Haftungsprivileg und Wie-Beschäftigung

Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 12.9.2016 — Aktenzeichen: L 2 U 221/15

Leistet jemand unentgeltliche Hilfe etwa bei Baumfällarbeiten, können die Haftungsprivilegien des SGB VII greifen. Dies setzt im Regelfall ein Sozialversicherungsverhältnis voraus. Versicherungsschutz kann im Rahmen einer Wie-Beschäftigung bestehen, wie die Entscheidung des Bayerischen Landessozialgerichts zeigt.

Leitsatz
1. Ein unmittelbar auf Schadensersatz in Anspruch genommener Kfz-Haftpflichtversicherer ist in analoger Anwendung von § 109 Satz 1 SGB VII berechtigt, die Rechte des verletzten Versicherten im eigenen Namen geltend zu machen

2. Da Halter, Führer und Haftpflichtversicherer eines am Unfall beteiligten Kfz dem Unfallopfer gesamtschuldnerisch für Schadenersatzansprüche haften, wirken sich Haftungsbeschränkungen des Kfz-Führers i.S.d. §§ 104 bis 107 SGB VII nach den Regeln des gestörten Gesamtschuldverhältnisses auch auf Schadensersatzansprüche gegen den Kfz-Halter aus. Wird ein Kfz-Halter auf Schadensersatz in Anspruch genommen, ist er mit Blick auf eine Haftungsbeschränkung des Kfz-Führers nach den §§ 104 bis 107 SGB VII in analoger Anwendung von § 109 SGB VII feststellungsberechtigt.

3. Gemäß § 136 Abs. 3 Nr. 1 SGB VII ist Unternehmer derjenige, dem das Ergebnis des Unternehmens unmittelbar zum Vor oder Nachteil gereicht. Die Nutzung eigener Werkzeuge allein begründet keine Unternehmereigenschaft bei rein fremdnützigen Arbeiten. Verrichtungen wie ein Beschäftigter nach § 2 Abs. 2 SGB VII sind von unternehmerähnlichen Tätigkeiten abzugrenzen.

4. Nicht versicherte, unternehmensähnliche Personen werden von § 105 Abs. 2 SGB VII nicht erfasst.

Sachverhalt
Es geht um einen tödlichen Unfall eines Onkels auf dem Grundstück seiner Nichte, der sich bei Baumfällarbeiten ereignete. Der tödlich Verunfallte half beim Fällen eines Baumes auf dem privaten Hausgrundstück seiner Nichte. Dazu bediente man sich eines Treckers. Mit dem Frontlader des Treckers wurde eine Gitterbox angehoben, in der sich der Onkel befand. Bis zur Höhe von ca. 5 m schnitt der Onkel die Äste ab, dann wurde ein Seil in Höhe von ca. 5 m um den Stamm gespannt und die Gitterbox samt Onkel angehoben. Dieser sägte unterhalb des Seils den Stamm durch. Mit Hilfe des Seils wurde der obere Teil des Baums in die gewünschte Fallrichtung gezogen. Als der Treckerfahrer die Gitterbox anhob, damit der Onkel als letzten Baum eine Blautanne fällen konnte, rutschte die Gitterbox wegen eines Bedienfehlers auf einer Höhe von ca. 1,5 m nach vorne, der Onkel stürzte aus der Gitterbox zu Boden und die Gitterbox fiel auf ihn. Dies verletzte den Onkel tödlich.

Die verwitwete Tante machte gegen den Treckerfahrer und -halter zivilrechte Schadensersatzansprüche geltend. Im Schadensersatzprozess wandten die dortigen Beklagten ein, es bestünde ein Haftungsprivileg nach dem SGB VII. Deshalb wurde das Verfahren nach § 108 SGB VII ausgesetzt, um den Beteiligten Gelegenheit zu geben, diese Frage im Sozialverwaltungs- bzw. -gerichtsverfahren zu klären. Daraufhin stellte die Trecker-Haftpflichtversicherung einen Antrag bei der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) als Berufsgenossenschaft, den Unfall als Arbeitsunfall festzustellen.

Entscheidung
Das Landessozialgericht hat letztlich eine versicherte Tätigkeit des Onkels verneint und damit letztlich einem Haftungsprivileg nach §§ 105, 106 SGB VII den Boden entzogen.

