wenn nur einem geborenen Kind bei dem Tod eines Elternteils Hinterbliebenengeld zustehen würde. Ein Ausschluss des – im Zeitpunkt der (immateriellen) Verletzung – ungeborenen Kindes vom Hinterbliebenengeld widerspreche nicht dem Art. 1 I GG und erscheine auch nicht willkürlich, da in solchen Fällen (wie auch hier) an kein bereits bestehendes persönliches Näheverhältnis im Sinne einer gelebten sozialen Beziehung angeknüpft werden könne.

 

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