Kein Unterlassungsanspruch der Anwohner bei Verstößen gegen Lkw-Durchfahrtsverbot

BGH, Urt. v. 14.06.2022 – VI ZR 110/21

 

Leitsätze (redaktionell)
1. Das in der Landeshauptstadt Stuttgart angeordnete Durchfahrtsverbot für Lkw ist kein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB.

2. Für die Beurteilung, ob ein Gesetz ein Schutzgesetz i.S.d. § 823 BGB ist, kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf den Inhalt, Zweck und die Entstehungsgeschichte an, d.h. es ist danach zu fragen, ob der Gesetzgeber auch einen Rechtsschutz der betreffenden Form für individuelle Personen(gruppen) beabsichtigt hat. Die Erreichung eines objektiven Individualschutzes durch die bloße Befolgung der Norm reicht nicht aus.

 

Sachverhalt
Die Kläger sind Eigentümer von Grundstücken an bzw. in direkter Nähe der H. Straße in Stuttgart, die zu einer Umweltzone gehört und in der ein Lkw-Durchfahrtsverbots besteht. Diese Verbotszonen erstrecken sich über das gesamte Stadtgebiet. Die Kläger verlangen von dem Beklagten (dem Betreiber eines Speditionsunternehmens, dessen Mitarbeiter die H. Straße mehrmals am Tag mit Lkw befahren) die Unterlassung des Befahrens und begründen dies mit einer Gesundheitsgefährdung durch die Feinstaub- und Stickoxidbelastung.

Vor Amts- und Landgericht hatte die Klage keinen Erfolg. Mit ihrer Revision verfolgen die Kläger nun ihr Begehren weiter.

 

Entscheidung
Der BGH weist die Revision zurück. Den Klägern steht kein Unterlassungsanspruch gegen den Beklagten zu.

Die Kläger haben keinen Anspruch gem. § 1004 Abs. 1 i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB wegen einer Gesundheitsverletzung und der Beklagten ist nach dem Vortrag der Kläger auch keine wesentliche Beeinträchtigung der Grundstücksbenutzung zuzurechnen. Es besteht damit auch kein Anspruch gem. § 1004 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 906 BGB.

Selbst bei einem unterstellten Verstoß gegen das Durchfahrtsverbot stünde den Klägern kein Anspruch analog § 823 Abs. 1 i.V.m. § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB wegen der Verletzung eines Schutzgesetzes zu. Das Durchfahrtsverbot stützt sich auf § 40 Abs. 1 S. 1 BImSchG i.V.m. dem Luftreinhalteplan für die Landeshauptstadt Stuttgart und ist kein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB, das den Anwohnern ermöglicht, zivilrechtlich einen Unterlassungsanspruch gegen Zuwiderhandelnde geltend zu machen. Ein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB ist eine Rechtsnorm, die zumindest auch dazu dienen soll, dem Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsgutes oder eines bestimmten Rechtsinteresses zu schützen. Maßgeblich für diese Beurteilung ist nicht die Wirkung, sondern der Inhalt, Zweck und die Entstehungsgeschichte der Norm. Der Gesetzgeber muss diesen Schutz mit dem Erlass der Norm zumindest mittelbar beabsichtigt haben. Dieser Schutz muss somit zum Aufgabenbereich der Norm gehören. Ein Individualschutz, der durch die bloße Befolgung der Norm objektiv erreicht werden kann, genügt nicht.

Vorliegend wurde das Durchfahrtsverbot für das ganze Stadtgebiet Stuttgarts angeordnet, mit dem Ziel, die allgemeine Luftqualität zu verbessern und gegen die Überschreitung der Immissionswerte vorzugehen. Die Kläger sind durch diese Regelung zwar begünstigt, allerdings nur als ein Teil der Allgemeinheit. Aufgrund des großen Geltungsgebietes kann keine unmittelbare Gefahr für die Anlieger durch die Überschreitung der Immissionsgrenzwerte und eine potentielle Gesundheitsbeeinträchtigung durch die Immissionen der Kraftfahrzeuge angenommen werden. Die Größe dieses Gebietes deutet schon daraufhin, dass das Lkw-Durchfahrtverbot nicht dem Schutz des Einzelnen dienen sollte. Auch unter Berücksichtigung des Gesundheitsschutzes ergibt sich kein individueller Unterlassungsanspruch hinsichtlich des Befahrens der gesamten Verbotszone. Es ist keine Personengruppe bestimmbar, die das Verbot mittels eines zivilrechtlichen Unterlassungsanspruchs gegen Verstöße schützen sollte. Aus § 40 Abs. 1 S. 1 BImSchG i.V.m. dem Durchfahrtverbot ergibt sich kein Anspruch des einzelnen Bürgers auf dessen Vollzug.

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