In den Entscheidungsgründen heißt es:

Nach § 109 SGB VII können Personen, deren Haftung nach den §§ 104 bis 107 SGB VII beschränkt ist und gegen die Versicherte, ihre Angehörigen oder Hinterbliebene Schadenersatzforderungen erheben, statt der Berechtigten die Feststellung eines Versicherungsfalls nach § 108 Abs. 1 SGB VII beantragen und das entsprechende Verfahren nach dem Sozialgerichtsgesetz (SGG) betreiben (sog. Verfahrens- und Prozessstandschaft). Diese Voraussetzung lag nach Ansicht des Gerichts vor, nachdem die Tante gegen Treckerfahrer und -halter sowie den Kfz-Versicherer Schadensersatzforderungen erhoben hat; denn sie machte ihrer Klage vor dem Landgericht Schadensersatzforderungen gegen den Halter des Traktors gemäß §§ 7, 10, 18 StVG und §§ 823, 844 BGB und gegen den Führer des Traktors nach §§ 7, 8, 10, 18 StVG, §§ 823, 844 BGB geltend. Dass der Kfz-Versicherer nicht unmittelbar verklagt wurde, hindert diesen nicht, einen Antrag nach § 109 SGB VII zu stellen.

Geltend gemacht wurde eine Haftungsbeschränkung, weil der Onkel als sog. Wie-Beschäftigter tätig war. Diese Einschätzung teilte das Landessozialgericht nicht. Bei den Baumfällarbeiten am Unfalltag handelte es sich aber nach Überzeugung des Senats nicht um eine versicherte Tätigkeit des Onkels. Denn er hat die Aufgabe wegen der engen verwandtschaftlichen Verbundenheit mit seiner Nichte übernommen. Dabei hatten sich Onkel und Nichte bereits in der Vergangenheit immer wieder gegenseitig im Rahmen ihrer Möglichkeiten geholfen. Während der Onkel vor allem handwerkliche Arbeiten übernommen hat, hat die Nichte als ausgebildete Hauswirtschaftslehrerin immer wieder für ihren Onkel gekocht oder bei Feiern geholfen. Diese gegenseitigen Hilfen erfolgten stets unentgeltlich aufgrund besonders enger familiärer und persönlicher Verbundenheit. Anschließend hat der Onkel aus eigenem Entschluss den Treckerfahrer um Mithilfe bei den Baumfällarbeiten gebeten. Dieser hat aus freundschaftlicher Verbundenheit geholfen.

Die Nichte habe keinen Einfluss auf die Durchführung der Baumfällarbeiten genommen. Sie habe sowohl Zeit als auch die Art der Durchführung dem Onkel und dem Treckerfahrer überlassen, die auch die notwendigen Geräte, Werkzeuge etc. für diese Arbeiten mitgebracht hatten. Damit stand nach Ansicht des Gerichts fest, dass der Onkel nicht als Beschäftigter nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII oder als Wie-Beschäftigter nach § 2 Abs. 2 SGB VII für seine Nichte oder den Treckerfahrer tätig geworden ist, auch wenn das Fällen der Bäume nicht seinen eigenen Zwecken diente, sondern fremdnützig für seine Nichte erfolgt ist.

Der Begriff der Beschäftigung i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII setzt keine Entgeltlichkeit voraus. Wesentlich sei aber, dass der Beschäftigte seine Tätigkeit nicht frei gestalten kann, sondern in einen fremden Betrieb eingegliedert ist und dabei grundsätzlich einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig ist, richtet sich ausgehend von den genannten Umständen nach dem Gesamtbild der Arbeitsleistung und hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen. Der Onkel hat die Baumfällarbeiten schon deswegen nicht als Beschäftigter des Treckerfahrers durchgeführt, weil jener nicht der Unternehmer der Baumfällarbeiten war. Gemäß § 136 Abs. 3 Nr. 1 SGB VII ist Unternehmer derjenige, dem das Ergebnis des Unternehmens unmittelbar zum Vor- oder Nachteil gereicht. Das Ergebnis des Unternehmens „Baumfällarbeiten auf dem Grundstück der Nichte“ brachte dem Treckerfahrer aber keine unmittelbaren Vor- oder Nachteile, zumal er unentgeltlich tätig wurde und das anfallende Holz bei der Nichte verbleiben sollte. Dass der Treckerfahrer seinen eigenen Traktor für die fremdnützigen Arbeiten eingesetzt hat, verwandelt diese nicht in eigennützige Arbeiten.

Der Onkel war aber auch kein Beschäftigter der Nichte, der die Baumfällarbeiten unmittelbare Vorteile brachten. Er war beim Fällen der Bäume weder nach Weisungen der Nichte noch des Treckerfahrers tätig. Ebenso wenig war der Onkel in einen fremden Betrieb der Nichte oder des Treckerfahrers eingegliedert. Der Onkel ist vielmehr selbstständig tätig geworden, hat über seine eigene Arbeitskraft selbstständig verfügt, sein eigenes Werkzeug verwendet und seine Tätigkeit und seine Arbeitszeit frei gestaltet. Abstimmungen des Onkels mit den Beteiligten sind erfolgt, soweit es die Natur der Sache bei Zusammenarbeit verschiedener Personen erfordert. Wechselseitigen Weisungen gab es nicht.

