Schadensregulierungsbeauftragter im Sinne der Richtlinie 2009/103 EG „als Vertreter“ zustellungsbevollmächtigt

EuGH – 2. Kammer, Urteil vom 10.10.2013 — Aktenzeichen: C – 306/12

Leitsatz
1. Art. 21 Abs. 5 der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht ist dahin auszulegen, dass zu den ausreichenden Befugnissen, über die der Schadenregulierungsbeauftragte verfügen muss, die Vollmacht gehört, die Zustellung gerichtlicher Schriftstücke, die für die Einleitung eines Verfahrens zur Regulierung eines Unfallschadens vor dem zuständigen Gericht erforderlich sind, rechtswirksam entgegenzunehmen.

2. Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen die nationalen Rechtsvorschriften die Bestimmungen von Art. 21 Abs. 5 der Richtlinie 2009/103 quasi wörtlich übernommen haben, ist das vorlegende Gericht verpflichtet, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden das nationale Recht so auszulegen, dass es mit der Auslegung dieser Richtlinie durch den Gerichtshof der Europäischen Union vereinbar ist.

Sachverhalt
Am 24. Juni 2011 wurde ein der Spedition W. gehörender Lkw in der Nähe von Paris (Frankreich) bei einem Verkehrsunfall durch ein bei A. versichertes Fahrzeug beschädigt. Die Spedition W. beantragte beim erstinstanzlich angerufenen deutschen Gericht eine Entschädigung in Höhe von 2 382,89 Euro. Die Klage wurde nicht A. zugestellt, sondern ihrer Beauftragten in Deutschland, der X. Das Gericht wies die Klage als unzulässig ab und führte zur Begründung aus, dass die Klage der X, die nicht zustellungsbevollmächtigt sei, nicht wirksam zugestellt worden sei. Die Spedition W. legte gegen dieses Urteil Berufung beim Landgericht ein.

Nach Ansicht des vorlegenden Berufungsgerichts hing der Ausgang des Berufungsverfahrens von der Auslegung der Richtlinie 2009/103 ab.

Das Berufungsgericht hatte daher das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 21 Abs. 5 der Richtlinie 2009/103 dahin auszulegen, dass die Befugnisse des Schadenregulierungsbeauftragten eine passive Zustellungsvollmacht für das Versicherungsunternehmen umfassen, so dass in dem Klageverfahren des Geschädigten gegen das Versicherungsunternehmen auf Ersatz des Unfallschadens eine gerichtliche Zustellung mit Wirkung gegen das Versicherungsunternehmen an den von ihm benannten Schadenregulierungsbeauftragten bewirkt werden kann?

Falls die Frage zu 1 bejaht wird:

2. Entfaltet Art. 21 Abs. 5 der Richtlinie 2009/103 unmittelbare Wirkung dergestalt, dass sich der Geschädigte vor dem nationalen Gericht darauf berufen kann mit der Folge, dass das nationale Gericht von einer gegenüber dem Versicherungsunternehmen wirksamen Zustellung auszugehen hat, wenn eine Zustellung an den Schadenregulierungsbeauftragten „als Vertreter“ des Versicherungsunternehmens bewirkt worden ist, eine Zustellungsvollmacht jedoch weder rechtsgeschäftlich erteilt worden ist, noch das nationale Recht für diesen Fall eine gesetzliche Zustellungsvollmacht begründet, die Zustellung jedoch im Übrigen alle durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen erfüllt?

Entscheidung
Der EuGH stellt im Hinblick auf die zu 1) aufgeworfene Frage klar, dass aus den der entscheidenden Richtlinie zugrunde liegenden Erwägungen sich klar ergibt, dass die Vertretung von Versicherungsunternehmen, wie sie in Art. 21 Abs. 5 der Richtlinie vorgesehen sei – ohne dass sie die Einhaltung der Regelungen des internationalen Privat- und Zivilprozessrechts in Frage stellen könnte –, nach dem Willen des Unionsgesetzgebers die Vertretung umfasse, die es den Geschädigten erlaube, die Klage auf Ersatz ihres Schadens rechtswirksam bei den nationalen Gerichten zu erheben. Im Übrigen ergäbe sich aus den Vorarbeiten zu den Richtlinien, die der Richtlinie 2009/103 vorausgegangen sind und mit ihr für den Versicherungsbereich kodifiziert wurden, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers die Vertretung eines Versicherungsunternehmens im Staat des Geschädigten eine passive Zustellungsvollmacht für gerichtliche Schriftstücke umfassen solle, wenn auch mit eingeschränktem Charakter, da sie die Regelungen des internationalen Privat- und Zivilprozessrechts über die Festlegung der gerichtlichen Zuständigkeiten nicht berühren sollte. In diesen Grenzen gehöre die passive Zustellungsvollmacht für gerichtliche Schriftstücke zu den ausreichenden Befugnissen, über die der Schadenregulierungsbeauftragte verfügen müsse. Wäre eine solche Vollmacht nicht umfasst, würde der Richtlinie eine ihrer Zielsetzungen genommen. Die Funktion des Schadenregulierungsbeauftragten bestehe nämlich im Einklang mit den Zielen der Richtlinie gerade darin, den Unfallopfern ihr Vorgehen zu erleichtern und es ihnen insbesondere zu ermöglichen, ihre Ansprüche in ihrer eigenen Sprache geltend zu machen. Diesen Zielen würde es widersprechen, wenn den Unfallopfern, nachdem sie die vorherigen Schritte unmittelbar gegenüber diesem Vertreter unternommen haben – und obwohl sie direkt gegen den Versicherer klagen können –, die Möglichkeit genommen würde, die gerichtlichen Schriftstücke an diesen Vertreter zustellen zu lassen, um die Schadensersatzklage vor dem international zuständigen Gericht durchzuführen. Zu den ausreichenden Befugnissen, über die der Schadenregulierungsbeauftragte verfügen müsse, gehöre daher — so der EuGH — die Vollmacht, die Zustellung gerichtlicher Schriftstücke, die für die Einleitung eines Verfahrens zur Regulierung eines Unfallschadens vor dem zuständigen Gericht erforderlich sind, rechtswirksam entgegenzunehmen.

Zur zweiten Frage stellt der EuGH fest, dass § 7b Abs. 2 VAG eine quasi wörtliche Umsetzung von Art. 21 Abs. 5 der Richtlinie 2009/103 darstellt. Diese Bestimmungen des nationalen Rechts sei daher im Einklang mit denjenigen des Unionsrechts dahin auszulegen, dass der Schadenregulierungsbeauftragte dazu befugt sei, die Zustellung gerichtlicher Schriftstücke entgegenzunehmen. Nach alledem sei auf die zweite Frage zu antworten, dass das vorlegende Gericht unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen die nationalen Rechtsvorschriften die Bestimmungen von Art. 21 Abs. 5 der Richtlinie 2009/103 quasi wörtlich übernommen haben, verpflichtet sei, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden das nationale Recht so auszulegen, dass es mit der Auslegung dieser Richtlinie durch den Gerichtshof vereinbar ist.

Fazit
Anstatt einer äußerst komplizierten, langwierigen und häufig kostenträchtigen Auslandszustellung (Übersetzung der Schriftsätze etc.) kann zukünftig eine Klage wegen eines im Ausland erlittenen Verkehrsunfalls in Deutschland an den Regulierungsbeauftragten des ausländischen gegnerischen Kfz-Versicherers wirksam zugestellt werden.

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