Haftung des Durchgangsarztes
BGH, Urteil vom 29.11.2016 — Aktenzeichen: VI ZR 208/15 (und BGH, Urt. v. 20.12.2016, VI ZR 395/15
Leitsatz
1. Die ärztliche Heilbehandlung ist regelmäßig nicht Ausübung eines öffentlichen Amtes im Sinne von Art. 34 GG.
2. Die Tätigkeit eines Durchgangsarztes ist jedoch nicht ausschließlich dem Privatrecht zuzuordnen. Die vom Durchgangsarzt zu treffende Entscheidung, ob die allgemeine oder die besondere Heilbehandlung erforderlich ist, ist als hoheitlich im Sinne von Art. 34 S. 1 GG, § 839 BGB zu qualifizieren. Gleiches gilt für die vom Durchgangsarzt im Rahmen der Eingangsuntersuchung vorgenommenen Untersuchungen zur Diagnosestellung, die anschließende Diagnosestellung und die sie vorbereitenden Maßnahmen.
3. Für etwaige Fehler in diesem Bereich haften die Unfallversicherungsträger (Aufgabe der Rechtsprechung zur „doppelten Zielrichtung‟).
4. Eine Erstversorgung durch den Durchgangsarzt ist ebenfalls der Ausübung eines öffentlichen Amtes zuzurechnen mit der Folge, dass die Unfallversicherungsträger für etwaige Fehler in diesem Bereich haften (Aufgabe BGH III ZR 131/72; BGHZ 63, 265)
5. Bei der Bestimmung der Passivlegitimation ist regelmäßig auf den Durchgangsarztbericht abzustellen, in dem der Durchgangsarzt selbst die „Art der Erstversorgung (durch den D-Arzt)“ dokumentiert.
Sachverhalt
Beiden vom BGH entschiedenen Fällen zur Frage, wer im Falle eines — unterstellten — Diagnose- bzw. Behandlungsfehlers eines Durchgangsarztes (D-Arzt) haftet, nämlich der jeweilige Arzt persönlich oder die zuständige gesetzliche Unfallversicherung (gUV), lag zugrunde, dass ein Versicherter der gUV nach einem Unfall einen D-Arzt aufgesucht und dieser nach Durchführung diagnostischer Untersuchungen darüber entschieden hatte, ob im Weiteren die sog. „Allgemeine Heilbehandlung“ oder die „Besonderen Heilbehandlung“ erforderlich war. In dem Sachverhalt zur Entscheidung vom 29.11.2016, hatte der D-Arzt darüber hinaus auch eine therapeutische Erstversorgung durchgeführt, die als fehlerhaft gerügt worden war. Wie nachfolgende Untersuchungen ergaben, waren jeweils die gestellten Erstdiagnosen und die darauf veranlasste weitere Heilbehandlungsart falsch bzw. unzureichend.
Entscheidung
Unter teilweiser Aufgabe seiner Rechtsprechung stellt der BGH folgende Vorgaben für die Beurteilung, ob der D-Arzt persönlich (aus Behandlungsvertrag bzw. § 823 BGB) oder der gUV (aus Art. 34 S.1 GG, § 839 BGB) haftet, auf:
Die ärztliche Heilbehandlung sei regelmäßig nicht Ausübung eines öffentlichen Amtes im Sinne von Art. 34 GG. Auch die ärztliche Heilbehandlung nach einem Arbeitsunfall sei als solche keine der gUV obliegende Aufgabe. Der Arzt, der die Heilbehandlung durchführe, übe deshalb kein öffentliches Amt aus und hafte für Fehler persönlich
Bei der nach Art und Schwere der Verletzung zu treffenden Entscheidung eines D-Arztes, ob die allgemeine oder die besondere Heilbehandlung erforderlich sei, erfülle er eine der gUV obliegende Aufgabe und übe damit ein öffentliches Amt aus. Sei seine Entscheidung über die Art der Heilbehandlung fehlerhaft und werde der Verletzte dadurch geschädigt, hafte für Schäden nicht der D-Arzt persönlich, sondern die gUV nach Art. 34 S. 1 GG, § 839 BGB. Dies gelte auch, soweit die Überwachung des Heilerfolgs lediglich als Grundlage der Entscheidung diene, ob der Verletzte in der allgemeinen Heilbehandlung verbleibe oder in die besondere Heilbehandlung überwiesen werden solle.
Wegen des regelmäßig gegebenen inneren Zusammenhangs zwischen der Diagnosestellung und den sie vorbereitenden Maßnahmen einerseits und der Entscheidung über die richtige Heilbehandlung andererseits seien solche Maßnahmen ebenfalls der öffentlich-rechtlichen Aufgabe des D-Arztes zuzuordnen.
Da die vorbereitenden Maßnahmen zur Diagnosestellung und die Diagnosestellung durch den D-Arzt in erster Linie zur Erfüllung seiner sich aus dem öffentlichen Amt ergebenden Pflichten vorgenommen würden, seien diese Maßnahmen dem Amt zuzuordnen, mit der Folge, dass die gUV für Fehler in diesem Bereich hafte. Soweit aus der Rechtsprechung des Senats zur „doppelten Zielrichtung“ etwas anderes abgeleitet werden könne, halte der BGH daran für die vorbereitenden Maßnahmen zur Diagnosestellung und die Diagnosestellung nicht fest.
