Recht im Winter II – der gelieferte Weihnachtsbaum

Michael PeusMichael Peus

OLG Düsseldorf, Urteil vom 18.11.2022 – 22 U 137/21

Leitsatz

Wird ein Vertrag über die Lieferung und Aufstellung eines Weihnachtsbaumes geschlossen, so trifft beide Vertragsparteien die Verkehrssicherungspflicht. Sie haften im Schadensfall im Außenverhältnis als Gesamtschuldner, § 421 BGB. Im Innenverhältnis kann indes auch nur der Lieferant haften.

Sachverhalt

Die Beklagte bot Eigentümern und Betreibern eines Einkaufszentrums an, einen Weihnachtsbaum auf ihrem Grundstück gegen eine „Spende“ von 1.500 – 2.100€ aufzustellen. Dies wurde umgesetzt. Der 6m hohe Baum wurde mit Ständer angeliefert und im Eingangsbereich draußen aufgestellt. Der Baum war in einem ca. 1 Tonne schweren Betonständer mit Holzstücken verkeilt.

Der Baum kippte infolge starken Windes (Beaufort 6) um. Noch vor Beginn der Geschäftszeiten am nächsten Tag (8 Uhr) war der Baum wieder aufgerichtet. Von wem der Baum wieder aufgerichtet wurde, ist streitig.

Am Morgen des 24.12. kippte der Baum infolge eines Sturmes (Beaufort 8) erneut um, und traf eine Kundin, die sich eine Fraktur am Knöchel zuzog.

Entscheidung

Der Centerbetreiber hat Ansprüche gegen die Beklagte aus Vertrag gem. §§ 437 Nr. 3, 280, 281, 249 BGB. auch wenn im Außenverhältnis beide verkehrssicherungspflichtig sind, haftet im Innenverhältnis der Lieferant alleine.

  1. Bei dem Vertrag selbst handelte es sich um einen typengemischten (vorwiegend kaufvertraglichen) Vertrag über die Lieferung und Montage eines Weihnachtsbaumes mit späterem Abtransport und Entsorgung. Die Aufforderung zur „Spende“ stellt hierbei nur eine unerhebliche „Falschbezeichnung“ dar. (Anmerkung: falsa demonstratio non nocet)
  2. Die Verkehrssicherungspflicht des Centerbetreibers bestand darin, dass das Publikum das Gelände des Einkaufszentrums sowie dessen Außenbereich gefahrlos betreten könnten. Den Ersatz für den durch diese Pflichtverletzung entstandenen Schaden kann sie von der Beklagten gem. § 426 Abs. 1, 2 BGB ersetzt verlangen.
  3. Die Beklagte war als Lieferantin, die auch den Ständer zu stellen und die Aufstellung zu besorgen hatte, verpflichtet, den Baum sicher aufzustellen. Diese Pflicht verletzte sie vorwerfbar. Denn eine bewegliche Einrichtung muss so aufgestellt werden, dass sie den Windlasten standhält, die üblicherweise im Stadtgebiet erwartet werden können. Der Baum war nicht standsicher aufgestellt, denn er fiel aufgrund des starken Windes am 24.12. und nicht ausschließbar auch am 05.12. des Jahres. Dafür, dass der Baum infolge von Vandalismus oder durch Manipulation Dritter umgekippt ist, gibt es keine Anhaltspunkte. Wodurch der Baum letztlich umgekippt ist, braucht nicht festgestellt werden. Ein Gebäude oder Werk muss den Witterungseinflüssen standhalten, sodass die Ablösung von Teilen hiervon durch die Witterung die fehlerhafte Errichtung bzw. mangelhafte Unterhaltung beweist. Dies gilt entsprechend für einen Weihnachtsbaum. Die mangelnde Standsicherheit wurde von den Mitarbeitern der Beklagten verschuldet, was der Beklagten gem. §§ 280, 281, 278 BGB zugerechnet werden kann.
  4. Wegen der Zahlung des Centerbetreibers (Anm.: hier hat dessen Versicherer geleistet und regressiert, vgl. § 86 VVG). Befriedigt einer der Gesamtschuldner den Gläubiger und kann er von den übrigen Gesamtschuldnern Ausgleich verlangen, geht die Forderung des Gläubigers auf ihn über. Die Höhe dieser Forderung richtet sich grds. nach dem zwischen den Gesamtschuldnern bestehenden zu tragenden Anteil im Innenverhältnis, § 426 Abs. 1 S. 1 BGB. Im Rahmen von Schadensersatzansprüchen richtet sich dies nach dem Maß der Verursachung und hilfsweise dem Verschulden, § 254 BGB.
  5. Vorliegend wurde das Umstürzen des Baumes durch die Beklagte verursacht und das Aufstellen durch die Beklagte initiiert. Es war die Aufgabe der Beklagten, für eine sichere Aufstellung des Baumes zu sorgen. Hierfür verfügte sie auch über geschultes Personal. Der Centerbetreiber verfügte hingegen über kein geschultes Personal, was die Beklagte auch wusste. Dies begründet im Innenverhältnis eine alleinige Haftung der Beklagten.

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Recht im Winter I – die Dachlawine

Michael PeusMichael Peus

LG Detmold, Urteil vom 15.12.2010 – 10 S 121/10
und
OLG Hamm, Beschluss vom 07.02.2012 – I-7 U 87/11

Sachverhalte:
Sowohl das Landgericht Detmold als auch das OLG Hamm hatten – jeweils als Berufungsgericht – Sachverhalte zu entscheiden, in denen eine Dachlawine von einem Haus abgingen, wobei Geschädigter jeweils ein Mieter des Gebäudeeigentümers war. Der Unterschied lag darin, dass im Fall des LG Detmold das Fahrzeug auf einem mit-vermieteten Parkplatz stand, während das OLG Hamm einen Sachverhalt zu entscheiden hatte, bei dem der Mieter auf öffentlicher Fläche vor dem Gebäude parkte.

Entscheidungsinhalte:

Das LG Detmold hat den Vermieter zu hälftigem Schadensersatz verurteilt. Denn wegen des Mietverhältnisses über den Parkplatz habe der Eigentümer besondere Pflichten gegenüber dem Mieter:

„Den Beklagten als Gebäudeeigentümer oblag eine Verkehrssicherungspflicht aus § 823 Abs. 1 BGB. Dabei handelte es sich um eine besondere Verkehrssicherungspflicht, weil die Beklagten den Stellplatz an den Kläger vermietet hatten. Dadurch hat die Beklagte durch den speziell für den Mieter einer Wohnung ihres Hauses eingerichteten und unterhaltenen Parkplatz einen besonderen Verkehr eröffnet und damit auch eine besondere Verkehrssicherungspflicht übernommen (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 27.04.2000, 22 U 90/98 mit weiteren Nachweisen). Die Beklagte hätte sich angesichts der M3 des vermieteten Stellplatzes zur Traufrichtung des Daches ihres Gebäudes und der Dachneigung bei den bestehenden Witterungsverhältnissen über die Wetterentwicklung auf dem Laufenden halten und Maßnahmen zur Sicherung der auf dem vermieteten Parkplätzen abgestellten oder abzustellenden Fahrzeuge ergreifen müssen. So hätte sie die Parkplätze sperren müssen oder zumindest Warnhinweise aufstellen müssen.‟

Das Landgericht Detmold verlangt ein Sperren des Parkplatzes oder ein Hinweisschild. Diese Rechtsansicht überzeugt nicht. Auch im Vertragsverhältnis darf grundsätzlich jeder darauf vertrauen, dass der Vertragspartner offensichtliche Umstände wahrnimmt und sich entsprechend verhält. Dann sind Hinweisschilder auch nicht erforderlich. Das ist in anderen Fallgestaltungen absolut herrschende Rechtsprechung und zwar auch im Rahmen von Verträgen:

„Der Senat hat noch erwogen, ob die Bekl. nicht jedenfalls durch eine entsprechende Beschilderung auf die vorhandene erhöhte Rutschgefahr hätte hinweisen müssen. Er hat auch das im Ergebnis verneint, weil nicht angenommen werden kann, daß von ihnen eine wesentliche Wirkung ausgeht. Denn daß in einem Hallenbad Rutschgefahren bestehen, ist dem Hallenbenutzer auch so bekannt. Im konkreten Fall hätte eine derartige Beschilderung sicher nichts bewirkt.‟

vgl. OLG Hamm, Urteil vom 23.02.1989, Az. 6 U 2/88 = NJW-RR 1989, 736

„Eines gesonderten Warnhinweises darauf, dass im Poolbereich mit Nässe zu rechnen sei, bedarf es nicht, da dies jedem einleuchten muss. Hinzu kommt, dass schon allein aufgrund der Größe der Wasserpfütze, in der die Klägerin ausrutschte, diese auch deutlich wahrnehmbar war.‟

vgl. Urteil des AG Rostock vom 24.08.2011, Az. 47 C 29/11

„Eine Hinweispflicht bestand nicht. Eine Solche ist nur dann anzunehmen, wenn eine Gefahrenquelle geschaffen oder aufrechterhalten wird und derjenige, der in den Einzugsbereich der Gefahrenquelle kommt, die Gefahrenquelle nicht erkennen kann. Den Betreiber einer öffentlich zugänglichen Sauna trifft eine Hinweispflicht auf die Gefahr von Verbrennungen nicht. Die Gefahr von Verbrennungen ist für jeden Benutzer der Sauna erkennbar.‟

