§ 110 SGB VII – Die subjektive Komponente der groben Fahrlässigkeit
Landgericht Paderborn, Urteil vom 23.5.2014 — Aktenzeichen: 2 O 460/13
Arbeitgeber sind für den Arbeitsschutz verantwortlich. Erleidet ein Mitarbeiter einen Arbeitsunfall, weil Unfallverhütungsvorschriften verletzt sind, kann der Unfallversicherungsträger seine Aufwendungen ersetzt verlangen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitsunfall grob fahrlässig herbeigeführt hat. So steht es in § 110 SGB VII. Dies erfordert aber auch in subjektiver Hinsicht ein krasses Verschulden, woran es im Einzelfall fehlen kann.
Leitsatz
1. Bei der Frage, ob ein in objektiver Hinsicht grob fahrlässiges Verhalten auch subjektiv schlechthin unentschuldbar ist, ist auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen. 2. Wird auf Sicherheitsvorkehrungen auf Dächern bei Besichtigungen oder Außmaßterminen üblicherweise verzichtet, ist dies ein Umstand, der einen Verstoß gegen UVV als in subjektiver Hinsicht weniger schwerwiegend erscheinen lässt; gleiches gilt dann, wenn der Verunfallte bauerfahren und Bauleiterfunktion hat.
Sachverhalt
Die klagende Berufsgenossenschaft (BG) macht gegen den Beklagten, einem Dachdecker, wegen eines Arbeitsunfalls dessen Mitarbeiters, der bei dem Beklagten als Bauleiter eingestellt und tätig war, Aufwendungsersatzansprüche nach § 110 SGB VII geltend. Am Unfalltag nahm der Beklagte gemeinsam mit seinem Bauleiter eine Lagerhalle in Augenschein, um ein Aufmaß zu nehmen. Dies war erforderlich, um ein Angebot für Dachdeckerarbeiten zu erstellen. Der Eigentümer der Lagerhalle wollte die vorhandenen sanierungsbedürftigen Wellplatten mit eingelassenen Lichtplatten komplett erneuern. Dazu betrat der Beklagte das Dach, um die Massen zu ermitteln. Sein Bauleiter ging hinter ihm her und stürzte dabei in eine nicht durchtrittsichere Lichtplatte. Bei seinem Sturz aus rd. 5 m Höhe verletzte sich der Bauleiter erheblich.
Mit der Klage machte die klagende BG ihre unfallbedingten Aufwendungen geltend. Das Landgericht holte ein Sachverständigengutachten ein; der Gutachter bestätigte Verstöße gegen Unfallverhütungsvorschriften — entweder hätten lastverteilende Bohlen von 50 cm Breite gelegt oder die Halle unterhalb des Welldaches abgenetzt werden müssen.
Entscheidung
Die Klage hat trotzdem keinen Erfolg. Zwar liege objektiv ein Fall der groben Fahrlässigkeit vor, weil das Dach ohne entsprechende Sicherungen hätte nicht betreten werden dürfen.
Allerdings setze — so das Landgericht — der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit nicht nur einen objektiv besonders schwerwiegenden Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften (UVV) voraus — diesen wollte das Landgericht bejahen -, sondern auch subjektiv ein besonders schwerwiegendes Verschulden. Eine solche subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung konnte das Gericht nach Beweisaufnahme nicht feststellen. Zwar habe der Beklagte auf Sicherheitsvorkehrungen verzichtet, obwohl ihm die einschlägigen UVV hätten bekannt sein müssen. Allerdings habe der verunfallte Bauleiter um langjährige Erfahrung im Bereich des Dachdeckerhandwerks verfügt; ihm seien insbesondere die Gefahren beim Betreten derartiger Dächer bekannt gewesen. Als Bauleiter hätte er ggf. für die Beachtung der einschlägigen UVV selbst Sorge tragen müssen; gleichwohl habe er sich hier selbst erheblichen Gefahren ausgesetzt. Aufgrund seiner Berufserfahrung und Tätigkeit als Bauleiter hätte ihm die Tragweiter seiner Entscheidung, das Dach zu betreten, bekannt sein müssen. Er sei selbst ein hohes Risiko eingegangen. Deshalb wiege die Verantwortung des Beklagten selbst weniger schwer.
Ferner habe es sich um einen Aufmaßtermin gehandelt. Es sei — so der Sachverständige — üblich, in Fällen von Besichtigungen und Aufmaßarbeiten von geringer Dauer auf Sicherheitsvorkehrungen zu verzichten. Deshalb wiege die Sorgfaltswidrigkeit des Beklagten in subjektiver Hinsicht weniger schwer.