Unfall auf gemeinsamer Betriebsstätte

Thüringer Oberlandesgericht, Urteil vom 13.11.2020, 4 U 165/20

 

Leitsatz
Eine gemeinsame Betriebsstätte nach § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII liegt vor, wenn ein Fleischermeister die Tötung eines Mastbullen auf dem Gelände eines Landwirtschaftsbetriebes vornimmt und er dabei mit einer Schusswaffe einen Angestellten des Landwirtschaftsbetriebs verletzt, der von seinem Arbeitgeber zur Anwesenheit bei der Schlachtung eingeteilt worden war und der bei dem Vorgang Hilfestellung geleistet hat bzw. leisten sollte.

 

Zum Fall
Der Kläger, Angestellter eines Landwirtschaftsbetriebs, verfolgt gegen den Beklagten Schadensersatzansprüche sowie Schmerzensgeld wegen eines Unfalles im Rahmen einer Schlachtung.
Am 18.08.2016 hat der Beklagte, ein selbständiger Fleischermeister, den bei der Schlachtung eines Rinderbullen anwesenden Kläger mit einem Pistolenschuss schwer verletzt. Die mitgeführte Waffe, für die der Kläger keine waffenrechtliche Erlaubnis besaß, diente dazu, das Tier zu betäuben bzw. zu töten.
Nachdem der Kläger das Tor zum Fangstand geöffnet hatte und das Tier hingebracht wurde, betäubte der Beklagte das aggressive Tier. Anschließend fiel ihm die geladene Pistole auf den Boden, woraufhin sich ein Schuss löste, wodurch der Kläger verletzt wurde.

In einem Bescheid der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft gegenüber dem Beklagten wird festgestellt, dass es sich bei dem Vorfall um einen Arbeitsunfall des Klägers i.S.d. § 8 Abs. 1 SGB VII handelt.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen mit der Begründung, dass dem Anspruch des Klägers aus § 823 Abs. 1 BGB der Haftungsausschluss aus § 106 Abs. 3 Alt. 3 i.V.m. §§ 104 f. SGB VII entgegenstehe.

Mit der Berufung verfolgt der Kläger die geltend gemachten Ansprüche weiter.

 

Entscheidung

Das Oberlandesgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Ansprüche des Klägers sind ausgeschlossen.