LG Arnsberg, Urteil vom 14.06.2012 – 2 O 410/11

„2. Eine Pflichtverletzung des Verkehrssicherungspflichtigen und damit seine Schadensersatzverpflichtung scheidet dann aus, wenn eine Gefahrenquelle mit einer „Selbstwarnung‟ versehen ist, der Verletzte also die Verwirklichung der Gefahr durchaus vorauszusehen und zu vermeiden vermocht hätte.‟
vgl. LG Coburg im Urteil vom 22.07.2014, Az. 22 O 107/14

Das OLG Hamm (Beschluss vom 07.02.2012 – I-7 U 87/11) hat Ansprüche des Mieters vollständig verneint. Das OLG hat zwar auch klargestellt, dass gerade mietrechtliche Erwägungen nicht anzustellen seien und der Gebäudeeigentümer nur nach allgemeinen Grundsätzen hafte; es wurde aber nicht klargestellt, welche Folge es denn hätte, mietrechtliche Erwägungen anzustellen. Und so wies das OLG Hamm die Berufung zurück, weil erstens schon keine Pflicht verletzt worden sie und andererseits ein haftungsvernichtendes Eigenverschulden des Geschädigten vorläge; immerhin habe er die Witterung und den Zustand des Daches vor dem Abgang der Dachlawine gesehen.

In der Abwägung erscheint das Urteil des LG Detmold, welches immerhin Ansprüche von 50% zuerkannte, fehlerhaft. Auch hier wäre die Klage abzuweisen gewesen. Denn Verkehrssicherungspflichten zu Vertragspartnern gehen nicht weiter als Verkehrssicherungspflichten gegenüber Dritten. Insoweit ist die körperliche Unversehrtheit eines Dritten als absolutes Recht ebenso weitgehend von der Rechtsordnung geschützt, wie die Gesundheit eines Vertragspartners (vgl. Grüneberg, BGB-Kommentar, § 280 Rn. 28; § 823 Rn. 49; BGH, Urteil vom 09.09.2008, Az. VI ZR 279/06; OLG Hamm im Urteil vom 15.03.2013, Az. 9 U 187/12); das muss auch für Sachen (Kfz) gelten. Es ist kein Grund ersichtlich, im Mietrecht von den Grundverständnissen abzuweichen, dass
– Sachverhalte nicht vor sich selbst warnen und Hinweisschilder erforderlich wären und
– das Mitverschulden des Geschädigten eine Haftung vernichten kann, wenn der Geschädigte das Ereignis jedenfalls bewusst in Kauf nimmt.

 

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Recht im Winter – Übersicht

Michael PeusMichael Peus

Übersicht zu Artikeln „Winter & Recht‟:

– Vorstellung und Kommentierung  zur ergangenen Rechtsprechung nach Themen der Urteile –

 

Dachlawinen:

Dachlawine beschädigt Kfz, OLG Hamm, RA Krappel

Dachlawinen und Kfz, LG Detmold u. OLG Hamm, RA Peus

 

Fußgängerstürze wegen Glätte:

Sturz auf Bahnhofsgelände, BGH, RA Dr. Schmidt

Sturz auf dem Bahnhofsgelände, OLG Hamm, RA Möhlenkamp

Sturz auf dem Weg zum Kfz, OLG München, RA Dr. Schmidt

Sturz wegen Glätte nach streupflichtiger Zeit, LG Braunschweig, RA Möhlenkamp

Sturz wegen ungeeigneten Streumittels, OLG Hamm, RA Möhlenkamp

 

Weihnachtsbräuche:

Sturz über Schlauch auf Weihnachtsmarkt, OLG Sachsen-Anhalt, RA Dr. Schmidt

Verkehrssicherungspflicht für Weihnachtsbaum, OLG Düsseldorf, RA Peus

 

Wintersport:

Rodeln und Skifreizeit, AG Bonn und LG Augsburg, RA Peus

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Hinterbliebenengeld XX: Kein Hinterbliebenengeld bei selbstverschuldetem Verkehrsunfall

Michael PeusMichael Peus

zur tabellarischen Übersicht Stand 08/2022zur textlichen Darstellung, Stand 08/2022

LG Münster, Urt. v. 27.09.2021 – 11 O 304/20

 

Leitsätze (redaktionell)

  1. Es besteht kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, wenn der Geschädigte alleine für den Unfall haftet.
  2. Ausnahmsweise kann die einfache Betriebsgefahr eines Kfz im Rahmen der Abwägung der Verursachungsbeiträge hinter der groben Verkehrswidrigkeit des Geschädigten zurücktreten.

 

Sachverhalt

Die Klägerinnen (Tochter und Ehefrau des später Verstorbenen) verlangen von den Beklagten (Fahrer des Kfz und dessen Haftpflichtversicherung) u.a. Hinterbliebenengeld infolge eines Verkehrsunfalls im März 2019. Der Verstorbene fuhr mit seinem Pedelec auf einem Fahrrad-/Fußgängerweg, der von Fahrradfahrern in Richtung gegen den Uhrzeigersinn zu befahren ist. Neben diesem Radweg befindet sich ein Kreisverkehr. Der Radweg führt über die in den Kreisverkehr mündenden Straßen, wobei der Kraftfahrzeugverkehr Vorfahrt hat. Der Verstorbene fuhr entgegen der Fahrtrichtung auf dem Fahrradweg und begann die in den Kreisverkehr mündende P-Straße überqueren, ohne auf den Verkehr auf der P-Straße zu achten. Dabei wurde er von dem Auto des Beklagten zu 1) erfasst. Dieser fuhr mit einer Geschwindigkeit von 10-15km/h.

Die Klägerinnen meinen, der Aufenthalt im Seniorenheim und der spätere Tod seien auf die Unfallfolgen zurückzuführen. Dem Beklagten zu 1) habe die erhöhte Sorgfaltspflicht oblegen, auf querende Radfahrer zu achten. Zumindest haften die Beklagten aufgrund der einfachen Betriebsgefahr zu 25%.

 

Entscheidung

Den Klägerinnen steht kein Anspruch gem. § 7 Abs. 1, 11 StVG, 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 S. 4 VVG, § 823 Abs. 1, 253 Abs. 2, 1922 BGB zu. Denn die Beklagten haften nach Abwägung der  Verursachungsbeiträge nicht. Die Betriebsgefahr nach § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB tritt hinter dem erheblichen Eigenverschulden des Verstorbenen zurück.

 

  1. Trifft den Geschädigten – wie hier – ein Mitverschulden, erfolgt die Abwägung gem. § 9 StVG nach § 254 BGB. Dabei werden die zu § 17 Abs. 1 StVG entwickelten Rechtsgrundsätze herangezogen. Zu berücksichtigen sind die zugestandenen oder gem. § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalles, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. Zu berücksichtigen sind dabei insb. das Maß der Verursachung und die Summe der Gefahren, die in der konkreten Unfallsituation von den Beteiligten ausgegangen sind und sich auf den späteren Schaden ausgewirkt haben (z.B. Beschaffenheit der Fahrzeuge, gefahrene Geschwindigkeit, Fahrmanöver, konkretes Fahrverhalten insb. Fahrfehler und Verkehrsverstöße).
  2. Vorliegend verstieß der Geschädigte gegen § 8 Abs. 2 StVO, wonach der, der die Vorfahrt zu beachten hat, rechtzeitig durch sein Fahrverhalten erkennen lassen muss, dass gewartet wird. Weiterhin hat der Geschädigte gegen § 2 Abs. 4 S. 2 StVO verstoßen, da er ohne eine Freigabe entgegen der Fahrtrichtung fuhr.

Dem Beklagten zu 1) ist hingegen kein Verkehrsverstoß vorzuwerfen. Insb. Verstöße gegen §§ 1 Abs. 2, 11 Abs. 3 StVO und § 3 Abs. 2a StVO scheiden mangels Anhaltspunkten aus.

