Gemeinsame Betriebsstätte im Be- und Entladefall – Freimachen der Ladefläche kann reichen!
Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 15.9.2016 — Aktenzeichen: 7 U 117/15
Das Haftungsprivileg der gemeinsamen Betriebsstätte wird in der Rechtsprechung immer wieder kontrovers diskutiert. Das OLG Schleswig hat es in einem Beladefall, bei dem Gabelstaplerfahrer und Lkw-Fahrer „in gewisser Weise“ zusammenwirkten, bejaht. Schon das Freimachen der Ladefläche kann reichen und ist nicht nur als Vorbereitungshandlung zu qualifizieren.
Leitsatz
1. Der Begriff der „gemeinsamen Betriebsstätte“ i.S.v. § 106 Abs. 3, Alt. 3 SGB VII meint betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinander greifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder stillschweigend durch bloßes Tun unterstützen. Parallele Tätigkeiten, die sich nur beziehungslos nebeneinander vollziehen, genügen nicht. Voraussetzung für die Haftungsprivilegierung ist eine sog. Gefahrengemeinschaft.
2. Bei dem Beladen eines LKW mit tonnenschweren Papierrollen mittels eines Gabelstaplers und den absprachegemäßen Tätigkeiten des beteiligten LKW-Fahrers (u.a. Öffnen der Türen des Auflegers und Freimachen der Ladefläche) handelte nicht mehr um bloße Vorbereitungshandlungen des Ladevorganges, sondern um arbeitsteilige „Aktivitäten“, die bewusst und gewollt bei der Beladung i.S. einer „gemeinsamen Betriebsstätte“ ineinandergreifen.
Sachverhalt
Die Klägerin ist ein Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung. Sie nimmt die Beklagten aus übergegangenem Recht (§ 116 SGB X) aufgrund eines über sie versicherten Arbeitsunfalles des Zeugen B in Anspruch. Dieser Arbeitsunfall fand auf dem Gelände der Beklagten zu 1. statt. An dem Unfall war der Beklagte zu 2. als Fahrer eines Gabelstaplers beteiligt. Der Zeuge B. befand sich als Lkw-Fahrer der Fa. S. auf dem Hafengelände, um Papierrollen zu laden. Gegen 16.15 Uhr fuhr er mit dem LKW auf das Hafengelände und wurde dort — nach entsprechender Anmeldung — eingewiesen, wo er die Ladung in Empfang nehmen sollte. Nachdem er seinen Lkw gegen 16.30 Uhr abgestellt und sich mit dem Beklagten zu 2. dahingehend verständigt hatte, dass er noch die Türen des Aufliegers öffnen und die Ladefläche ordnen müsse, kam es — wobei die Einzelheiten streitig sind — zu dem hier streitgegenständlichen Unfall. Beim Rückwärtsfahren des von dem Beklagten zu 2. geführten Gabelstaplers geriet der rechte Unterschenkel des Zeugen B. zwischen das linke Rad der hinteren Lenkachse und das Kontergewicht des Gabelstaplers und wurde dort eingeklemmt. Dadurch erlitt der Zeuge eine Unterschenkel-Trümmerfraktur.
Entscheidung
Die Klage wurde abgewiesen.
Dem Beklagten zu 2. kommt die Haftungsprivilegierung gem. § 106 Abs. 3 SGB VII zugute. Es greifen die sich aus §§ 104, 105 SGB VII ergebenden Haftungsbeschränkungen (u.a. Haftung nur für eine vorsätzlich Verursachung des Versicherungsfalls) für Unternehmer (§ 104) sowie andere im Betrieb tätige Personen (§ 105). Voraussetzung dafür ist, dass Versicherte mehrerer Unternehmen vorübergehend betriebliche Tätigkeiten auf einer „gemeinsamen Betriebsstätte“ verrichten.
Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfasst der Begriff der „gemeinsamen Betriebsstätte“ betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinander greifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt. Erforderlich ist aber ein bewusstes Miteinander im Betriebsablauf, das sich zumindest tatsächlich als ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen darstellt. § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII ist nicht schon dann anwendbar, wenn Versicherte zweier Unternehmen auf derselben Betriebsstätte aufeinandertreffen. Eine „gemeinsame Betriebsstätte“ ist nach allgemeinem Verständnis mehr als „dieselbe Betriebsstätte“; das bloße Zusammentreffen von Risikosphären mehrerer Unternehmen erfüllt den Tatbestand der Norm nicht. Parallele Tätigkeiten, die sich beziehungslos nebeneinander vollziehen, genügen ebenso wenig wie eine bloße Arbeitsberührung. Erforderlich ist vielmehr eine gewisse Verbindung zwischen den Tätigkeiten als solche in der konkreten Unfallsituation, die eine Bewertung als „gemeinsame“ Betriebsstätte rechtfertigt. Der Haftungsausschluss nach § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII ist (nur) im Hinblick auf die zwischen den Tätigenden verschiedener Unternehmen bestehende Gefahrengemeinschaft gerechtfertigt. Eine Gefahrengemeinschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass typischerweise jeder der (in enger Berührung mit anderen) Tätigen gleichermaßen zum Schädiger und Geschädigten werden kann. Der Haftungsausschluss knüpft daran an, dass eine gewisse Verbindung zwischen den Tätigen bei konkreten Arbeitsvorgängen in der konkreten Unfallsituation gegeben ist, die die „gemeinsame Betriebsstätte“ kennzeichnet.
Gemessen daran lag in der konkreten Unfallsituation eine „gemeinsame Betriebsstätte“ zwischen dem Versicherten der Klägerin, dem Zeugen B. und dem Beklagten zu 2. vor. Bei dem — unstreitig in Absprache zwischen den Beteiligten — erfolgten Öffnen der Türen des Auflegers durch den Zeugen B. und dem Freimachen der Ladefläche handelte es sich weder um bloße Vorbereitungshandlungen des Ladevorganges noch standen diese beziehungslos neben der Tätigkeit des Beklagten zu 2. Vielmehr handelt es sich um arbeitsteilige „Aktivitäten“, die bewusst und gewollt bei der Beladung eines Lkw’s mit (tonnenschweren) Papierrollen ineinandergreifen. Dies gilt nicht nur für das Öffnen der Türen des Aufliegers — bei geschlossenen Türen wäre eine Beladung nicht möglich, alternativ hätte der Beklagte zu 2. die Türen öffnen müssen -, sondern auch für das Freimachen der Ladefläche. Denn die endgültige Beladung des Lkw vollzieht sich dergestalt, dass der Gabelstaplerfahrer die Papierrolle auf Schienen (sog. Joloda-Laufschienen System) ablegt, die sich auf dem Auflieger befinden. Mit Hilfe dieser Schienen schiebt dann der Lkw-Fahrer auf der Ladefläche die Rolle nach vorne bzw. an den für sie vorgesehenen Platz auf dem Auflieger und sichert die Rolle anschließend entsprechend gegen Wegrutschen. Dies stellt nach der unwidersprochenen Schilderung des Beklagten zu 2. eine generelle und übliche, arbeitsteilige Papierrollen-Beladung im Lübecker Hafen dar.
Die Tätigkeiten des Zeugen B. und des Beklagten zu 2. waren (unstreitig) zwischen ihnen abgesprochen, griffen mithin ineinander, und stellen sich deshalb als „bewusstes Miteinander“ im Sinne der zitierten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dar.
Entgegen der Auffassung der Klägerin fehlt es auch nicht an der gegenseitigen Gefahrensituation, der sog. Gefahrengemeinschaft. Im Zuge des Beladevorganges konnte nicht nur — wie in concreto geschehen — der Zeuge B. Schaden nehmen. Vielmehr war auch der Beklagte zu 2. als Staplerfahrer gefährdet und hätte durch Fehler des in den Beladevorgang eingebundenen LKW-Fahrers zu Schaden kommen können, beispielhaft dann, wenn der Zeuge B. die Tür D des Lkw-Anhängers nicht ordnungsgemäß nach dem Öffnen befestigt hätte, sodass diese während des Beladevorganges zugeschlagen wären. Jedenfalls vermag der Senat nicht zu erkennen, dass im Zuge der aufeinander bezogenen Ladetätigkeiten der Beteiligten allein der Versicherte der Klägerin Gefahren ausgesetzt gewesen war.
Damit greift das Haftungsprivileg der „gemeinsamen Betriebsstätte“.