  1. Zunächst stellte das Oberlandesgericht fest, dass Zivilgerichte nach § 108 Abs. 1 SGB VII an unanfechtbare Entscheidungen der Unfallversicherungsträger und der Sozialgerichte gebunden
    sind. Dies gilt hinsichtlich der Frage, ob ein Versicherungsfall vorliegt.
    Die Frage, ob eine gemeinsame Betriebsstätte gegeben ist, ist allerdings kein Tatbestandsmerkmal des Versicherungsfalles, weshalb insoweit eine Entscheidung der Zivilgerichte möglich ist und das Verfahren nicht nach § 108 Abs. 2 SGB VII ausgesetzt werden musste.
  2. Sodann fasst das Gericht die rechtlichen Grundsätze der Haftungsprivilegierung auf einer gemeinsamen Betriebsstätte zusammen:
    Erleidet ein Geschädigter, der gesetzlich unfallversichert ist, bei seiner Tätigkeit einen Arbeitsunfall i.S.d. § 8, § 7 Abs. 1 SGB VII, sind nach § 104 Abs. 1 S. 1 SGB VII Unternehmer zum Ersatz des Personenschadens ihrer Beschäftigten nur unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet. Dieses Haftungsprivileg wird auf weitere Unternehmen gem. § 106 Abs. 3 SGB VII erweitert. Folglich steht einem geschädigten Versicherten bei Vorliegen der in § 106 SGB VII normierten Voraussetzungen kein Anspruch aus z.B. unerlaubter Handlung gem. § 823 BGB zu.
    Ein Haftungsausschluss ist nach § 106 Abs. 3 Alt. SGB VII gegeben, wenn Versicherte mehrerer Unternehmen vorübergehend betriebliche Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte verrichten und dabei einen Arbeitsunfall erleiden.
    Eine gemeinsame Betriebsstätte liegt vor, wenn ein bewusstes Miteinander im Arbeitsablauf gegeben ist, das zwar nicht eine rechtliche Verfestigung oder ausdrückliche Vereinbarung verlangt, aber zumindest ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen darstellt. Eine Arbeitsverknüpfung bzw. Verbindung zwischen den Tätigkeiten in der konkreten Unfallsituation muss gegeben sein. Eine solche Verbindung ist nur bei betrieblichen Aktivitäten gegeben, die im faktischen Miteinander der Beteiligten aufeinander bezogen, miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung bzw. Unterstützung ausgerichtet sind. Wenn die Beteiligten bei versicherten Tätigkeiten, die eigentlich nebeneinander laufen, aufgrund äußerer Umstände sich ablaufbedingt in die Quere kommen müssen, liegt allerdings eine gemeinsame Betriebsstätte vor.
    Parallele Tätigkeiten, bloße Arbeitsberührungen oder die gleichzeitige Anwesenheit auf einem Betriebsgelände genügen hingegen nicht.
    Dabei trägt derjenige, der sich auf den Haftungsausschluss beruft, die Darlegungs- und Beweislast, dass eine gemeinsame Betriebsstätte gegeben ist.
  3. In dem zur Entscheidung gestellten Sachverhalt hat der Inhaber des landwirtschaftlichen Betriebs den Beklagten zur Schlachtung des Tieres und den Kläger für den darauffolgenden Transport beauftragt.
    Die Beteiligten haben ihre Handlungen deshalb aufeinander abgestimmt und bei der Schlachtung zusammengewirkt. So hat u.a. der Kläger selbst den Fangstand geöffnet, in den der Bulle von weiteren Kollegen hineingebracht wurde.
    In der konkreten Situation hatte sich auch eine Gefahrengemeinschaft gebildet. Denn es bestand eine wechselseitige Gefährdungslage zum einen durch den Zustand des aggressiven Tieres für den Beklagten und zum anderen durch den beabsichtigten Tötungsvorgang mit der Schusswaffe für den Kläger. Es konnte sich auch keiner sicher sein, ob der Schuss erfolgreich das Tier getötet bzw. zumindest hinreichend betäubt hatte oder ob weitere Sicherungsmaßnahmen aller Anwesenden erforderlich gewesen wären.
  4. Die Argumente des Klägers, weshalb der Beklagte nicht haftungsprivilegiert sei, verfingen nicht.
    Soweit er die Ansicht vertrat, bei dem Schuss nur vor Ort gewesen zu sein, ohne in der Situation mitgewirkt zu haben, berücksichtige er nicht, dass bei der Schlachtung gerade das Ineinandergreifen der Abläufe der Beschäftigten des Landwirtschaftsbetriebs und des Beklagten beim gesamten Schlachtungsvorgang maßgeblich gewesen sei. Die Mithilfe bei der Schlachtung habe gerade zu den ausdrücklich zugewiesenen Aufgaben des Klägers als Vorarbeiter gehört. Das Öffnen des Fanggestells, in dem das zu tötende Tier erschossen werden sollte, stellte sich als wesentliches Mitwirken dar, auch deshalb, weil es Auswirkung auf das Verhalten des Tieres hatte. Daher war der Kläger nicht nur zufällig in der Nähe.
    Soweit der Kläger auf Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vom 01. Februar 2011 – VI ZR 227/09 –, vom 10. Mai 2011 – VI ZR 152/10 – und vom 11. Oktober 2011 – VI ZR 248/10 – abstellte, waren diese nicht vergleichbar. Denn in den dort zu entscheidenden Sachverhalten waren die Handlungen des Schädigers und des Geschädigten gerade nicht oder noch nicht aufeinander bezogen bzw. die voneinander unabhängigen eigenen Tätigkeiten erfolgten lediglich parallel.
  5. Wegen des Vorliegens einer gemeinsamen Betriebsstätte ist die Haftung des Beklagten gemäß § 106 SGB VII ausgeschlossen.
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