Subjektiv grober Behandlungsfehler?

BGH, Urteil vom 25.10.2011 — Aktenzeichen: VI ZR 139/10

Leitsatz
Ein Behandlungsfehler ist als grob zu bewerten, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf.

Sachverhalt
Der Kläger litt am Abend des 18. November 2002 beim Sport an Schmerzen im Brustraum, Atemnot, Schwindelgefühl und Erbrechen. Der herbeigerufene Hausarzt alarmierte einen Notarzt, der nach einem EKG einen Myokardinfarkt diagnostizierte und den Kläger in das von der Beklagten geführte Krankenhaus einwies, wo er am 19. November 2002 kurz nach Mitternacht aufgenommen wurde. Unmittelbar nach der Einlieferung erhob die Ärztin Dr. B. Befunde, darunter auch wiederum ein EKG, diagnostizierte ebenfalls einen Myokardinfarkt, entschied sich für eine medikamentöse Behandlung und ordnete für den späteren Morgen des Tages eine Herzkatheteruntersuchung und eine Koronarangiographie an. Eine Fibrinolyse unterblieb zunächst. Im Verlaufe der Nacht litt der Kläger um 2.30 Uhr wieder unter Schmerzen, woraufhin Dr. B. ein weiteres EKG erheben ließ. Zwischen 8.49 Uhr und 9.37 Uhr führte der Oberarzt Dr. G. eine Echokardiographie und eine Koronarangiographie durch. Er diagnostizierte einen akuten Hinterwandinfarkt und eine Postinfarktangina. Er ordnete eine lokale Lyse und eine Fortführung der Aggrastat- und Heparintherapie an.

Im Prozess wird geltend gemacht, der Kläger sei von Dr. B. fehlerhaft behandelt worden, weil keine sofortige Fibrinolysetherapie (medikamentöse Auflösung von Blutgerinnseln) durchgeführt worden sei. Wäre sie sogleich nach der Einlieferung und nicht erst am Morgen durchgeführt worden, so wäre das thrombotisch verschlossene Infarktgefäß wieder eröffnet und das Herzmuskelgewebe vor irreversiblen Schädigungen bewahrt worden.

Entscheidung
Der BGH hat klargestellt — abweichend von dem insoweit korrigierten Berufungsgericht — , dass dem Kläger eine Beweislastumkehr wegen eines groben Behandlungsfehlers zu Gute komme.

Revisionsrechtlich sei sowohl nachzuprüfen, ob das Berufungsgericht den Begriff des groben Behandlungsfehlers verkannt habe, als auch, ob es bei der Gewichtung dieses Fehlers erheblichen Prozessstoff außer Betracht gelassen oder verfahrensfehlerhaft gewürdigt habe (BGH VersR 2002, 1026, 1027; BGHZ 172, 1; BGH VersR 2009, 1267; BGH, Urteil vom 20. September 2011 — VI ZR 55/09).

Ein Behandlungsfehler sei nur dann als grob zu bewerten, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen habe, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheine, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen dürfe (BGHZ 159, 48, 53; BGHZ 172, 1; BGH VersR 2009, 1267; BGH VersR 2010, 72 und BGH, Beschluss vom 20. September 2011 — VI ZR 55/09).

Die Beurteilung, ob ein Behandlungsfehler als grob oder nicht grob einzustufen ist, sei eine juristische Wertung, die dem Tatrichter und nicht dem Sachverständigen obliege. Zwar müsse die Bewertung eines Behandlungsgeschehens als grob fehlerhaft in den Ausführungen eines Sachverständigen ihre tatsächliche Grundlage finden; sie dürfe auch keinesfalls entgegen dessen fachlichen Ausführungen bejaht werden (BGH, VersR 2004, 645, 647; BGH VersR 2008, 644, 645; BGH VersR 2009, 1406, 1408). Das bedeute aber nicht, dass der Richter die Bewertung dem Sachverständigen überlassen und nur die seltenen Fälle, in denen dieser das ärztliche Verhalten als nicht nachvollziehbar bezeichnet, als grob werten dürfe. Vielmehr habe der Tatrichter darauf zu achten, ob der Sachverständige in seiner Würdigung einen Verstoß gegen elementare medizinische Erkenntnisse oder elementare Behandlungsstandards oder lediglich eine Fehlentscheidung in mehr oder weniger schwieriger Lage erkennt (BGH, VersR 2009, 1406, 1408). Distanziert sich der Sachverständige einerseits deutlich vom Vorgehen des Arztes, hält er es aber andererseits noch für nachvollziehbar, so habe der Tatrichter die Äußerungen des Sachverständigen kritisch zu hinterfragen und sowohl den für eine solche Behandlung geltenden Sorgfaltsmaßstab als auch die tatsächlichen Voraussetzungen eines groben Behandlungsfehlers – ggf. erneut — mit dem Sachverständigen zu erörtern (BGHVersR 2009, 1406, 1408). Andernfalls biete der erhobene Sachverständigenbeweis keine ausreichende Grundlage für die tatrichterliche Überzeugungsbildung (BGH VersR 2008, 644, 645 mwN).

Im Streitfall habe der Sachverständige die sofortige Durchführung einer Fibrinolyse nach Einlieferung des Klägers für zwingend indiziert gehalten. Auch unter Berücksichtigung der Umstände, die die Beklagte zur Verteidigung für das Zuwarten von Dr. B. angeführt habe, sei eine sofortige Fibrinolyse zwingend geboten gewesen.(…)

Bei dieser Sachlage hätte das Berufungsgericht die Wertung des Sachverständigen, das eindeutig fehlerhafte Vorgehen der Beklagten sei noch verständlich, nicht ohne weiteres übernehmen dürfen. Der Sachverständige habe das Vorgehen der Beklagten für nachvollziehbar gehalten, weil die Beklagte ein Behandlungskonzept verfolgt habe, das auf einer Fehleinschätzung hinsichtlich der — tatsächlich nicht anzunehmenden — spontanen Wiedereröffnung der verschlossenen Gefäße beruht habe. Anhaltspunkte, die aus medizinischer Sicht für das konkrete Verhalten sprachen und es damit aus objektiver Sicht nachvollziehbar erscheinen lassen, habe er hingegen nicht aufgezeigt. Er habe im Gegenteil darauf hingewiesen, dass Anhaltspunkte für eine Wiedereröffnung der verschlossenen Herzkranzgefäße nicht gegeben waren. Bei dieser Sachlage liege es nahe, dass der Sachverständige bei der Bewertung des Gewichts des ärztlichen Fehlverhaltens maßgeblich auf den Grad der subjektiven Vorwerfbarkeit abgestellt habe.

Auf die subjektive Vorwerfbarkeit komme es aber nicht an. Die Annahme einer Beweislastumkehr nach einem groben Behandlungsfehler sei — so der BGH — keine Sanktion für ein besonders schweres Arztverschulden, sondern knüpfe daran an, dass die Aufklärung des Behandlungsgeschehens wegen des Gewichts des Behandlungsfehlers und seiner Bedeutung für die Behandlung in besonderer Weise erschwert worden sei, so dass der Arzt nach Treu und Glauben dem Patienten den Kausalitätsbeweis nicht zumuten könne. Erforderlich aber auch genügend sei deshalb ein Fehlverhalten, das nicht aus subjektiven, in der Person des handelnden Arztes liegenden Gründen, sondern aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheint (BGH, VersR 1992, 238, 239 mwN).

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