§ 110 SGB VII – Auslegung von Unfallverhütungsvorschriften
Oberlandesgericht Schleswig, Urteil vom 6.3.2014 — Aktenzeichen: 11 U 74/13
Regressieren die Berufsgenossenschaften nach § 110 SGB VII, geht es in den Prozessen meist (auch) um die Frage der groben Fahrlässigkeit. Dass die Berufsgenossenschaften aber auch konkret unfallkausale Verstöße gegen Unfallverhütungsvorschriften beweisen müssen, zeigt die aktuelle Entscheidung des OLG Schleswig.
Leitsatz
1. Die Berufsgenossenschaft kann von dem Arbeitgeber Erstattung der Aufwendungen für einen Arbeitsunfall nach § 110 Abs. 1 S. 1 SGB VII nur dann verlangen, wenn eine besonders krasse und auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung vorliegt, die das in § 276 Abs. 1 S. 2 BGB bestimmte Maß erheblich überschreitet.
2. Eine am Sinn und Zweck der Unfallverhütungsvorschriften orientierte systematische Auslegung der Vorschriften der BGVC 22 ergibt, dass Absturzsicherungen während laufender Bauarbeiten abschließend in § 12 BGVC 22 geregelt sind und § 12a BGVC 22 nur für die Zeit danach gilt. Für den Unfall eines mit der Verschalung einer Kellergeschossdecke befassten Mitarbeiters während noch laufender Verschalungsarbeiten kann mithin § 12a BGVC 22 nicht angewandt werden.
Sachverhalt
Die klagende Berufsgenossenschaft verlangt vom Beklagten die Erstattung von Aufwendungen für einen Arbeitsunfall des beim Beklagten als Betonbauer/Einschaler angestellten Mitarbeiters. Dieser stürzte etwa 2,40 m tief auf einen Betonfußboden, als er oberhalb der Kellertreppenöffnung auf ein Schalbrett trat, das über den darunter verlaufenden Querträger hinausragte und nicht durch Vernageln mit den Querträgern gegen ein Abkippen gesichert war. Die Klägerin und ihm folgend das Landgericht haben als Ursache für diesen Sturz einen Verstoß gegen § 12a BGVC 22 angenommen mit der Begründung, die Kellertreppenöffnung sei nicht ausreichend gegen einen Absturz gesichert gewesen. Sie hätte entweder umwehrt oder begehbar und unverschieblich abgedeckt werden müssen.
Entscheidung
Nachdem das Landgericht der Klage der Berufsgenossenschaft noch stattgegeben hatte, hat das Oberlandesgericht diese Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Zwei Punkte sind an dieser Entscheidung bemerkenswert:
Zum einen hat das Oberlandesgericht sich mit der Auslegung von Unfallverhütungsvorschriften befasst und ausgeführt, dass Absturzsicherungen während laufender Bauarbeiten abschließend in § 12 BGVC 22 geregelt sind. Zwar regele § 12a BGVC 22, dass Öffnungen in Böden, Decken etc. mit Einrichtungen versehen sein müssen, die ein Abstürzen und Hineinfallen vermeiden; diese Regelung sei aber nicht einschlägig, weil die Verschalungsarbeiten noch nicht abgeschlossen gewesen seien. Vielmehr — so das OLG — haben die Verschalungsarbeiten erst den Zweck gehabt, die vorhandene Öffnung zu schließen. Wenn aber auf § 12 BGVC 22 abzustellen sei, seien deren Ausnahmen in den Blick zu nehmen. Damit trägt das OLG dem Umstand Rechnung, dass gerade während der Durchführung von Arbeiten, die die Sicherheit erst schaffen sollen, eine hundertprozentige Sicherheit nicht erreichbar ist.
Zum anderen — und deshalb konnte die Frage des Verstoßes letztlich dahinstehen — verneinte das Oberlandesgericht die grobe Fahrlässigkeit, auch deshalb, weil der Beklagte dem verlässlichen Verunfallten zuvor die Weisung erteilt habe, die Schalbretter zu befestigen. Der Beklagte habe nicht damit rechnen müssen, dass sich der Mitarbeiter so verhielt.