  1. Ein vollständiger Haftungsausschluss kommt im Rahmen der nach den konkreten Umständen im Einzelfall vorzunehmenden Abwägung nur in Betracht, wenn der Geschädigte sich grob verkehrswidrig verhalten hat. Grob verkehrswidrig handelt, wer objektiv schwer und subjektiv nicht entschuldbar gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verstößt und erheblich das Maß des § 276 Abs. 2 BGB überschreitet.

Vorliegend hat der Geschädigte die im Straßenverkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und das unbeachtet gelassen, was jedem verständigen Verkehrsteilnehmer hätte einleuchten müssen. Er ist ohne zu gucken, ohne auf den Straßenverkehr zu achten und ohne Kenntlichmachung der Absicht, die Straße zu queren auf die P-Straße gefahren. Diese Sorgfaltspflichtverletzung ist auch subjektiv nicht entschuldbar, sie musste sich dem Geschädigten nahezu aufdrängen. Dieser Verkehrsverstoß wiegt auch besonders schwer, da der Geschädigte entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung fuhr und sich dazu nicht verkehrsgerecht verhielt. Für ihn war erkennbar, dass sich die Wege mit dem Kfz des Beklagten zu 1) kreuzen würden, denn es gab nur einen Weg, den der Beklagte zu 1) hätte nutzen können.

Der Beklagte zu 1) hingegen konnte nicht erkennen, dass der Geschädigte ihm die Vorfahrt nehmen und nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte, bis dieser bereits die Gabelung erreichte. Er durfte – auch wenn er den Geschädigten noch rechtzeitig hätte sehen können – auf sein Vorfahrtsrecht vertrauen und brauchte nicht mit Radfahrern aus der falschen Fahrtrichtung zu rechnen. Auch wenn der Beklagte zu 1) noch rechtzeitig hätte bremsen können – was vorliegend nicht ausgeschlossen werden konnte – ändert sich nichts an dem Abwägungsergebnis. Ob ein Unfall noch abzuwenden gewesen wäre, ist ein erheblicher Abwägungsfaktor, dadurch muss aber nicht zwingend die Betriebsgefahr vollständig hinter dem Verschulden des Geschädigten zurücktreten. Ebenso fuhr der Beklagte deutlich unter der zulässigen Höchstgeschwindigkeit.

Der Antrag auf Hinterbliebenengeld ist daher mangels Haftung des Schädigers unbegründet.

 

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Rechtsfolgen der Aerodynamik von Allgemeinverfügungen (oder: umfallende Verkehrsschilder)

Michael PeusMichael Peus

LG Wuppertal, Urteil vom 05.09.2022 – 2 O 29/20

Sachverhalt

Am 23.04.2019 kippte ein im Eigentum der Fa. Eins stehendes Baustellenverkehrsschild auf das Dach des Fahrzeugs des Klägers.

Das Schild war „vorinstalliert‟ aufgrund von Bauarbeiten, die ein städtisches Unternehmen für die Zeit vom 29.04.2019 bis zum 30.04.2019 in Auftrag gegeben hatte. Die Bauarbeiten – inklusive Umsetzung der verkehrsrechtlichen Anordnung gemäß § 45 Abs. 1, Abs. 3 und Abs. 6 StVO – sollte die Fa. Zwei durchführen. Weil die Fa. Zwei nicht genügend eigene Schilder im Bestand hatte, hatte sie aufgrund eines bestehenden Rahmenvertrages mit der Fa. Eins vereinbart, dass diese ihr Schilder zur Verfügung stelle. Das war in der Form vereinbart, dass Fa. Eins die bei ihr zu leihenden Verkehrsbeschilderungen vorher am Rand der aus dem beigefügten Plan erkennbaren Beschilderungsstellen abstellen möge. Fa. Zwei werde sich die benötigten Schilder dann später vom Straßenrand in die Baustelle ziehen

Fa. Eins hatte die von ihr gestellten Schilder angeliefert.

Zum Zeitpunkt des Umfallens waren die Schilder so aufgestellt, dass die Schildflächen sowohl parallel zu den langen Seiten der Fußplatten als auch parallel zum Bordstein ausgerichtet waren. Anders ausgedrückt: der fließende Verkehr blickte beim Heranfahren auf „die Ränder der Schilder‟ einerseits und auf die kurzen Seiten der Fußplatten andererseits.

Streitig war einerseits, ob das Amtshaftungsprivileg greife, und andererseits, ob ggfls. keine Haftung bestünde, weil Dritte eingegriffen hätten.

Entscheidung

Das Landgericht Wuppertal hat die Klage gegen das städtische Unternehmen und die Fa. Zwei abgewiesen. Verantwortlich sei Fa. Eins, der der Kläger den Streit verkündet hatte.

1. Das Amtshaftungsprivileg könne zwar grundsätzlich greifen bei der Beschilderung (BGH, Urteil v. 06.06.2019 – III ZR 124/18) von Baustellenbereichen. Vorliegend seien die Schilder aber bereits vor Baubeginn und vor Beginn der verkehrsrechtlichen Anordnung aufgestellt und – entscheidend – umgefallen. Das stehe einer Amtshaftung entgegen:

Die Tätigkeit der Streithelferin steht damit sachlich lediglich in einem mittelbaren Zusammenhang mit den übertragenen Hoheitsaufgaben der Beklagten zu 3), und in zeitlicher Hinsicht in gar keinem. Schäden, die in dieser, hier zu bewertenden Situation durch die Verletzung der während einer solchen Tätigkeit zu beachtenden Sorgfaltspflichten entstehen, können der Allgemeinheit nach der Rechtsauffassung der Kammer nicht angelastet werden.

2. Unbekannte Dritte schließt das LG Wuppertal im vorliegenden Fall nach umfassender Gesamtwürdigung als Ursache des sachwidrigen Aufstellens aus. Richtig ist allerdings, dass das LG Wuppertal dies in die ernste Überlegung aufgenommen hat. Und so ist es nach dem (unveröffentlichten) Hinweis des OLG Hamm vom 12.08.2022 (SR 001646-2021) auch so, dass der jeweilige Anspruchsteller diese Möglichkeit ausräumen muss. Denn für eine Pflichtverletzung gibt es keinen Rechtsschein / keine Vermutung: „Der Kläger hat die Möglichkeit, wie auch in der Unfallmitteilung, wonach ein Dritter die Absperrung verstellt hat, nicht ausgeräumt.‟ 

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Planungs- und Überwachungspflichten des Architekten, (hier: kein) Mitverschulden des Bauherrn für eingesetzten Planer

Michael PeusMichael Peus

LG Marburg, Urteil vom 07.02.2022, Az. 2 O 27/21
Orientierungssatz (amtlich)

1. Auch bei einem von dem Bauherrn eingeholten Bodengutachten besteht für einen bauaufsichtführenden Architekten grundsätzlich eine Prüfpflicht, ob entsprechend des Gutachtens gebaut wird. Es ist die ureigene Aufgabe des Architekten, aus einem Bodengutachten die für den Bau des Werks erforderlichen Rückschlüsse zu ziehen. Ist das Bodengutachten für die Drainage und Entwässerung des Werks relevant, ist diese Prüfpflicht grundsätzlich gesteigert. Eine Ausnahme solcher Prüfpflichten besteht nur, soweit ein etwaiger Mangel nach den von dem Architekten zu erwartenden Kenntnissen nicht erkennbar ist.
2. Ein Bauherr muss sich das mitwirkende Verschulden eines von ihm eingesetzten Planers gegenüber dem bauaufsichtführenden Architekten entgegenhalten lassen.

 

Sachverhalt (vereinfacht)

Die Parteien streiten um Vorschuss- und Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit dem Neu- und Erweiterungsbau eines Modehauses.

Die Klägerin beauftragte die Beklagten mit der Erbringung von Architektenleistungen für einen Ursprungsneubau und später einem Erweiterungsbau, welcher nach einem Brand vollständig zerstört worden war.

Wegen örtlicher Besonderheit (Das Grundstück befindet sich auf einem steil ansteigenden Gelände, sodass die Rückseite des Gebäudes vollständig in einen Hang eingebunden ist.) hatte die Klägerin im Vorfeld ein geotechnisches Gutachten eingeholt. Inhalt dieses Gutachtens war, dass zur Sicherung gegen Schicht-, Stau- und ansteigendes Grundwasser um das Untergeschoss eine wirksame Ring- und Flächendrainage nach DIN zu installieren ist. Gleichzeitig wurde in diesem Gutachten ausgeführt, dass ein nur sehr geringer Kluftwasserzulauf aus den im Felsen sich befindenden wassergefüllten Klüften zu erwarten sei und dass der Wasserstand in dem Hang ca. 3,5 Meter über dem Fußboden des Erdgeschosses liege.

