Gerüstunfall und Anscheinsbeweis
OLG Koblenz, Urteil v. 28.3.2022, Az.: 15 U 565/21
Leitsätze
1. Ein Baugerüst ist ein mit einem Grundstück verbundenes Werk im Sinne des § 836 BGB, für das der Gerüsthersteller als Besitzer gemäß § 837 BGB verantwortlich ist. Er muss im Sinne des § 836 BGB zur Widerlegung der gegen ihn sprechenden Vermutung darlegen und beweisen, dass er zum Zwecke der Abwendung der Ge-fahr die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet hat.
2. Gerüstbretter sind ein Teil dieses Werkes, selbst wenn sie mit ihm nur durch die Schwerkraft verbunden sind. Ein zur Gerüsterstellung verwendetes, zum Begehen durch Gerüstbenutzer bestimmtes Brett muss so beschaffen sein, dass es nicht durchbricht, wenn es von einem Bauhandwerker betreten wird. Geschieht dies dennoch, so spricht typischerweise nach der allgemeinen Lebenserfahrung der An-schein dafür, dass dieses Brett von seiner Beschaffenheit her objektiv nicht für ein Baugerüst geeignet war.
3. Allerdings greift der Anscheinsbeweis nicht durch, wenn das Schadensereignis Umstände aufweist, die vom typischen Geschehensablauf abweichen und konkret eine andere, ernsthaft ebenfalls in Betracht kommende Möglichkeit für die Entwicklung des Unfalls nahelegen. Solche zur Erschütterung des Anscheinsbeweises geeignete Umstände müssen vom Gerüstersteller nachgewiesen werden.
Sachverhalt
Der Kläger macht Ansprüche auf Schadensersatz aus Verletzung der Verkehrssicherungspflicht hinsichtlich eines von dem Beklagten erstellten Baugerüsts geltend. Der Beklagte betreibt einen Gerüstbaubetrieb. Er stellte zur Sanierung der Pfarrkirche … in …[Z], bei der die Außenfassade abgestemmt und die Außenmauer aus Tuffstein neu aufgebaut werden sollte, im Frühjahr 2012 ein aus Arbeitsgerüst und Aufstiegsgerüst bestehendes Fassadengerüst der Fa. …[A] auf. Am Gerüst war ein Hinweisschild über die maximale Belastung (300 kg/m2) angebracht. Der Kläger, der als angestellter Steinmetz an der Baustelle arbeitete, verletzte sich dort am 06.11.2012. Nach dem Unfall wurde eine gebrochene Durchstiegstafel aus Sperrholz an einem Leiterdurchstieg durch Mitarbeiter des Beklagten ausgetauscht.
Entscheidung
Das Erstgericht hat aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme durch Anhörung des Klägers und Vernehmung der von diesem benannten Zeugen …[B] und …[C] die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger, wie von ihm vorgetragen, durch den Gerüstboden gebrochen ist. Dagegen hat der Beklagte mit seiner Berufung nichts erinnert. Aufgrund des damit feststehenden Sachverhalts sprach für die objektive Fehlerhaftigkeit des Werkes – ebenso wie für deren Ursächlichkeit für den Schadenseintritt – hier der Beweis des ersten Anscheins. Zur Erschütterung des Anscheinsbeweises geeignete Umstände im vorgenannten Sinne habe die Beweisaufnahme nach Ansicht des OLG nicht ergeben. Der Grundstücksbesitzer im Sinne des § 836 BGB muss zur Widerlegung der gegen ihn sprechenden Vermutung darlegen und beweisen, dass er zum Zwecke der Abwendung der Gefahr die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet hat. Dabei sind an Substantiierung und Beweispflichten des Haftpflichtigen hohe Anforderungen zu stellen. Insoweit verbleibende Zweifel müssten zu Lasten des beweispflichtigen Beklagten gehen.
Entgegen der Auffassung des Beklagten sei nach den eingangs genannten Maßstäben nicht vom Kläger darzulegen und zu beweisen, dass die streitgegenständliche Belagstafel mit so erheblichen Verschleißerscheinungen eingebaut gewesen sei, dass dieser Belag nicht mehr verwendungsfähig war und nicht hätte eingebaut werden dürfen. Vielmehr müsse sich die Beklagte exkulpieren. Angaben von Zeugen, dass bei der Errichtung des Gerüsts nichts falsch gemacht worden sei und die vom Sachverständigen festgestellte kritische Abnutzung des Holzbelags erst während der Bauarbeiten eingetreten sei, genügten insoweit nicht. Es könne auch dahinstehen, ob in dem angefochtenen Urteil übersehen wurde, dass der Unfall auch auf eine nachträglich eingetretene Verschlechterung der Beschaffenheit des Belags, eine unzulässige Gewichtsbelastung oder ein Fehlverhalten des Klägers zurückgehen könne. Auch dies hätte die Beklagte beweisen müssen.
Auch ein nachweislich schuldhaftes Handeln eines weiteren “Schädigers“ – nach Auffassung des Beklagten soll es sich dabei um den Arbeitgeber des Beklagten handeln – sei weder erstinstanzlich festgestellt noch nach den Grundsätzen einer Haftungsreduzierung wegen gestörter Gesamtschuld zu berücksichtigen gewesen. Dies gelte insbesondere für den Vortrag, der Arbeitgeber des Klägers habe sei-ne „primäre“ Verkehrssicherungspflicht verletzt. Soweit der Beklagte darauf hingewiesen habe, dass der Unternehmer, der die Verwendung von Gerüsten für seine Beschäftigten zulässt, die Verantwortung dafür trage, dass sich diese in einem ordnungsgemäßen Zustand befinden, sei damit ein schuldhafter Verstoß des Arbeitgebers des Beklagten schon nicht substantiiert vorgetragen. Gleiches gelte, so-weit er auf die Verpflichtung zu einer Unterweisung über die Gerüstbenutzung durch den Arbeitgeber hingewiesen und „mit Nichtwissen bestritten“ habe, dass der Kläger entsprechend unterwiesen und diese Unterweisung regelmäßig wieder-holt wurde. Der ihm obliegenden Darlegungs- und Beweislast entspreche dieser Vortrag nicht.