Medizinischer Standard

BGH, Urteil vom 22.12.2015 — Aktenzeichen: VI ZR 67/15

Sachverhalt
Die Klägerin ging als Rechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemannes gegen die Beklagten vor. Dieser hatte viele Jahre zuvor einen Herzinfarkt erlitten und eine Bypassoperation erhalten, seit der er sich einmal jährlich zur kardiologischen Kontrolle bei dem Beklagten zu 2) vorstellen musste. Im Jahr 2003 wurden eine Mitralklappeninsuffizienz und eine Trikuspidalklappeninsuffizienz II. Grades diagnostiziert. Im November 2007 suchte der Erblasser den Beklagten zu 2) auf und klagte über Atemnot. Am 13. November 2007 wurde er in dem von der Beklagten zu 1) betriebenen Krankenhaus wegen des erneuten Verdachts auf Herzinfarkt stationär aufgenommen, wo er sich bis zum 21.11.2007 befand. Zwei Tage später wurde er erneut bei der Beklagten zu 1) eingewiesen, wo er nach ambulanter Behandlung eine neue Medikation erhielt. Am 20.12.2007 stellte sich der Erblasser bei dem Beklagten zu 2) aufgrund weiter bestehender Kurzatmigkeit vor. Eine Röntgenaufnahme der Lunge und ein CT förderten zu Tage, dass sich Wasser in der Lunge befand, weshalb eine Überweisung an die Beklagte zu 1) für eine Punktion erfolgte; außerdem diagnostizierte der Beklagte zu 2) eine Blutsenkung, die auf eine Entzündung hinwies; er verschrieb dem Erblasser ein Antibiotikum. Wegen der Einnahme von Marcumar konnte die Punktion erst am 27.12.2007 stattfinden; dabei wurden 1,5 Liter Wasser entzogen. Zwei weitere Tage später wurde der Erblasser entlassen. Am 24.01.2008 erfolgte eine erneute Einweisung durch den Beklagten zu 2) in eine Klinik für Thorax-Chirurgie zur Abklärung von Pleuraergüssen. Am 14.03.2008 erfolgte die notfallmäßige Einweisung durch den Beklagten zu 2) wegen des Verdachts auf Darmverschluss; dort wurden erhöhte Entzündungswerte diagnostiziert und Antibiotika verordnet. Am 01. und 02. April 2008 erfolgten in dem von der Beklagten zu 1) betriebenen Krankenhaus Echokardiographien, welche den Befund einer schweren operationsbedürftigen Mitralklappeninsuffizienz erbrachten. Eine am 04.04.2008 erfolgte Herzkatheteruntersuchung bestätigte diesen Befund und ergab die Notwendigkeit einer erneuten Bypass-Operation. Zu dieser kam es nicht mehr, weil der Erblasser am 10.04.2008 verstarb.

Die Klägerin machte mit der Klage geltend, die Beklagten hätten die Herzkatheteruntersuchungen früher veranlassen müssen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückgewiesen, womit die Klägerin sich mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde wendete.

Entscheidung
Der BGH hat die Nichtzulassungsbeschwerde für zulässig und begründet erklärt und den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zur erneuten Verhandlung zurückgewiesen.

Nach Auffassung des BGH hat das Berufungsgericht unter Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs entscheidungserheblichen Vortrag der Klägerin unberücksichtigt gelassen. Diese hatte Behauptungen aufgestellt, die in ihrem privat eingeholten Sachverständigengutachten nicht enthalten waren. Der BGH wies in seiner Entscheidung darauf hin, dass eine Partei die unter Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens gestellten Behauptungen nicht vorab durch Vorlage eines Privatsachverständigengutachtens belegen muss.

Darüber hinaus nutzte der BGH die Gelegenheit klarzustellen, dass das Absehen von einer ärztlichen Maßnahme nicht erst dann behandlungsfehlerhaft ist, wenn die Maßnahme „zwingend geboten“ ist, sondern bereits dann, wenn ihr Unterbleiben dem im Zeitpunkt der Behandlung bestehenden medizinischen Standard zuwiderläuft. Das Landgericht war insoweit fehlerhaft davon ausgegangen, dass eine Maßnahme, die unterlassen wird, zwingend geboten sein muss, um einen Behandlungsfehlervorwurf zu begründen. Damit hat der BGH noch einmal betont, dass – entsprechend seiner ständigen Rechtsprechung – der Prüfungsmaßstab allein der medizinische Standard ist, der Auskunft darüber gibt, welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs im Zeitpunkt der Behandlung erwartet werden kann; er repräsentiert den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat.

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