Die Klägerin beauftragte für den Ursprungsbau weiter die Ingenieurgesellschaft Ing-Eins mit den Leistungsphasen 1 bis 8 bzgl. sämtlicher Ingenieurleistungen Gas, Wasser und Abwassertechnik sowie Wärmeversorgung, Brauchwassererwärmung und Raumlufttechnik. Bzgl. des Erweiterungsbaus beauftragte die Klägerin als Fachplanerin für Wasser und Abwasser das Ingenieurbüro Ing-Zwei.

Auch für den Erweiterungsbau hatte die Klägerin das Institut für Geotechnik im Vorfeld beauftragt, ein Bodengutachten zu erstatten. In diesem Gutachten führt das Institut aus, dass der Wasserandrang aus Hanggrundwasser vergleichsweise gering und mit offener Wasserhaltung beherrschbar sei. Gleichzeitig verwies er auf den bereits im seinem vorherigen Gutachten dargestellten, ca. 3,5 Meter über dem Erdgeschoss liegenden Wasserstand in dem Hang. Auch hier empfiehlt er u. a. die Installation einer Ring- und Flächendrainage nach DIN.

Die Beklagten erstellten das Rohbauleistungsverzeichnis. Ob auch die Planung einer Drainage von den Beklagten zu erbringen war, ist streitig.

Die Gebäude wurden in der Folgezeit errichtet und die Arbeiten wurden abgenommen. Sodann kam es zu verschiedenen Wassereinbrüchen in das Gebäude des Ursprungsneubaus und des Erweiterungsbaus.

Die Beklagten sind der Ansicht, die Ing-Eins (Ursprungsbau) sowie das Ingenieurbüro Ing-Zwei (Erweiterungsbau) seien für die planungs-, vergabe- und bauüberwachungsseitige Ausführung verantwortlich. Im Übrigen hätten diese Gesellschaften die Vorgaben des Geologie-Instituts in ihrer Planung umgesetzt und es sei auch dementsprechend gebaut worden. Es bestünde daher keine Haftung, hilfsweise bestünde ein Mitverschulden der Klägerin, die sich die Zuarbeiten des Instituts für Geotechnik anrechnen lassen müsse. Ferner seien die Trocknungsarbeiten durch dir Klägerin zu spät veranlasst worden.

Entscheidungsgründe

Das Landgericht teilte die Einwände der Beklagten nicht. Einerseits würden diese haften (sowohl aus Planungsfehlern als auch aus Unzulänglichkeiten der Bauüberwachung), andererseits habe die Klägerin weder eigenes Verschulden wegen spät begonnener Trocknungsarbeiten noch hätte das Institut für Geotechnik Fehler gemacht, so dass sich die Klägerin auch kein Mitverschulden anrechnen lassen müsse. Im Einzelnen:

I. Die Beklagten haften als Architekten für die eingetretenen Schäden und schulden der Klägerin Kostenvorschüsse für die Beseitigung der Mängel.

1. Zwischen den Parteien besteht ein Architektenvertrag sowohl im Hinblick auf den Ursprungsneubau als auch den Erweiterungsbau und zwar jeweils mit den Leistungsphasen 1 bis 9 der HOAI.

a) Da vertraglich keine Regelung vorhanden war, ob die Planung einer Drainage von den Beklagten zu leisten war, hatten diese dafür Sorge zu tragen, dass ihre Planung geeignet war, die Entstehung eines mangelfreien Bauwerkes zu gewährleisten. Eine den anerkannten Regeln der Technik entsprechende Drainage gehört zur Mangelfreiheit eines Bauwerks. Dies gilt auch für den Bereich der Außenabdichtungen von Gebäuden.

Die Beklagten wären für eine Vereinbarung einer Abweichung „nach unten‟ darlegungs- und beweisbelastet. Soweit sie vortragen, dass sich aus der Beauftragung der Ingenieurgesellschaft Ing-Eins durch die Klägerin ergebe, dass die Planung einer Drainage von den Beklagten nicht geschuldet gewesen sei, ist dieser Rückschluss nicht statthaft. Denn dort waren nur Ingenieurleistungen für Gas-, Wasser- und Abwassertechnik sowie Wärmeversorgungs-, Brauchwassererwärmungs- und Raumlufttechnik vereinbart. Darunter fällt nicht die Drainage, was sich sowohl aus der DIN ergab als auch aus der Vereinbarung selbst.

b) Neben der vollständigen Planung beider Bauvorhaben schuldeten die Beklagten bzgl. beider Vorhaben auch die Bauüberwachung. Die Bauüberwachungspflicht bestand vollumfänglich, d. h. auch bzgl. Drainage- und Abdichtungsarbeiten, weil die Beklagten jeweils einen Gesamterfolg – die Errichtung eines funktionsfähigen Gewerbegebäudes – schuldeten. Die Beklagten haben keine tatsachenbasierten Anknüpfungspunkte vorgetragen, aus denen sich ergeben hätte, dass sie als Gesamtverantwortliche für die Ausführung des Objektes ausnahmsweise nicht die Ausführung der Drainage- und Abdichtungsarbeiten überwachen soll.

2. Es liegt im Ergebnis ein Werkmangel i. S. des § 633 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BGB bei dem Werk der Beklagten zu 1. vor. Die einzelnen Mängel sind im selbständigen Beweisverfahren festgestellt worden. [auf Wiedergabe wird hier verzichtet]. Diese dargelegten Mängel in technischer Hinsicht, welche an beiden Gebäudeteilen im Zuge ihrer Errichtung durch die Rohbaufirmen umgesetzt worden sind, stellen sich auch als Mängel des Architektenwerks der Beklagten dar. Auch in dem Vertragsverhältnis der Klägerin zu den Beklagten weicht die Ist- von der Sollbeschaffenheit ab.

a) Die Beklagten haben bzgl. beider Gebäudeteile mangelhaft geplant.
(1) Die Frage, ob ein Planungsmangel i. S. des § 633 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BGB vorliegt, ist zuvorderst eine Rechtsfrage.
(2) Nach den gutachterlichen Feststellungen ist von drückendem Wasser auszugehen.
(3) Wenn beide Gebäudeteile in den Hang gebaut werden, hätten die Beklagten (als Planer auch der Außenabdichtung) wissen müssen, dass drückendes Wasser vorliegt und somit die Außenabdichtung in Anlehnung an die DIN 4095 zu erfolgen hat und zusätzlich weitere Schritte erforderlich sind. Der Wasseranfall hätte ermittelt werden müssen, statische Nachweise der Drainschichten und Drainleitungen hätten eingeholt werden müssen. Die Drainelemente hätten sodann hydraulisch bemessen werden müssen, ebenso die Sickeranlage und die Auswirkungen auf den Bodenwasserhaushalt, den Vorfluter und die Nachbarbebauung. Dabei reiche allein eine zeichnerische Darstellung der Drainanlage bei einer solchen Sonderkonstruktion nicht aus

b) Es liegt darüber hinaus eine Bauüberwachungspflichtverletzung der Beklagten vor.

(1) Der Umfang und die Intensität von Überwachungspflichten hängen von den konkreten Anforderungen der Baumaßnahme und den jeweiligen Umständen ab. Soweit es sich um Bauabschnitte bzw. Bauleistungen handelt, die besondere Gefahrenquellen mit sich bringen, besteht eine erhöhte Überwachungspflicht. Das gilt insbesondere für die Ausführung einer Drainage (Kniffka/Koeble/Jurgeleit/Sacher, Kompendium des Baurechts, 5. Auflage, Rn. 812). Besondere Sorgfalt bei der Überwachung ist im Übrigen auch dann erforderlich, wenn nach Plänen Dritter gebaut wird (Kniffka, a.a.O.).

Bei den hier streitgegenständlichen Abdichtungsmaßnahmen einschließlich der Drainagearbeiten handelte es sich um keine handwerklichen Selbstverständlichkeiten. Als Generalplanerin für das Objekt obliegt es ihr somit, die Drainagearbeiten und die Außen-Abdichtungsarbeiten an den Wänden zu überwachen. Das gilt auch für den Fall, dass diese Arbeiten nicht von den Beklagten geplant gewesen wären, was sie behaupten.

