Steuerberaterhaftung
BGH, Urteil vom 23.9.2010 — Aktenzeichen: IX ZR 26/09
Leitsatz
1. Der mit der Anmeldung von Umsatzsteuer aus dem Betrieb von Geldspielautomaten betraute Steuerberater braucht den Mandanten auf eine etwaige Gemeinschaftswidrigkeit der Besteuerung erst hinzuweisen, sobald der Bundesfinanzhof dahin lautende Bedenken in einer Entscheidung, die dem Steuerberater bekannt sein muss, äußert. 2. Ein Steuerberater braucht eine nicht mit einem Leitsatz versehene Entscheidung des Bundesfinanzhofs, die lediglich in einer nicht amtlichen Entscheidungssammlung, aber in keiner der einschlägigen allgemeinen Fachzeitschriften abgedruckt wurde, vorbehaltlich anderer Hinweise nicht zu kennen. 3. Versäumt es der Steuerberater, im Anschluss an die beratungsfehlerfreie Abgabe von Jahresumsatzsteueranmeldungen auf eine danach bekannt gewordene Rechtsprechungsänderung durch einen Antrag auf Neufestsetzung zu reagieren, so beginnt die Verjährung eines Ersatzanspruchs des Mandanten erst mit dem Ende der Festsetzungsfrist zu laufen.
Sachverhalt
Der Kläger betraute die beklagte Steuerberatungsgesellschaft im Rahmen eines bis Januar
2004 andauernden Mandats mit der Wahrnehmung seiner steuerlichen Angelegenheiten.
Die Beklagte gab für von dem Kläger in den Jahren 1995 bis 2000 aus dem Betrieb von
Geldspielautomaten erzielte Umsätze bei dem Finanzamt Umsatzsteuerjahreserklärungen
ab.
Mit der im Dezember 2005 eingereichten und im Januar 2006 zugestellten Klage
nimmt der Kläger die Beklagte, die sich auf die Einrede der Verjährung beruft, wegen der für die Jahre 1995 bis 2000 entrichteten Umsatzsteuer auf Schadensersatzleistung in Anspruch. Er meint, die Beklagte habe bereits ab dem Jahr 1995 erkennen müssen, dass Umsätze aus dem Betrieb von Glücksspielautomaten nach dem Gemeinschaftsrecht nicht umsatzsteuerpflichtig seien und die dieser Wertung entgegenstehende deutsche Gesetzeslage keinen Bestand haben werde.
Entscheidung
1. Soweit es um die Abgabe der Umsatzsteuererklärungen geht, hat der BGH eine Pflichtverletzung des Steuerberaters verneint. Zum Zeitpunkt der Einreichung sämtlicher Umsatzsteueranmeldungen sei für die Beklagte noch kein begründeter Anhalt dafür gegeben gewesen, dass die von dem Kläger erzielten Umsätze infolge einer sich abzeichnenden Gemeinschaftswidrigkeit von § 4 Nr. 9 lit. b UStG in der seinerzeit maßgeblichen Fassung nicht der Umsatzsteuer unterliegen könnten. Der Steuerberater dürfe sowohl auf die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung als auch auf die Verfassungsgemäßheit des von der Steuerverwaltung angewendeten Steuergesetzes vertrauen.
Der Steuerberater, der mit der Prüfung eines Steuerbescheides
beauftragt sei, müsse mit seinem Mandanten die Möglichkeit eines Einspruchs wegen möglicher Verfassungswidrigkeit des anzuwendenden Steuergesetzes nicht erörtern, so lange keine entsprechende Vorlage eines Finanzgerichts an das Bundesverfassungsgericht veröffentlicht sei oder sich ein gleich starker Hinweis auf die Verfassungswidrigkeit der Besteuerung aus anderen Umständen, insbesondere einer in ähnlichem Zusammenhang ergangenen, im Bundessteuerblatt veröffentlichten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergebe. Entsprechendes gelte auch für einen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht.
Soweit die Beklagte Umsatzsteuerjahreserklärungen vor Erlass des Beschlusses des Bundesfinanzhofs vom 30.November 2000 – V B 187/00 –, in dem vor dem Hintergrund der Steuerfreiheit in Spielbanken veranstalteten Automatenglücksspiels erstmals Bedenken gegen die Zulässigkeit der Besteuerung außerhalb von Spielbanken veranstalteter erlaubter Automatenglücksspiele geäußert worden waren, abgegeben habe, brauchte die Beklagte bis zu diesem Zeitpunkt selbständige Rückschlüsse darauf, dass die Besteuerung auch des erlaubten Glückspiels mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar sein könnte, nicht zu ziehen.