Die gUV hätten nach § 34 I 1 SGB VII bei der Durchführung der Heilbehandlung alle Maßnahmen zu treffen, durch die eine möglichst frühzeitig nach dem Versicherungsfall einsetzende und sachgemäße Heilbehandlung und, soweit erforderlich, besondere unfallmedizinische oder Berufskrankheiten-Behandlung gewährleistet werde. Dies spreche bereits dafür, nicht nur die Entscheidung, ob die allgemeine oder die besondere Heilbehandlung erforderlich ist, sondern auch die sie vorbereitenden Maßnahmen als Ausübung eines öffentlichen Amtes zu betrachten. Maßgeblich für eine solche Zuordnung seien aber auch inhaltliche Überlegungen. D-Arzt-Untersuchungen, insbesondere notwendige Befunderhebungen zur Stellung der richtigen Diagnose und die anschließende Diagnosestellung, seien regelmäßig unabdingbare Voraussetzungen für die Entscheidung, ob eine allgemeine Heilbehandlung oder eine besondere Heilbehandlung erfolgen soll. Ein Fehler in diesem Stadium werde regelmäßig der Vorgabe des § 34 I 1 SGB VII entgegenstehen, eine möglichst frühzeitig nach dem Versicherungsfall einsetzende und sachgemäße Heilbehandlung zu gewährleisten. Mithin bilde die Befunderhebung und die Diagnosestellung die Grundlage für die der gUV obliegende, in Ausübung eines öffentlichen Amtes erfolgende Entscheidung, ob eine allgemeine Heilbehandlung ausreiche oder wegen der Schwere der Verletzung eine besondere Heilbehandlung erforderlich sei.
Weiter stellt der BGH – ebenfalls unter Aufgabe seiner bisher anderen Rechtsauffassung – klar, dass eine Erstversorgung durch den D-Arzt der Ausübung eines öffentlichen Amtes zuzurechnen sei.
Sowohl die Regelungen des SGB VII, hier § 34 I 1 und § 27 I SGB VII, wie auch die Reglungen in dem Vertrag zwischen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, dem Spitzenverband der landwirtschaftlichen Sozialversicherung und der kassenärztlichen Bundesvereinigung („Vertrag 2008“) zur Wahrnehmung der Pflichten der gUV durch D-Ärzte, verdeutlichten, dass die Erstversorgung des Verletzten Teil der hoheitlichen Tätigkeit des D-Arztes seien. Gem. § 27 I SGB VII umfasse die Heilbehandlung insbesondere die Erstversorgung sowie die ärztliche Behandlung und zahnärztliche Behandlung. Das berufsgenossenschaftliche Heilverfahren werde beherrscht von dem Grundsatz, bei den Verletzungsfolgen, die eine fachärztliche Versorgung erfordern, möglichst in unmittelbarem zeitlichem Anschluss an den Unfall eine Versorgung durch den besonders qualifizierten D-Arzt sicherzustellen. Deshalb werde der Verletzte verpflichtet, zunächst zum D-Arzt zu gehen, der entscheiden müsse, welche Art der Weiterbehandlung erfolgen soll, und auch die sofort notwendige Erstversorgung durchzuführen habe. Da der D-Arzt regelmäßig in engem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit der Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ der Heilbehandlung und der diese vorbereitenden Maßnahmen auch als Erstversorger tätig werde, seien dabei unterlaufende Behandlungsfehler der gUV zuzurechnen. Diese Tätigkeiten gingen ineinander über, könnten nicht sinnvoll auseinander gehalten werden und stellten aus Sicht des Geschädigten einen einheitlichen Lebensvorgang dar, der nicht in haftungsrechtlich unterschiedliche Tätigkeitsbereiche aufgespaltet werden könne
Dem stehe nicht entgegen, dass die ärztliche Heilbehandlung regelmäßig nicht Ausübung eines öffentlichen Amtes im Sinne von Art. 34 GG ist. Die Erstversorgung werde in § 27 I 1 SGB VII getrennt von der ärztlichen und zahnärztlichen Behandlung aufgeführt. Dies gelte auch für die §§ 6, 9, 10, 11 des „Vertrags 2008“, wonach bei Arbeitsunfällen die Heilbehandlung als allgemeine Heilbehandlung oder als besondere Heilbehandlung durchgeführt und die Erstversorgung davon unterschieden werde. Dies sei ein Indiz, dass an sie andere Rechtsfolgen geknüpft werden können als an die nach der Erstversorgung folgenden ärztlichen Behandlungen.
Die Betrachtung der von dem D-Arzt zu treffenden Maßnahmen als einheitlicher Lebensvorgang vermeide schließlich die in der Praxis beklagten Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Passivlegitimation. Denn in dem Durchgangsarztbericht dokumentiere der D-Arzt selbst die „Art der Erstversorgung (durch den D-Arzt)“.