(2) Soweit die Beklagten behaupten, die Mangelhaftigkeit der Abdichtungsarbeiten einschließlich der Drainagearbeiten sei für sie nicht erkennbar gewesen, dringen sie damit nicht durch. Einerseits wurde dies von ihnen im Rahmen gerügt; andererseits endet die technische Prüfpflicht eines Architekten aus technischer Sicht erst dort, wo spezielle Fachkenntnisse der Fachplaner erforderlich sind, die von einem Architekten nicht allgemein zu erwarten sind oder einen unverhältnismäßigen Prüfaufwand ergeben würden.

(3) Die Arbeiten in Bezug auf die Drainanlagen sind der Abdichtungs- und Baukonstruktion zuzuordnen.

(4) Ein Architekt ist für Fehler von Sonderfachleuten (mit-) verantwortlich, wenn er einen Mangel in der Vorgabe / Planung nicht beanstandet, der ihm nach den vom Architekten zu erwartenden Kenntnissen erkennbar war. Kenntnisse in Bezug auf Gebäudeabdichtung einschließlich Drainagearbeiten sind bei den Beklagten als Architekten zu erwarten.

(5) Die Beklagten haben kausale Fehler in der Bauüberwachung zu verantworten. Konkret hätten die Beklagten darauf bestehen müssen, dass die von ihnen in der Mängelrüge genannten Mängel – fehlerhafte Ausführung der Drainage durch die Rohbauer – beseitigt werden. Darüber hinaus hätten sie überprüfen müssen, dass die vorgesehene Drainageplanung nicht zulässig ist; dies hätten sie beanstanden und auf eine den anerkannten Regeln der Technik entsprechende Ausführung bestehen müssen. Im Übrigen wären schließlich auch die oben dargelegten mangelhaften Ausführungen im Rahmen der Außenwerksabdichtungen von ihnen zu monieren gewesen. Schließlich hätte die fertiggestellte Drainanlage nach der Verfüllung auf ihrer Funktionstauglichkeit überprüft werden und die Ergebnisse protokolliert werden müssen. All dies geschah nicht.

Es genügt auch nicht nicht, sich auf ein bloßes Baugrundgutachten zurückzuziehen. Denn die technische Prüfpflicht beinhaltet, sich mit den Vorgaben Dritter auseinanderzusetzen, welche – wie hier die Abdichtungs- einschließlich Drainagearbeiten – dem Bereich der Abdichtungs- und Baukonstruktion zugeordnet werden. Sofern sie den Lastfall drückendes Wasser in dem Baugrundgutachten nicht erkannt haben, hätte ihre eigene technische Prüfung ergeben (müssen), dass dennoch ein solcher Lastfall gegeben ist.

3. Einer Nachfristsetzung bedurfte es nicht. Die Wassereinbrüche haben sich unstreitig im Ursprungsneubau und im Erweiterungsbau gezeigt, als die jeweiligen Gebäudeteile fertiggestellt waren, sodass sich die Werkmängel der mangelhaften Planung und der mangelhaften Bauüberwachung bereits in dem körperlichen Bauwerk manifestiert hatten. Eine Nacherfüllungsaufforderung, die geschuldete Leistung – die Planung der Errichtung der beiden Gebäudeteile und die Überwachung von deren Errichtung – nunmehr zu erbringen, würde leerlaufen.

4. Die Höhe des Vorschusses richtet sich gemäß § 637 Abs. 3 BGB nach den zur Beseitigung der Mängel erforderlichen Aufwendungen aus der Sicht eines vernünftig, wirtschaftlich denkenden und sachkundig beratenen Bestellers. [auf konkrete Darlegung wird hier verzichtet]

5. Der Klägerin ist kein Mitverschulden entgegenzuhalten.

a) Ein Bauherr muss sich zwar das mitwirkende Verschulden eines von ihm eingesetzten Planers gegenüber dem bauaufsichtführenden Architekten entgegenhalten lassen. Hintergrund dieser Zurechnung ist, dass den Besteller eine Obliegenheit trifft, dem bauaufsichtsführenden Architekten fehlerfreie Pläne zur Verfügung zu stellen.

Das geologische Gutachten war nicht falsch. Auch wenn das Institut für Geologie den Lastfall „drückendes Wasser‟ als solchen nicht konkret benannte, hat es aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Klüfte im Fels wassergefüllt sind und der Wasserstand ca. 3,5 Meter über dem Fußboden im Erdgeschoss liegt. Daraus war der alleinige Schluss zu ziehen, dass auf diesen Lastfall mit einer der beiden dargelegten Maßnahmen (Sonderfall der Drainage in Anlehnung an die DIN 4095 oder die Anwendung der DIN 18195-6) reagiert werden musste. Aufgrund der Rollenverteilung war das Ziehen dieses Rückschlusses die ureigene, alleinige Aufgabe der beklagten Architekten und die Vorschläge des Geologen waren lediglich Empfehlungen. Daher oblag es den Beklagten, die richtigen Schlüsse zu ziehen.

b) Die Klägerin trifft auch kein eigenes Mitverschulden, weil sie keine Schadensminderungen unterlassen hat.
Solange die Ursache für den in den Innenräumen entstandenen Schaden die Feuchtigkeitseinwirkung auf den Fußbodenaufbau sei, sei eine Trocknung ohne Beseitigung der Feuchtigkeitsquelle sinnlos; es sei davon auszugehen, dass weiterhin Feuchtigkeit zufluss erfolge. Ohnehin seien die Fußbodenkonstruktionen in beiden Gebäudeteilen auch nicht trocknungsfähig, wenn diese acht bis zehn Tage feuchtigkeitsbeaufschlagt seien.
Außerdem kann der Klägerin auch kein Mitverschuldensvorwurf dahingehend angelastet werden, vor Ablauf dieser Tage nicht mit Trocknungen begonnen zu haben. Zum einen kann ihr dieser Vorwurf deshalb nicht angelastet werden, weil nach den festgestellten Wassereinbrüchen Ausmaß und Ursache des Wassereintritts völlig unbekannt waren. Zum anderen zeigte der Prozess, dass dies ex ante nicht möglich war, da nach zwei von den Beklagten eingeholten Gutachten, vier schriftlichen Gerichtsgutachten, einer mündlichen gerichtlichen Gutachtenerläuterung und einem insgesamt fast neun Jahre andauernden gerichtlichen Verfahren die Beklagten (!) als Fachmänner bis zuletzt sowohl Ausmaß als auch Ursache des Wassereintritts bestreiten, kann von der Klägerin (!) nicht ernsthaft ein Tätigwerden binnen verlängerter Wochenfrist verlangen.

II. Der Schadensersatzanspruch steht der Klägerin ebenfalls zu. [auf die Darstellung bzgl. der Berechnung wird hier verzichtet]

III. Der Feststellungsantrag ist zulässig und begründet. Ein solcher Anspruch besteht, wenn der Klägerin ein Vorschussanspruch zusteht (beispielhaft Urteil des BGH vom 15.06.1989, Az. VII ZR 14/88, Rn. 32, zitiert nach juris), was hier der Fall ist. Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht hier erst Recht vor dem Hintergrund, dass das genaue Schadensausmaß erst im Rahmen der Nachbesserungsarbeiten festgestellt werden könne. Hinzu kommen die in diesem Verfahren nur am Rande thematisierten möglichen Auswirkungen auf den Geschäftsbetrieb der Klägerin während der Nachbesserungsarbeiten in den Innenbereichen beider Gebäudeteile.

Fazit

Die Frage, ob ein Planungsmangel vorliegt, ist primär eine Rechtsfrage.

Wenn ein Architekt vollumfänglich beauftragt ist, muss er seine Kenntnisse vollumfänglich einbringen und darf keine zugeleiteten Planungen ungeprüft oder oberflächlich geprüft übernehmen. Meint der Architekt, seine Leistungspflichten wären durch Zuarbeiten anderer beschränkt, muss er dies sinnvollerweise wegen seiner Beweislast mit seinem Auftraggeber verschriftlichen.

Auch wenn fehlerhafte Zuarbeiten ein Mitverschulden des Bauherren begründen können, entsteht dieses Mitverschulden nicht stets und in jedem Fall. Entscheidend ist vielmehr, ob in der konkreten Rollenverteilung die Architekten auf diese Zuarbeit vertrauen dürfen oder sie diese Zuarbeiten nicht wegen der eigenen Zuständigkeit und Fachkenntnis prüfen müssen, bevor sie diese übernehmen.

Von einem Bauherren können nicht per se unmittelbar die richtigen Schadenminderungsarbeiten (Trocknung) abverlangt werden, wenn die Ursache unbekannt ist. Gegen die Möglichkeit, Maßnahmen zeitnah zu ergreifen, spricht auch – ex post – dass ein Verfahren 9 Jahre andauert und mehrere Sachverständigengutachten erforderlich sind, um den Fall zu entscheiden.

