Primärschaden bei Befunderhebungsfehlern

BGH, Urteil vom 2.7.2013 — Aktenzeichen: VI ZR 554/12

Leitsatz
In Fällen eines Befunderhebungsfehlers sind dem Primärschaden alle allgemeinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Patienten unter Einschluss der sich daraus ergebenden Risiken, die sich aus der unterlassenen oder unzureichenden Befunderhebung ergeben können, zuzuordnen.

Sachverhalt
In dem zugrundeliegenden Fall litt die Patientin bereits mehrere Jahre an Migräne, wegen derer sie sich in ständiger ärztlicher Behandlung befand. Infolge tagelang andauernder Kopfschmerzen stellte sie sich am 03.02.2002 beim ärztlichen Notdienst vor, der sie ins Krankenhaus einwies. Der neurologische Befund war unauffällig. Es wurde dokumentiert, dass keine Hinweise auf eine epileptische Aktivität bestünden. Als Medikation erhielt sie ein Mittel gegen die Kopfschmerzen und gegen Übelkeit. Zwei Tage später verschlechterte sich der Zustand der Patientin erheblich. Sie erlitt eine symptomatische Epilepsie (langanhaltender epileptischer Anfall) und eine Hirnvenenthrombse. Im Rahmen des epileptischen Anfalls erlitt sie sodann eine schwere Hirnschädigung, die in Kombination mit den Komplikationen der Hirnvenenthrombose letzlich zu ihrem Tod führte.

Die Erben nahmen die behandelnde Ärztin und den Krankenhausträger u.a. wegen eines behaupteten Befunderhebungsfehlers auf Schadenersatz und Schmerzengeld in Anspruch mit der Behauptung, die behandelnde Ärztin hätte angesichts der geschilderten Symptomatik, weitere Maßnahmen veranlassen müssen, wodurch die Hirnvenenthrombose früher erkannt und der Tod hätte verhindert werden können.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Erblasserinnen zurückgewiesen. Die vom Berufungsgericht zugelassene Revision hatte Erfolg. Das Berufungsurteil wurde aufgehoben und an das Berufungsgericht zur erneuten Entscheidung zurückgewiesen.

Entscheidung
Der BGH bestätigt die von ihm entwickelten Grundsätzen zur Beweislastumkehr bei groben Behandlungsfehlern fest. Die Beweislastumkehr sei nur dann ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründender Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich sei. Hier geht der BGH davon aus, dass bei der medizinisch gebotenen Verlaufskontrolle der verordeneten Medikation deren Wirkungslosigkeit festgestellt worden wäre und die sodann gebotene weitere Befunderhebung zur frühzeitigen (d.h. am 03.02.2003 statt am 04.02.2002) Erkennung der Hirnvenenthrombose geführt hätte, so dass die Ärzte mit der Gabe von Heparin hätten reagieren müssen. Die Unterlassung dieser medizinisch gebotenen Befunderhebung stelle einen groben Behadlungsfehler dar. Die Grundsätze zur Beweislastumkehr bei groben Behandlungsfehlern käme zwar regelmäßig nur zur Anwendung, soweit durch den Fehler unmittelbar verursachte haftungsbegründende Gesundheitsverletzungen (sog. Primärschäden) in Frage stünden. Für Folgeschäden (sog. Sekundärschäden), die erst infolge des Behandlungsfehlers eingetretene Gesundheitsverletzung entstanden seien, gälten diese Grundsätze nur, wenn der Sekundärschaden eine typische Folge des Primärschadens ist. Nichts anderes gelte hinsichtlich der Haftung für Schäden, die durch eine einfach oder grob fehlerhaft unterlassene/verzögerte Befunderhebung entstanden sein könnten.

Nach Maßgabe dieser Rechtsprechung greifet hier eine Beweislastumkehr ein. Der Primärschaden liege, anders als das Berufungsgericht es bwertet habe, nicht in der nicht rechtzeitigen Erkennung einer bereits behandlungsbedürftigen Gesundheitsbeeinträchtigung in Form der Hirnvenenthrombose, sondern, in deren gesundheitlicher Befindlichkeit infolge der am 03.02.2002 unterlassenen Verlaufskontrolle und der daraufhin unterlassenen Folgeuntersuchungen und Behandlung der Hirnvenenthrombose. Zu dieser gesundheitlichen Befindlichkeit zähle auch ein dadurch geschaffenes/erhöhtes Risiko, eine Epilepsie zu erleiden. Dazu habe das Berufungsgericht allerdings keine Feststellungen getroffen, so dass der Rechtstreit durch den BGH an das Berufungsgericht zurückverwiesen wurde.

image_pdf