2. Auch die Abgabe der Umsatzsteuerjahreserklärung nach der vorgenannten Entscheidung des BFH vom 30.11.2000 stelle keinen Beratungsfehler dar, weil der Beklagten die lediglich vereinzelt veröffentlichte Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 30. November 2000, nach deren Inhalt die Steuerpflicht von Umsätzen aus Glückspiel ernsthaften gemeinschaftsrechtlichen Bedenken ausgesetzt war, nicht bekannt sein musste. Der rechtliche Berater müsse nur über die in den amtlichen Sammlungen und in den einschlägigen allgemeinen Fachzeitschriften veröffentlichten Entscheidungen der obersten Bundesgerichte orientiert sein. An einer derartigen Veröffentlichung fehlte es hier.
Der Bundesfinanzhof hatte die hier maßgebliche Entscheidung vom 30. November 2000
weder für die amtliche Sammlung bestimmt noch überhaupt mit einem Leitsatz
versehen. Der Beschluss wurde ausweislich der Nachweise, die der Juris-Datenbank entnommen werden können, in voller Länge außer in BFH/NV lediglich in der „Steuerrechtsprechung in Karteiform“, die zwischenzeitlich offenbar eingestellt wurde, abgedruckt. Die weiteren angegebenen Fundstellen „StuB“ (Steuern und Bilanzen), „BFH-PR“ sowie „D-spezial“ (Steuer und Wirtschaftsrecht in den neuen Bundesländern, 1991 — 2005) enthielten nur den Abdruck eines redaktionellen Leitsatzes bzw. eine Kurzwiedergabe. Der BGH hat offen gelassen, welche Zeitschriften zu den einschlägigen allgemeinen Fachzeitschriften gehören, die ein Steuerberater lesen muss. Die hier betroffenen, wenig verbreiteten Periodika „Steuerrechtsprechung in Karteiform“, „StuB“, „BFH-PR“ und „D-spezial“ gehören nach Ansicht des BGH jedenfalls nicht zu dem Kreis der ständig zu verfolgenden Periodika.
Da ein Rechtsberater neben der Rechtsprechung auch aktuelle Entwicklungen in
Gesetzgebung und Literatur zu verfolgen habe, könne von ihm grundsätzlich nur die Lektüre der einschlägigen allgemeinen Fachzeitschriften erwartet werden, wo sich diese Informationen dank einer redaktionellen Aufarbeitung gebündelt auffinden lassen. Eine über die einschlägigen allgemeinen Fachzeitschriften hinausgehechtshofs würde die Pflichten eines Rechtsberaters schon wegen des damit verbundenen Zeitaufwands überspannen, zumal vollständige Entscheidungssammlungen nicht für alle obersten Gerichtshöfe angeboten werden.
Der BGH hat ausdrücklich offen gelassen, ob bei einer fortschreitenden, einen einfachen, raschen und kostengünstigen Zugriff gestattenden Informationstechnologie in Zukunft strengere Anforderungen an die Kenntnis höchstrichterlicher Entscheidungen zu stellen sind.
3. Der BGH hat jedoch einen Schadensersatzanspruch des Klägers in Bezug auf die Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 1997 bis 2000 als für gegeben angesehen, weil es die Beklagte versäumt habe, vor Ablauf der Festsetzungsfrist auf die durch den in der amtlichen Sammlung im Frühjahr 2003 veröffentlichten Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 6. November 2002 – V R 7/02 – zugunsten des Klägers geänderte Rechtslage zu reagieren.
Mit diesem Beschluss hatte der BFH dem EuGH die Frage, ob die Besteuerung von Umsätzen aus Geldspielautomaten gemeinschaftsrechtskonform ist, vorgelegt.
Die seitens der Beklagten für den Kläger abgegebenen jährlichen Umsatzsteuererklärungen
standen nach der Regelung des § 168 Satz 1 AO einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich. Die Beklagte hätte daher aufgrund der Vorlageentscheidung eine Neufestsetzung beantragen können und müssen.
4. Solche Schadensersatzansprüche seien auch noch nicht verjährt. Regelmäßig beginne die Verjährung für einen Anspruch gegen einen Steuerberater, der steuerliche Nachteile seines Mandanten verschuldet habe, nicht erst mit der Bestandskraft, sondern bereits mit der Bekanntgabe des belastenden Steuerbescheids. Bestehe der Schaden des Auftraggebers in vermeidbaren Umsatzsteuern infolge fehlerhafter Selbstveranlagung, entspreche diesem Zeitpunkt die Einreichung der Umsatzsteueranmeldung beim Finanzamt. Das könne aber nicht gelten, wenn das pflichtwidrige Verhalten des Steuerberaters erst nach Erlass des Steuerbescheids einsetze. Bestehe die Pflichtwidrigkeit darin, dass der gebotene Rechtsbehelf gegen den Bescheid nicht eingelegt werde, so entstehe der Schaden
in dem Augenblick, in dem der Steuerpflichtige von sich aus nicht mehr durch einen Rechtsbehelf die Abänderung des Steuerbescheids erwirken könne. Die Nachlässigkeit, bis zum Ablauf der Festsetzungsfristen einen Antrag auf eine Neufestsetzung versäumt zu haben, stehe der unterlassenen Einlegung eines gebotenen Rechtsbehelfs gleich.