[Hinweis: vgl. zum Verschulden bei der Erforderlichkeit eines Gerichtssachverständigen auch OLG München, Urteil vom 23.10.2006 – 17 U 3944/06]

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Hinterbliebenengeld (XIX): Kein über das Hinterbliebenengeld hinausgehendes Schmerzensgeld bei „normalpsychologischer Trauer“

Michael PeusMichael Peus

zur tabellarischen Übersicht Stand 08/2022zur textlichen Darstellung, Stand 08/2022

OLG Celle, Urt. v. 24.08.2022 – 14 U 22/22

 

Leitsätze (amtlich)

  1. Ohne eine pathologisch fassbare Auswirkung sind auch Depressionen, Schlafstörungen, Alpträume, Seelenschmerzen, Weinkrämpfe, Gefühle des „Aus-der-Bahn-geworfen-seins“ und vorübergehende Kreislaufstörungen bis hin zu Kollaps-Belastungen, in denen sich nach der Wertung des Gesetzes lediglich das „normale“ Lebensrisiko der Teilnahme an den Ereignissen der Umwelt verwirklicht, nicht ausreichend für die Annahme eines sogenannten „Schockschadens“.
    Alleine die von ärztlicher Seite für notwendig erachtete Behandlung, weil der Tod des Sohnes nicht verarbeitet werden kann, belegt noch keine nach der allgemeinen Verkehrsauffassung bestehende Gesundheitsverletzung.
  2. Von wesentlicher Bedeutung bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes sind dabei die gesundheitlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Klägers. Zu berücksichtigen sind auch die familiären Belastungen, insbesondere im Verhältnis zu seiner Ehefrau sowie die grobe Fahrlässigkeit des Unfallverursachers.
    Es erscheint dabei angemessen, auch das Hinterbliebenengeld im Bereich des Durchschnitts von 10.000,00€ anzusetzen und diesen Durchschnittsbetrag wegen des besonders schmerzlichen Verlustes eines minderjährigen Kindes mit messbaren Krankheitsfolgen (Anpassungsstörung und leichte Depression) auf 15.000,00€ zu erhöhen.

 

Sachverhalt

Der Kläger macht gegenüber der Beklagten u.a. Schmerzens- und Hinterbliebenengeldansprüche infolge eines Verkehrsunfalls geltend.

Der 12-jährige Sohn des Klägers verunglückte 2018 tödlich, als ihn eine bei der Beklagten versicherte Sattelzugmaschine erfasste. Die Ehefrau des Beklagten erlebte den Unfall mit, während der Kläger kurze Zeit später an der Unfallstelle eintraf und dort den Körper seines verstorbenen Sohnes sah. Der Kläger begab sich daraufhin gemeinsam mit seiner Frau in psychologische Behandlung. Die Beklagte zahlte bereits Vorschüsse i.H.v. 15.000€.

Das Landgericht wies die Klage mit der Begründung ab, der Kläger habe keinen Anspruch aufgrund eines Schockschadens. Bei dem Kläger sei eine leichte depressive Episode sowie ein normalpsychologischer Trauerzustand festgestellt worden. Dies sei für ein weiteres Schmerzensgeld nicht ausreichend, da diese Leiden nicht über das Leiden anderer Betroffener hinausgehe. Der Kläger habe einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld in Höhe der bereits von der Beklagten gezahlten 15.000€.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Berufung und verfolgt u.a. sein Zahlungsbegehren i.H.v. min. 5000€ weiter.

 

Entscheidung

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Schmerzensgeld gem. §§ 7, 11 StVG, §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB, § 6 AuslPflVG, § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG, da keine eigene Körper- oder Gesundheitsverletzung in Form eines „Schock- oder Fernwirkungsschadens“ festgestellt werden konnte.

Nach der Rechtsprechung des BGH können auf einem Unfall beruhende traumatische psychische Störungen mit Krankheitswert als Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB zu werten sein, sofern eine hinreichende Gewissheit besteht, dass diese psychische Gesundheitsschädigung ohne die Verletzungshandlung nicht eingetreten wäre.

Dieser Grundsatz wird jedoch bei sog. Schockschäden beschränkt. Seelische Leiden wie Trauer und seelischer Schmerz, den Angehörige beim Tod oder der schweren Verletzung eines nahestehenden Menschen verspüren, stellen auch keine Gesundheitsverletzung dar, wenn sie mit physiologischen, für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevanten Symptomen einhergehen. Psychische Leiden stellen nur eine Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB dar, wenn sie pathologisch fassbar sind und erheblich über das hinausgehen, was andere Betroffene in derselben Situation verspüren. Diese psychopathologischen Ausfälle müssen gewichtig und von einiger Dauer sein und nach der allgemeinen Verkehrsauffassung als Verletzung des Körpers oder der Gesundheit betrachtet werden (z.B. mittelschweres depressives Syndrom, behandlungsbedürftige Angstzustände, akute Belastungsreaktion mit schwerwiegenden Folgen z.B. Aufgabe der Wohnung und des Berufes sowie des Autofahrens, Schweißausbrüche und Zittern im Straßenverkehr). Daher können auch medizinisch erfassbare psychische Leiden für sich genommen keinen Schmerzensgeldanspruch begründen.

Diese psychischen Folgen (leichte depressive Episode, normalpsychologische Trauer und seelische Folgeerscheinungen) reichen jedoch nicht für den erforderlichen Schockschaden aus, da sie nicht über das hinausgehen, was Eltern bei dem Tod ihres minderjährigen Kindes erleiden müssen. Die Symptome des Klägers (depressiv, unkonzentriert, unruhig, massive Schlafstörungen, Weinkrämpfe) sind nicht von einiger Dauer und einigem Gewicht. Für die Annahme eines Schockschadens müssen konkrete Krankheitssymptome festzustellen sein, die den Rückschluss auf pathologisch fassbare Auswirkungen ermöglichen. Auch Depressionen, Schlafstörungen, Alpträume, Seelenschmerzen, Weinkrämpfe, Gefühle des „Aus-der-Bahn-geworden-seins“, vorrübergehende Kreislaufstörungen bis Kollaps-Belastungen, in denen sich nach der Gesetzeswertung das „normale“ Lebensrisiko verwirklicht, sind ohne pathologisch fassbare Auswirkung nicht ausreichend. Das seelische Leid ist durch das Hinterbliebenengeld zu entschädigen und kann nicht mit einer eigenen Gesundheitsverletzung gleichgesetzt werden.

 

Dem Kläger stand ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld gem. § 844 Abs. 3 BGB zu, der die gezahlten 15.000€ jedoch nicht übersteigt, und durch die vorgerichtliche Zahlung daher gemäß § 362 BGB durch Erfüllung erloschen ist. Selbst wenn ein Schockschaden vorliegen würde, ergebe sich hieraus kein höheres Schmerzensgeld.

Das Hinterbliebenengeld kann und soll nach dem gesetzgeberischen Willen keinen Ausgleich für den Verlust des Lebens bieten. Die Entschädigung soll den Hinterbliebenen in die Lage versetzen, die durch den Verlust eines besonders nahestehenden Menschen verursachte Trauer und sein seelisches Leid zu mindern und für das seelische Leid der Hinterbliebenen geleistet werden. Die Bemessung obliegt gem. § 287 ZPO den Gerichten. Bei der Bemessung besonders zu berücksichtigen sind die gesundheitlichen und seelischen Leiden. Vorliegend sind auch die familiäre Situation und die grobe Fahrlässigkeit des Schädigers miteinzubeziehen.

Der Kläger konnte weiterhin seiner Arbeit nachgehen, seiner Frau zur Seite stehen und Organisationsaufgaben wahrnehmen. Er klagte über Schlafprobleme, jedoch sind die Alltagsbeeinträchtigungen gering, denn er habe sich nach seinem Renteneintritt eine geringfügige Beschäftigung gesucht und Besorgungen gemacht, kümmere sich um das Abendessen und Bürotätigkeiten, treffe sich mit seiner Frau und gehe mit ihr spazieren und manchmal bekämen sie Besuch. Der Rehabilitationsbericht weist lediglich „Konzentrationsschwächen beim Lernen“ aus. Es erfolgte kein sozialer Rückzug und der Kläger befand sich auch vor dem Unfall bereits in psychologischer Behandlung. Zurzeit befindet sich der Kläger in einer langwierigen Besserungsphase, sollte jedoch weiterhin behandelt werden.

