Wiedereinsetzung: Hinweispflichten des Gerichts
BGH, Beschl. v. 08.03.2022 – VIII ZB 45/21
Leitsatz (amtlich)
War die von dem Prozessbevollmächtigten der Partei zulässigerweise gewählte Übermittlung eines fristwahrenden Schriftsatzes am Tag des Fristablaufs aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen gescheitert und hält das mit dem Wiedereinsetzungsgesuch befasste Gericht einen anderen Übermittlungsweg für zumutbar, womit der Prozessbevollmächtigte nicht zu rechnen brauchte, hat das Gericht vor der Entscheidung hierauf hinzuweisen und der Partei Gelegenheit zur Stellungnahme zur Frage der Zumutbarkeit dieses anderen Übermittlungswegs im konkreten Fall zu geben.
Sachverhalt
Die Beklagte, eine sich selbst vertretene Rechtsanwältin, legte fristgerecht Berufung ein. Die Berufungsbegründungsfrist lief am 14.07.2021 ab. Die Berufungsbegründung ging erst am 15.07.2021 bei Gericht ein. Mit Schriftsatz vom 20.07.2021 beantragte die Beklagte Fristverlängerung. Das Berufungsgericht lehnte den Antrag ab, da dieser erst nach Fristablauf bei Gericht eingegangen war. Daraufhin beantragte die Beklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung führte sie an, dass ihr Kanzleianschluss von dem Telekommunikationsanbieter unerwartet gesperrt worden und seit dem 14.07.2021 nicht mehr nutzbar gewesen sei. Auch das besondere elektronische Anwaltspostfach könne sie deshalb nicht verwenden. Am 14.07.2021 habe sie telefonisch bei der Geschäftsstelle des Gerichts einen Antrag auf Fristverlängerung bis zum 15.07.2021 gestellt und auf dessen Gewährung vertrauen dürfen, da sie die Einwilligung der Gegenseite eingeholt habe. Da der Telekommunikationsanschluss am nächsten Tag immer noch nicht funktioniert habe, habe sie am 15.07.2021 den Schriftsatz persönlich bei Gericht eingeworfen.
Das Berufungsgericht wies den Antrag zurück und verwarf die Berufung als unzulässig. Ihr wäre es bei Bemerken der Sperrung des Anschlusses „ohne weiteres möglich gewesen“ die Berufungsbegründung noch am 14.07.2021 persönlich bei Gericht einzuwerfen. Auf eine erneute Fristverlängerung habe sie nicht vertrauen dürfen und der telefonische Fristverlängerungsantrag genüge den Schriftformanforderungen nicht.
Hiergegen richtet sich die Beklagte mit der Rechtsbeschwerde und macht u.a. geltend, dass es ihr aufgrund einer Gehbehinderung infolge eines Schlaganfalls nicht möglich gewesen sei, die Berufungsbegründung noch am 14.07.2021 persönlich zu Gericht zu bringen.
Entscheidung
Mit Erfolg – die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts verletzt die Beklagte in ihrem Recht auf rechtliches Gehör und wirkungsvollen Rechtsschutz.
Die gesetzlichen Fristen können bis zu ihrer Grenze ausgereizt werden, ohne dass eine erhöhte Sorgfalt an den Tag zu legen ist, um die fristgemäße Übertragung sicherzustellen. Die Parteivertreter müssen auch nicht mit einem unvorhersehbaren Vorfall rechnen, der eine rechtzeitige Übertragung unmöglich macht. Die Beklagte befand sich noch in Verhandlungen mit dem Telekommunikationsanbieter. Die Sperrung beruhte auf einem internen Fehler des Telekommunikationsunternehmens. Der Fall unterscheidet sich daher nicht von den Fällen, in denen die Fristversäumnis auf nicht vorhersehbaren bzw. nicht vermeidbaren technischen Störungen zurückgeht.
Ein Verschulden kann nicht mit der Begründung, die Beklagte hätte den Schriftsatz noch am 14.07.2021 persönlich zum Gericht bringen können, bejaht werden. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung darf von einem Prozessbevollmächtigten, bei dem die geplante Übersendung eines Schriftsatzes per Telefax aufgrund eines technischen Defekts des Empfängergeräts fehlschlägt, nicht erwartet werden, dass dieser die Zustellung innerhalb der verbleibenden, kurzen Zeit durch alle möglichen Bemühungen sicherstellt. Dies ist vielmehr im Einzelfall nach der persönlichen Zumutbarkeit und Möglichkeit zu beurteilen. Zumutbar für den Prozessbevollmächtigten ist es jedenfalls, innerhalb des gewählten Übermittlungsweges nach anderen Möglichkeiten zu suchen, die ohne großen Aufwand genutzt werden können und sich geradezu aufdrängen. Das Berufungsgericht hätte die Beklagte jedenfalls darauf hinweisen müssen, dass es in dem Unterlassen der persönlichen Überbringung des Schriftsatzes am letzten Tag der Frist ein Verschulden sieht und ihr so die Möglichkeit geben müssen, zur Zumutbarkeit vorzutragen.
Aufgrund der glaubhaften Darlegung der Gehbehinderung kann nicht ausgeschlossen werden, dass die persönliche Überbringung der Berufungsbegründung am letzten Tag der Frist für die Beklagte unzumutbar war. Etwas Anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass die Beklagte den Schriftsatz am Folgetag zum Gericht gebracht hat. Würde man dies bei der Beurteilung berücksichtigen, würde es zu einer schlechteren Beurteilung desjenigen führen, der alle Möglichkeiten zur fristgerechten Übermittlung ausschöpft, gegenüber demjenigen, der dies nicht tut.