Sturz im Pflegeheim: Fixieren des Patienten

OLG Koblenz, Urteil vom 17.6.2013 — Aktenzeichen: 3 U 240/13

Sachverhalt
Die 1928 geborene Mutter des Klägers lebte seit dem 29. Juli 2010 in vollstationärer Pflege der Beklagten nach der Pflegstufe II. In der Folge kam es zu verschiedenen Tageszeiten und an verschiedenen Orten in der Einrichtung der Beklagten zu Stürzen der Mutter des Klägers. Anfang Oktober 2010 sprach die Pflegedienstleiterin der Beklagten mit dem Kläger anlässlich eines Herbstfestes über Maßnahmen der Sturzprophylaxe. Es wurde vereinbart, dass das Bett der Mutter tiefer gelegt und zusätzlich vor das Bett eine Matratze ausgelegt wird. Zudem wurde besprochen, dass der Kläger eventuell einen Antrag auf gerichtliche Genehmigung der Fixierung seiner Mutter mittels Bettgitter stellen solle, wobei eine Dringlichkeit dafür nicht vermittelt wurde. Die von der Beklagten getroffenen Maßnahmen sind in der Pflegeplanung vom 2. Oktober 2010 dokumentiert. Ausweislich der Pflegeplanung vom 17. Oktober 2010 beschloss die Beklagte, die vor das Bett gelegte Matratze wieder zu entfernen. Nach einem Sturz im Badezimmer am 28. Oktober 2010 gegen 14.45 Uhr erhielt die Mutter des Klägers rutschfestes Schuhwerk und rutschfeste Socken sowie Sturzprotektoren. Die Beklagte teilte dem Kläger am 2. November 2010 mit, dass er nunmehr einen Antrag auf Genehmigung der Fixierung stellen solle. Am 9. November 2010 gegen 16.20 Uhr stürzte die Mutter des Klägers im Aufenthaltsraum des Pflegeheims bei dem Versuch, aus dem Rollstuhl aufzustehen. Am Abend des 12. November 2010 wurde die Mutter des Klägers gegen 21.00 Uhr vor ihrem Bett auf dem Bauch liegend mit einer Platzwunde an der Oberlippe und einer Beule am rechten Wangenknochen aufgefunden. Sie war nicht ansprechbar. Im E-Krankenhaus in …[X] wurde u.a. ein subdurales Hämatom diagnostiziert. Die Mutter des Klägers verstarb am 16. November 2010. Der Kläger macht die Beklagte für den Sturz seiner Mutter am 12. November 2010 und ihren Tod verantwortlich, weil ihr Pflegepersonal durch geeignete Maßnahmen zur Sturzprophylaxe den Sturz hätte vermeiden können.

Entscheidung
Das OLG Koblenz Berufung des Klägers unter Hinweis auf folgende Gesichtspunkte zurück gewiesen:

Bei einem Heimvertrag werden Obhutspflichten und inhaltsgleiche allgemeine Verkehrssicherungspflichten zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Bewohner begründet, die sie vor Schädigungen wegen Krankheit oder einer sonstigen körperlichen oder geistigen Einschränkung durch sie selbst und durch die Einrichtung und bauliche Gestaltung des Altenheims schützen sollen. Diese Pflicht ist allerdings beschränkt auf das Erforderliche und das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare. Dabei ist insbesondere auch zu beachten, dass beim Wohnen in einem Heim die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen und die Selbstständigkeit, die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren und zu fördern sind.

Welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung hat, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines alten und kranken Menschen zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen, kann nur aufgrund einer sorgfältigen Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden. Dabei verbleibt hinsichtlich der zu treffenden Entscheidungen sowohl für das Pflegepersonal eines Altenheims, als auch für Betreuer, Vorsorgebevollmächtigte und Familienangehörige ein Beurteilungsspielraum. Wird eine Entscheidung im Rahmen des Vertretbaren getroffen, kann sie nicht im Nachhinein mit dem Stempel der Pflichtwidrigkeit versehen werden, wenn es zu einem Unfall kommt.

Ein Heimbetreiber ist nicht von sich aus verpflichtet, einen Antrag auf Genehmigung einer Fixierung zu stellen oder einen Arzt einzuschalten, um prüfen zu lassen, welche Fixierungsmaßnahmen aus medizinischer Sicht indiziert sind. Er kann nach einer Benachrichtigung des Vorsorgebevollmächtigten zunächst abwarten, ob dieser sich nach sorgfältiger Abwägung aller Umstände dafür entscheidet, freiheitsentziehende Maßnahmen zu ergreifen und das Notwendige veranlasst.

Befindet sich ein Heimbewohner nicht krankheitsbedingt permanent in einer Gefahrenlage, ist er zur Vermeidung eines Sturzes im normalen Tagesablauf nicht ständig zu fixieren oder ununterbrochen zu bewachen.

Vor diesem Hintergrund falle dem Pflegepersonal der Beklagten auch bei der Betreuung und Überwachung der Mutter des Klägers in der Zeit zwischen dem 2. November 2010 und dem 13. November 2010 keine Pflichtverletzung zur Last. Zwar sei es in dieser Zeit, am 9. November 2010, zu einem Sturz der Mutter des Klägers gekommen, als sie aus ihrem Rollstuhl aufstehen wollte. Die Beklagte sei ohne betreuungsgerichtliche Genehmigung jedoch nicht zu einer Fixierung der Mutter des Klägers im Rollstuhl berechtigt. Dass Veranlassung bestanden hätte, sie vorübergehend auch ohne gerichtliche Genehmigung im Rollstuhl zu fixieren (§ 34 StGB, rechtfertigender Notstand), sei nicht dargetan und nicht ersichtlich. Frühere Stürze bei dem Versuch, aus dem Rollstuhl aufzustehen, seien gerade nicht dokumentiert. Es sei auch nicht vorgetragen, dass die Mutter des Klägers einen Drang zeigte, sich aus dem Rollstuhl zu erheben. Eine lückenlose Beaufsichtigung der Heimbewohner gehe zudem über das der Beklagten Zumutbare hinaus.

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