Der Onkel hat zum Unfallzeitpunkt auch keine gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII versicherte Tätigkeit verrichtet (sog. Wie-Beschäftigung). Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 SGB VII ist eine Verrichtung versichert, die der Ausübung einer Beschäftigung vergleichbar ist (vgl. BSG vom 15.6.2010 — B 2 U 12/09 R — Juris RdNr. 22). § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII erfasst tatbestandlich Tätigkeiten, die ihrer Art nach zwar nicht sämtliche Merkmale der Ausübung einer Beschäftigung im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII aufweisen, in ihrer Grundstruktur aber einer solchen ähneln. Es muss eine ernstliche, einem fremden Unternehmen dienende, dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entsprechende Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert verrichtet werden, die ihrer Art nach sonst von Personen verrichtet werden könnte und regelmäßig verrichtet wird, die in einem fremden Unternehmen dafür eingestellt sind, und die weder im eigenen Interesse noch im Rahmen einer Sonderbeziehung zum Unternehmer erfolgt.

Die Abgrenzung zwischen einer Tätigkeit als arbeitnehmerähnlicher Wie-Beschäftigter und einer unternehmerähnlichen Tätigkeit ist in Anlehnung an die Abgrenzung zwischen Beschäftigtem und Unternehmer vorzunehmen. Dabei ist zu beachten, dass bei einer Tätigkeit als Wie-Beschäftigter i.S.v. § 2 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 SGB VII nicht alle Merkmale eines Beschäftigungsverhältnisses und bei einer unternehmerähnlichen Tätigkeit nicht alle Merkmale eines Unternehmers erfüllt sein müssen; entscheidend ist vielmehr, ob nach dem Gesamtbild die Tätigkeit wie von einem Beschäftigten oder wie von einem Unternehmer ausgeübt wurde. Beispielsweise setzt eine Tätigkeit gemäß § 2 Abs. 2 SGB VII keine persönliche oder wirtschaftliche Abhängigkeit vom unterstützten Unternehmen voraus und für ein Unternehmen ist weder ein Geschäftsbetrieb noch eine auf Erwerb gerichtete Tätigkeit erforderlich. Der Onkel war hier wie ein Unternehmer tätig bzw. unternehmensähnlich. Auf die Bitte der Nichte um Mithilfe hat der Onkel das Grundstück in Augenschein genommen und erklärt, dass er erledigen werde, was er könne. Die Nichte hat ihm vollständig die Entscheidung überlassen, welche der zu fällenden Bäume er fällt, wann er das macht, wie er das durchführt und welche Werkzeuge, Geräte etc. er verwendet. Ein Weisungsverhältnis der Nicht als als Nutznießerin der Fällaktion schied schon deswegen aus, weil der Onkel, nicht aber seine Nichte über die erforderlichen Fachkenntnisse, die Erfahrung und die entsprechenden Geräte und Ausrüstung verfügte. Letztlich hat die Nichte ihrem Onkel die Organisation, Planung und Durchführung der Baumfällarbeiten vollumfänglich überlassen und dieser hat die Aufgaben vollumfänglich übernommen. Dementsprechend hat der Onkel auch den Treckerfahrer um Mithilfe und Einsatz seines Treckers gebeten. Gemeinsam mit dem Treckerfahrer und der Onkel die Arbeiten selbstständig durchgeführt — letztlich aus der engen familiären Verbundenheit.

Schließlich hat das Gericht noch geprüft, ob vielleicht der Treckerfahrer für den Onkel als Wie-Beschäftigter tätig war, was das Gericht aber verneinte. Denn auch der Treckerfahrer war nicht für den Onkel, sondern für dessen Nichte tätig, in deren alleinigem Interesse das Fällen der Bäume lag. Weisungsrechte gab es zudem nicht.

Anmerkung
Unentgeltliche Hilfeleistungen, bei denen es zu einem Unfall kommt, erfordern stets einen Blick auf die Haftungsprivilegien des SGB VII. Wie auch dieser Fall zeigt, kann man trefflich darüber streiten, ob ein Fall der sog. Wie-Beschäftigung vorliegt; in diesen Fällen erhielte nämlich der Verunfallte oder seine Erben Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung. Umgekehrt können sich die Schädiger in diesen Fällen ggf. auf ein Haftungsprivileg des § 105 SGB VII iVm § 2 Abs. 2 SGB VII oder ggf. auf eine gemeinsame Betriebsstätte berufen, so dass zivilrechtliche Ansprüche nicht gegeben sind.

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