Dem Kläger fehlt jedoch eine vom Leid ablenkende Bezugsperson und er hat mit dem Verlust des Sohnes die Stütze und die Erfüllung des Familienlebens verloren. Zu seinem Sohn hatte er eine besondere Beziehung, er war auch ein Freund und wurde wie ein Einzelkind aufgezogen. Aufgrund des fortgeschrittenen Alters können er und seine Frau zudem keine weiteren Kinder bekommen.

Wesentlich für die Bemessung ist das unfallbedingt schwierige Verhältnis des Klägers zu seiner Frau. Diese ist infolge des Unfalls schwer psychisch erkrankt und weise dem Kläger die Schuld für den Unfall zu. Ebenfalls zu berücksichtigen ist die erhebliche Schuld des Unfallverursachers.

Der Kläger selbsttraf zwar unmittelbar nach dem Unfall an der Unfallstelle ein , jedoch sind hierauf keine schwerwiegenden Folgen zurückzuführen. Ebenso ist das Regulierungsverhalten der Beklagten nicht erhöhend zu berücksichtigen, denn die Beklagte zeigte sich kooperativ und leistete Vorschüsse in rechtlich vertretbarer Höhe.

 

Weiteres:

Zur Unterscheidung des Schockschadens vom Hinterbliebenengeld ist sich folgendes zu verdeutlichen:

Das Hinterbliebenengeld knüpft haftungsbegründend an die Verletzung des Lebens eines anderen an und entschädigt auf der Ebene der haftungsausfüllenden Kausalität die seelischen Leiden der Hinterbliebenen. Dies kann auch eine normalpsychologische Trauer sein. Für einen Anspruch aufgrund eines Schockschadens muss eine eigene Rechtsgutverletzung vorliegen.

Diese Dogmatik kann dafür sprechen, neben einer Körper- und Gesundheitsschädigung auch den „Gefühlsschaden“ zu entschädigen, der im Rahmen des Schockschaden nicht zu entschädigen ist. Vorliegend liegt kein Schaden vor, der bei einem (hier aber nicht vorliegenden) Schockschaden auszugleichen wäre und ein höheres Hinterbliebenengeld rechtfertigen würde. Das seelische Leid, das in der Anpassungsstörung und der leichten Depression zum Ausdruck kommt, beruht gerade auf dem Unfall, sodass es Überschneidungen und fließende Übergänge zum rein seelischen Leid gibt.

Der Verlust eines minderjährigen Kindes ist zunächst im oberen Bereich der Hinterbliebenengelder anzusiedeln.

Vorliegend gehen die Leiden jedoch nicht über das hinaus, was Eltern bei dem Verlust eines Kindes regelmäßig erleiden. Deshalb kann der Durchschnittsbetrag i.H.v. 10.000€ angesetzt werden und aufgrund dessen, dass es sich um den Verlust eines noch minderjährigen Kindes handelt und der Kläger durch den Verlust messbare Krankheitsfolgen erlitten hat, erhöht werden auf 15.000€. Diese Erhöhung ist wegen der Nähe zum Durchschnittsfall aber ausreichend. Eine Erhöhung auf 20.000€ wäre nicht mehr angemessen. Ein Hinterbliebenengeld i.H.v. 20.000€ wird regelmäßig nur bei vorsätzlichen Tötungen zugesprochen, denn in diesen Fällen ist die Genugtuungsfunktion des Hinterbliebenengeldes stärker erhöhend zu werten als bei grober Fahrlässigkeit.

 

 

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Mietrecht: Keine Anfechtung aufgrund arglistiger Täuschung ohne Wohnungsbesichtigung

Michael PeusMichael Peus

LG Lübeck, Urt. v. 07.07.2022 – 14 S 23/21

 

Leitsätze (redaktionell)

  1. Unterlässt es ein Mieter, die Wohnung vorher zu besichtigen, obwohl hierzu die Gelegenheit bestanden hat, fällt dies grds. in seinen Risikobereich. Eine arglistige Täuschung des Vermieters über den Zustand der Wohnung kommt dann mangels Interesses des Mieters hieran nicht in Betracht.
  2. Der Mieter kann sich dann auch nicht auf Mängelrechte berufen, da ihm die Mängel aufgrund grob fahrlässiger Unkenntnis unbekannt geblieben sind, § 536b BGB.

 

Sachverhalt

Die Beklagte mietete eine möblierte Wohnung der Klägerin ohne vorherige Besichtigung an, obwohl sich die Vertragsparteien zweimal in der Wohnung selbst getroffen hatten. Die Klägerin hatte nur  Bilder aus dem Inserat vor Augen und dann keine Besichtigung durchgeführt.

Vertragsunterzeichnung war am 24.07.2019, die Schlüsselübergabe fand am 26.08.2019 statt und vereinbarter Mietbeginn war der 01.09.2019. Vereinbart war ein Kündigungsausschluss der Mieterin für ein Jahr ab Vertragsbeginn.

Die Beklagte zahlte daraufhin die Miete für den Monat September i.H.v. 900€ sowie die Kaution i.H.v. 1.500€.

Am 10.09.2019 erklärte die Beklagte

  • den Rücktritt vom Vertrag und
  • hilfsweise die außerordentliche und
  • hilfsweise die ordentliche Kündigung sowie
  • die Anfechtung aufgrund arglistiger Täuschung, da die Wohnung und das Mobiliar in der Wohnung in einem schlechten Zustand seien. Die zur Mietwohnung gehörende Couch habe abgenutzte Stellen, die in der Broschüre mit Decken und Kissen bedeckt gewesen seien. Die Wohnung sei auch nicht in dem guten Zustand gewesen, der sich aus der Broschüre ergeben habe.

Weitere Zahlungen leistete die Beklagte auf den Mietvertrag nicht mehr.

Die Klägerin (Vermieterin) verlangt klageweise Erfüllung des Vertrages, die Beklagte (Mieterin) widerklagend Rückzahlung der Miete und der Kaution.

Das Amtsgericht wies die Klage ab, da die Beklagte den Vertrag aufgrund arglistiger Täuschung der Klägerin über den Zustand der Couch wirksam angefochten habe. Der Widerklage gab es statt.

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.

 

Entscheidung

Die Berufung der Klägerin ist überwiegend begründet. Die Klägerin hat gem. § 535 Abs. 2 BGB einen Anspruch auf die ausstehende Miete für Oktober 2019 – August 2020 i.H.v. 9.000€, die Beklagte indes auf Rückzahlung der Kaution.

 

  1. Der Ausschluss der Kündigung für ein Jahr kann wirksam vereinbart werden (vgl. für 2 Jahre AG Mönchengladbach-Rheydt, Urteil vom 21.06.2007 – 20 C 104/07 mit Verweis auf BGH, Urteil vom 22.12.2003, Az. VIII ZR 81/03; für 4 Jahre: BGH, Urteil vom 6.4.2005, ZMR 2005, 443,). Wegen der im Schreiben vom 10.09.2019 erklärten ordentlichen Kündigung endete das Mietverhältnis zum 31.08.2020. Bis dahin hat die Klägerin den Anspruch auf die Mietzahlungen, die Beklagte aufgrund des inzwischen beendeten Mietverhältnisses Anspruch auf die Auszahlung der Kaution.
  2. Da für die mieterseits geltend gemachten Mängel das Mangelgewährleistungsrecht vorrangig war, konnten sie eine fristlose Kündigung nicht rechtfertigen. Die Erklärung der fristlosen Kündigung war damit wirkungslos.
  3. Ein Rücktritt war nicht möglich, weil dieser nicht im Vertrag vorbehalten wurde und ansonsten nach Überlassung der Mietsache – so wie vorliegend – das Rücktrittsrecht durch das Kündigungsrecht ersetzt wird. Die Rücktrittserklärung war mithin wirkungslos.
  4. Das Mietverhältnis ist auch nicht durch die erklärte Anfechtung beendet worden. Die Beklagte konnte den Mietvertrag nicht wirksam anfechten, da keine arglistige Täuschung der Klägerin nach § 123 BGB vorlag.

Eine Täuschung durch Unterlassen, da die Klägerin die Beklagte nicht über den Zustand der Wohnung aufgeklärt hatte, scheidet mangels Aufklärungspflicht aus. Eine solche kommt nur in Betracht, wenn gem. § 242 BGB nach Treu und Glauben und nach der Verkehrssitte mit einer Aufklärung gerechnet werden durfte. Jede Partei nimmt grds. ihre eigenen Interessen wahr, weshalb keine Pflicht besteht, ungünstige Eigenschaften, die für die Entscheidung der anderen Partei von Bedeutung sein könnten, ohne Nachfrage offenzulegen. Mangels Aufklärungspflicht der Klägerin über den Zustand der Couch liegt keine arglistige Täuschung der Klägerin vor. Die übrigen Mängel sind offensichtlich und wären bei einer Wohnungsbesichtigung leicht erkennbar gewesen. Zudem konnte die Beklagte die Wohnung vor Abschluss des Mietvertrages besichtigen. Bevor der Mietvertrag unterschrieben wurde, fanden zwei Treffen in der Wohnung statt. Besichtigt der Mieter die Wohnung trotz Gelegenheit nicht, fällt dies in seinen Risikobereich.

