Liegt ein Mangel vor, wenn (noch) kein Schaden eingetreten ist?
Der Verstoß gegen die allgemein anerkannten Regeln der Technik und die damit verbundene Schadensneigung begründen einen Mangel des Werks und damit Gewährleistungsrechte, auch wenn noch keine Mangelsymptome aufgetreten sind.
OLG Stuttgart, Urteil vom 28.03.2023 – 10 U 29/22
BGB §§ 254, 280 Abs. 1, §§ 633, 634 Nr. 3, 4, §§ 637, 705; HOAI 2009 § 33; VOB/B § 4 Abs. 3, § 13 Abs. 3, 5 Nr. 2
Sachverhalt
Die Kläger ließen in den Jahren 2011 und 2012 mehrere Doppelhäuser in Bauherrengemeinschaft errichten. Das Dach der Doppelhäuser wurde als Pultdach in Holzkonstruktion mit einer extensiven Begrünung und einer raumseitigen Dampfsperre, eine sogenannte Dicht-Dicht-Konstruktion, auch „Warmdach‟, geplant und ausgeführt. Diese Konstruktion entsprach nach den Feststellungen des OLG Stuttgart zum Zeitpunkt der Planung, Errichtung und Abnahme nicht mehr den allgemein anerkannten Regeln der Technik, weil in den Dachraum eingedrungene Feuchtigkeit nicht mehr entweichen kann. Später traten im Dachaufbau einer Doppelhaushälfte Auffeuchtungen auf. Nach Ansicht der Kläger habe die Mängelbeseitigung durch den Rückbau der Dachkonstruktion aller Doppelhaushälften und Austausch der Dampfsperre (diffusionsdicht) durch eine Dampfbremse (diffusionshemmend) zu erfolgen. Der planende Architekt (Beklagter) wendet ein, dass die verlangte Gesamtsanierung unverhältnismäßig sei, weil nicht alle Doppelhaushälften bislang Feuchtigkeitsschäden aufweisen.
Entscheidung
Der Einwand des Architekten (Beklagten) greift nicht durch. Denn der Verstoß gegen die allgemein anerkannten Regeln der Technik führt eine Schadensneigung herbei, die möglicherweise erst in Jahren zu einem Schadensbild führt. Die Konstruktion ist dem erstellten Sachverständigengutachten zufolge mit Risiken belegt, die unter normalen Bedingungen früher oder später zu Schäden führen würden. Die Kläger müssen nicht abwarten, bis solche Schäden eintreten und eventuell Gewährleistungsansprüche verjährt sind. Der Verstoß gegen die allgemein anerkannten Regeln der Technik kann zu ganz erheblichen Schäden führen. Insoweit ist es nicht unverhältnismäßig i.S.d. §§ 635 Abs. 3 BGB, wenn bereits vorbeugend vor Eintritt von Schadensbildern die Mangelursache beseitigt wird.
Praxishinweis
Relevant sind zwei in der Entscheidung angesprochene Punkte: Zum einen der Einwand, es liege doch gar kein Mangel vor, weil trotz eines gewissen Zeitablaufs noch kein Schaden eingetreten sei. Zum anderen der Einwand, es sei unter diesen Umständen der Aufwand einer Gesamtsanierung im Verhältnis zum Nutzen unverhältnismäßig. Beide Einwände greifen in der Regel – und so auch in der vorliegenden Entscheidung – nicht durch. Nach ständiger Rechtsprechung begründet die Nichteinhaltung der a.R.d.T. einen Werkmangel unabhängig davon, ob sie sich im Einzelfall nachteilig auswirkt. Dem kann meist auch nicht der Einwand der Unverhältnismäßigkeit nach § 635 Abs. 3 BGB entgegengehalten werden, wenn mit dem zukünftigen Eintritt von Schäden zu rechnen ist. Eine Unverhältnismäßigkeit wird in erster Linie bei Schönheitsfehlern, die allein das Erscheinungsbild des Bauwerks herabsetzen sowie bei Mängeln angenommen, welche die Funktionsfähigkeit der Bauleistung als solche nur ganz geringfügig beeinträchtigen.