Grobe Fahrlässigkeit bei § 110 SGB VII
Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 5.11.2015 — Aktenzeichen: 11 U 4/11
In der Leiharbeiter-Entscheidung des BGH vom 18.11.2014, VI ZR 141/13 stand die Frage im Mittelpunkt, ob Entleiher sich gegenüber verunfallten Leiharbeitern auf das Haftungsprivileg im SGB VII berufen können. Dies hat der BGH in seinem Grundsatzurteil bejaht, das Urteil der Vorinstanz aber gleichwohl aufgehoben, weil dieses zu Unrecht die grobe Fahrlässigkeit bejaht hatte. Das OLG musste sich erneut mit der Sache befassen.
Sachverhalt
B betreibt ein Elektrogeschäft und war beauftragt, auf einer Reithalle eine Photovoltaikanlage zu installieren. Ein Mitarbeiter des B sowie zwei entliehene Leiharbeiter führten die Arbeiten auf dem Dach aus. Sicherheitsnetze und Schutzgerüst gab es nicht. Ein Leiharbeiter trat auf eine zum Dach gehörende Lichtplatte, stürzte rd. 6 m auf den Hallenboden und verletzte sich schwer. Die klagende Verwaltungs-BG verlangte von B Aufwendungsersatz nach § 110 SGB VII.
Die Klägerin trug vor, es habe keinerlei Absturzsicherung gegeben, keine Schutznetze, kein Fanggerüst, keine lastverteilenden Bohlen — nichts. Das ausgesprochene Verbot, nicht auf die Lichtbänder zu treten, reiche nicht. Außerdem sei der verunfallte Leiharbeiter sehr unerfahren gewesen, zumal er den ersten Tag auf der Baustelle gewesen sei. Außerdem stünde in Ansehung der Absturzhöhe von mehr als 6 m die tödliche Gefahr jedermann vor Augen. Grobe Fahrlässigkeit liege deshalb vor.
Der Beklagte verteidigte sich damit, dass er Schutznetze bestellt hätte; diese seien am Unfalltag noch nicht da gewesen; deshalb sollte die Mitarbeiter nach seiner Vorstellung und Anweisung in die Sicken der Lichtbänder die Alu-Profile legen, bis Schutznetze da seien. Die Aufsicht sei seinem sehr erfahrenen Vorarbeiter übertragen worden.
Nachdem der BGH das Urteil des OLG Schleswig im „ersten Durchgang“ aufgehoben und die Sache an das OLG zurückverwiesen hatte, hat das OLG „in vierter Instanz“ Beweis erhoben. Die Erinnerung der vernommenen Zeugen war derart schlecht und teilweise unterschiedlich, dass das OLG Schleswig keine grobe Fahrlässigkeit hat feststellen können.
Entscheidung
Das OLG hat ausgeführt, dass zwar objektiv gegen Unfallverhütungsvorschriften verstoßen worden sei, die sich mit Vorrichtungen zum Schutz vor tödlichen Gefahren befasst und elementare und eindeutige Sicherungspflichten zum Inhalt haben. Es konnte aber ein subjektiv gesteigertes Verschulden nicht feststellen; einer solchen Feststellung stand entgegen, dass der Beklagte umwiderlegt behauptet hat, seine Mitarbeiter angewiesen zu haben, nicht auf die Platten zu treten und während des Aufenthalts auf dem Dach die Lichtplatten durch Einlegen der Alu-Profile in die Sicken abzusichern, bis die bestellten Sicherungsnetze eintrafen. Es hätte unwiderlegt keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass der Mitarbeiter die Weisung nicht umsetzt. Die Folgen der Unerweislichkeit trage — so das OLG — die Klägerin. Sie habe vollständig die Beweislast. Der Beweis sei schon dann nicht erbracht, wenn möglich bleibt, dass der Beklagte seine Mitarbeiter so angewiesen hat.
Anmerkung
Das OLG räumt mit der Vorstellung vieler klagenden Berufsgenossenschaften auf, dass bei einem Absturz aus einer Höhe von mehr als 5 m — quasi automatisch — grobe Fahrlässigkeit vorliege. Dies ist nicht richtig. Stets muss geschaut werden, ob auch eine subjektive grobe Fahrlässigkeit gegeben ist. Auch für diese ist der Unfallversicherungsträger beweispflichtig. Er muss also vom in Anspruch genommenen Unternehmer behauptete „entlastende Umstände“ widerlegen.