Die Klägerin hat auch nicht durch aktives Tun über den Zustand der Wohnung getäuscht. Eine Täuschung durch aktives Tun liegt vor, wenn ein Irrtum erregt oder aufrechterhalten wird durch Vorspiegelung falscher oder durch Unterdrückung wahrer Tatsachen. Nach dem Wortlaut des § 123 BGB muss der Getäuschte zudem dadurch zu einer Willenserklärung veranlasst worden sein. Auch das vorherige Inserat mit den Fotos kann keine aktive Täuschung begründen, denn diese zeigen schon allein aufgrund der Art der Bilder zwangsläufig einen gepflegteren Zustand. Zudem dienen diese nur dazu, sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Weiterhin werden keine einzelnen Einrichtungsgegenstände gezeigt, wobei gepflegte besonders und abgenutzte gar nicht erst gezeigt werden.
Ebenso stellt die Tatsache, dass die Klägerin die abgenutzte Couch mit Kessen und Decken dekoriert hatte keine aktive Täuschung gem. § 123 BGB dar. Gem. § 123 BGB muss die Täuschung zu einer Abgabe einer Willenserklärung geführt haben. Da die Beklagte die Wohnung trotz zweimaliger Gelegenheit nicht genauer besichtigte, deutete darauf hin, dass sie der konkrete Zustand der Wohnung zu diesem Zeitpunkt nicht interessierte. In dem Fall, dass jemandem etwas egal ist, kann er hierüber auch nicht getäuscht werden. Gleiches gilt für die offensichtlichen Mängel, die bei einer Wohnungsbesichtigung leicht zu erkennen gewesen wären.

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Zur Angabe „Wohn-/Nutzfläche“ im Mietvertrag zählen auch Kellerräume

Michael PeusMichael Peus

LG Saarbrücken, Urt. v. 23.06.2022 – 10 S 136/21

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Bezeichnung „Wohn-/Nutzfläche“ im Mietvertrag umfasst neben dem Wohnraum auch außerhalb der Wohnung gelegene Nutzräume, wie z.B. Dachboden, Heizungsraum oder Keller.

 

Sachverhalt

Die Klägerin und die Beklagte verbindet ein Mietverhältnis über eine Mietwohnung der Beklagten. Im Mietvertrag wird die „Nutz-/Wohnfläche“ mit 55m2 angegeben. Im Mietvertrag angegeben wird u.a. auch der mitvermietete Kellerraum. Neben dem Kellerraum (8,95m2) hat die Klägerin einen Platz in der Waschküche (1,15m2) zum Aufstellen einer Waschmaschine o.Ä.

Die Klägerin maß ihre Wohnung nach und kam auf eine Wohngröße von 42,32m2. Daraufhin forderte sie von der Beklagten die überbezahlte Miete zurück. Es sei schon während der Wohnungsbesichtigung von einer Wohnungsgröße von 55m2 gesprochen worden. Die Beklagten sind hingegen der Auffassung, von der Wohnungsgröße allein sei nie die Rede gewesen. Bei der Besichtigung sei gesagt worden, dass die Wohnung mit Keller und dem Platz der der Waschküche 55m2 habe. So sei auch die Angabe der Quadratmeterzahl unter dem Punkt „Wohn-/Nutzfläche“ im Mietvertrag zu verstehen.

Das Amtsgericht gab der Klage statt. Der Klägerin stehe ein Anspruch auf Mietrückzahlung gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB zu. Fehle eine ausdrückliche Vereinbarung, sei durch Auslegung zu ermitteln, welches Berechnungsverfahren für die Wohnfläche nach dem Parteiwillen gelte. Ob sich die Parteien dahingehend geeinigt hätten, könne aufgrund widersprüchlicher Zeugenaussagen nicht festgestellt werden. Eine konkludente Vereinbarung sei weder vorgetragen noch ersichtlich. Daher sei die Wohnflächenverordnung heranzuziehen, nach der Kellerräume nicht mitgerechnet würden.

Hiergegen legten die Beklagten Berufung ein und führen u.a. an, dass im Mietvertag mit der Bezeichnung „Wohn-/Nutzfläche“ eine ausdrückliche Vereinbarung über die Berechnung getroffen worden sei.

 

Entscheidung

Die Berufung der Beklagten hat Erfolg. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rückzahlung überbezahlter Miete gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB, da keine relevante Abweichung von der vereinbarten Wohnungsgröße vorliege.

Die Beklagten und die Klägerin haben im Mietvertrag den Kellerraum angegeben und die Quadratmeterangabe „55m2“ auf die „Wohn-/Nutzfläche“ bezogen, mithin also die Nutzfläche dem Wortlaut nach mit in die Berechnung miteinbezogen.

Unter den Begriff der Wohnfläche fallen die Grundflächen der Räume, die ausschließlich der Wohnung zuzurechnen sind, wohingegen unter die Nutzfläche auch außerhalb der Wohnung gelegene Räume wie z.B. Keller, Dachboden oder Heizungsräume fallen.

Es gibt keinen Grundsatz, dass die mietvertraglich vereinbarte Fläche immer die Wohnfläche z.B. nach der Wohnflächenverordnung darstellt. Wenn der Begriff der „Wohnfläche“ auslegungsbedürftig ist, bedarf es konkreter Anhaltspunkte, dass die Wohnfläche nach der Wohnflächenverordnung gemeint war. Vorliegend fehlen solche Anhaltspunkte, sodass mit „Nutz-/Wohnfläche“ die objektiv angemieteten Flächen, also auch der Kellerraum gemeint war.

Mit der Fläche des Kellerraumes und dem Platz in der Waschküche ergibt sich eine Wohn-/Nutzfläche von 52,42m2, die keine relevante Abweichung von der Angabe im Mietvertrag (55m2) darstellt. Diese Abweichung liegt deutlich unter der Grenze i.H.v. 10%.

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Schadensersatz für Fahrradfahrer bei Kollision mit Autotür

Michael PeusMichael Peus

LG Köln, Urteil vom 03.08.2022 – 5 O 372/20

 

Sachverhalt

Ein Fahrradfahrer war mit seinem Rennrad unterwegs, als er an einem geparkten Auto vorbeifahren wollte. Der Fahrer des Wagens öffnete dabei so plötzlich die Tür, dass der Fahrradfahrer nicht mehr ausweichen konnte und mit der Tür kollidierte. Dabei verletzte er sich.

Der Versicherer des Kfz berief sich auf ein Mitverschulden von 25 %, da der Radfahrer beim Vorbeifahren zu wenig Abstand zu dem PKW gehalten hätte. Der Fahrradfahrer hätte einschätzen können, dass aus einem geparkten Auto, ein Fahrer aussteigen würde.

 

Entscheidung

Das Landgericht Köln verurteilt den beklagten Autofahrer und dessen Versicherung als Gesamtschuldner dazu, dem geschädigten Radfahrer – über die von ihnen anerkannte Haftungsquote von 75 % hinaus – alle materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen.

Laut dem Landgericht treffe einen Radfahrer bei sogenannten „Dooring-Unfällen“ kein Mitverschulden, wenn zuvor ein ausreichender Sicherheitsabstand von etwa 35 bis 50 cm eingehalten wurde. Dieser war hier vom Rennradfahrer eingehalten worden. Er müsse nicht einen Abstand von der Länge einer geöffneten Tür zum Fahrzeug halten, um eine mögliche Kollision zu vermeiden. Daher könne dem Rennradfahrer in diesem Fall kein Vorwurf gemacht werden, dass er deutlich schneller gefahren war, als ein durchschnittlicher Fahrradfahrer.

Der Autofahrer habe seine Sorgfaltspflicht beim Aussteigen verletzt und somit eine grobe Unachtsamkeit zu verschulden, mit der der Rennradfahrer nicht hätte rechnen müssen.

 

Tipp: Mit dem „Holland-Griff“ bzw. „Radfahrergriff“ beim Aussteigen wäre der Unfall möglicherweise vermieden worden. Dabei macht man die Tür mit der anderen Hand auf als üblich – der Fahrer dementsprechend mit der rechten Hand und der Beifahrer mit der linken. Dabei dreht sich der Oberkörper automatisch nach hinten, sodass ein Schulterblick nicht versäumt wird.

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