Sturz im Pflegeheim — Umfang der Verkehrssicherungspflicht

OLG Schleswig, Urteil vom 13.4.2012 — Aktenzeichen: 17 U 28/11

Leitsatz
1. Stürzt ein Heimbewohner bei einer Pflegemaßnahme (hier: begleiteter Toilettengang) und ist der Unfallhergang nicht aufklärbar, kommen dem Geschädigten hinsichtlich einer Verletzung von Obhuts- und Verkehrssicherungspflichten Beweiserleichterungen zugute, wenn er sich in einer konkreten Gefahrensituation befunden hat.

2. Eine konkrete Gefahrensituation liegt vor, wenn die nach der Pflegedokumentation des Heimbetreibers erforderlichen Schutzmaßnahmen vor Stürzen (hier: „fester Halt‟) nicht beachtet worden sind. Der Umstand allein, dass der Heimbewohner in der Vergangenheit bei in ähnlicher Weise durchgeführten Toilettengängen nicht gestürzt ist, schließt die Annahme einer konkreten Gefahrensituation nicht aus.

Sachverhalt
Die Beklagte zu 1. ist Trägerin eines Pflegeheims. Die Beklagte zu 2. ist dort Krankenpflegehelferin. Die verletzte Heimbewohnerin erhielt Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe II. In der Pflegeplanung dokumentierte die Beklagte zu 1. seit Februar 2006 ein „Risikomanagement Sturzgefahr“, welches Maßnahmen zur Vermeidung von Stürzen vorsah. Die Maßnahmen wurden durch die Beklagte zu 1. regelmäßig überprüft und beibehalten. In der Folgezeit stürzte die Versicherte nicht. Im September 2008 stürzte die Versicherte gegen in Gegenwart der Beklagten zu 2. beim Toilettentransfer, wobei der Unfallhergang im Einzelnen nicht mehr aufklärbar war. Im Pflegebericht der Beklagten hieß es: „Frau D. ist beim Umsetzen vom Toilettenstuhl zum Bett in sich zusammengesackt. Sie verlor die Kraft in den Beinen.“. Die Haftpflichtversicherung der Beklagten zu 1. weigerte sich, die gestützt auf § 116 Abs. 1 SGB X geltend gemachten Aufwendungen der Klägerin (Krankenkasse)auszugleichen.

Entscheidung
Im Prozess trugen die Beklagten vor, ihnen sei eine Pflichtverletzung im Zusammenhang mit dem Sturz der Versicherten nicht vorzuwerfen. Vor dem Sturz habe es keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass die Versicherte beim Toilettentransfer unvermittelt zusammensacken könnte. Bei dem Sturz habe sich das allgemeine Lebensrisiko der Versicherten verwirklicht. Mangels Sturzvorgeschichte der Versicherten sei eine Begleitung des Toilettentransfers durch zwei Pflegekräfte nicht erforderlich und nicht zumutbar gewesen.

Das OLG stellt zunächst klar, dass neben Ansprüchen aus Delikt — §§ 823 ff. BGB — in derartigen Konstellationen auch stets Ansprüche wegen Verletzung der Pflichten aus dem Heimvertrag gem. §§ 280 Abs. 1, 278 BGB in Betracht kommen.

Da die Versicherte während einer konkreten Pflegemaßnahme stürzte, kämen der Klägerin für die Darlegung der Verletzung einer Obhuts- und Verkehrssicherungsplicht Beweiserleichterungen zugute, wenn die Versicherte sich nach Überzeugung des Senats bei dem Toilettentransfer in einer konkreten Gefahrensituation – Sturzgefahr — befunden habe. Der Annahme einer konkreten Gefahrensituation stehe insbesondere der HInweis der Beklagten nicht entgegen, dass Toilettentransfers in der Vergangenheit in ähnlicher Weise ohne Probleme durchgeführt wurden, und dass die Versicherte zuvor nicht gestürzt sei. Früheren Stürzen hätten nach Ansicht des OLG lediglich eine indizielle Wirkung. Entscheidend sei, ob sich eine konkrete, wenn auch noch nicht realisierte Sturzgefahr aus konkreten Umständen ergeben habe. Im vorliegenden Fall leitete das OLG die für die Beweislastumkehr erforderliche Sturzgefahr — wie so oft in derartigen Fällen — aus den eigenen Krankenunterlagen der Beklagten zu 1. ab. Nach Maßgabe der Pflegeplanung litt die Versicherte an erheblichen körperlichen und geistigen Einschränkungen. Im Vordergrund standen eine Coxarthrose sowie eine Gonarthrose jeweils beidseitig, eine daraus folgende eingeschränkte Bewegungsfähigkeit mit schneller Erschöpfung und ein dementieller Abbauprozess. Zudem war ausdrücklich von „Problemen beim Toilettengang“ die Rede. Zur Vermeidung von Stürzen sah die Pflegeplanung deshalb bereits seit Februar 2006 u.a. vor, der Versicherten in der Nacht einen Toilettenstuhl bereit zu stellen und ihr Hilfestellung beim Toilettengang zu leisten. Hieraus hat das OLG geschlossen, dass die Versicherte der KLägerin jederzeit, auch unerwartet, stürzen konnte, was ausreichende Anhaltspunkte für die Annahme einer konkreten Sturzgefahr rechtfertigten. Jedenfalls bestand nach Überzeugung des Senats eine konkrete Sturzgefahr der Versicherten deshalb, weil ein fester Halt beziehungsweise Haltegriff während des Toilettentransfers nicht vorhanden war. Ein Haltegriff im Sinne einer technischen Vorrichtung am Bett oder in der Nähe, an welcher sich die Versicherte gegebenenfalls hätte festhalten können, war nicht vorhanden. Die Armlehne des Toilettenstuhls und die Bettkante seien mit einem festen Haltegriff nicht vergleichbar, weil das Aufstützen auf einen – mutmaßlich auch noch beweglichen — Gegenstand nicht die gleiche Sicherheit bietet, wie das Umfassen eines festinstallierten Griffs. Somit wurde die Beweislastumkehr zu Lasten der Beklagten bejaht. Diese konnten sich insbesondere deshlab nicht entlasten, weil nach Ansicht des OLG eine weitere Pflegekraft hätte hinzugezogen werden müssen und können. Der Einsatz einer zweiten Pflegekraft, sei unter den gegebenen Umständen erforderlich und zumutbar gewesen. Zusätzliche Kosten wären damit für die Beklagte zu 1. nicht verbunden gewesen, da eine zweite Pflegekraft im Dienst gewesen sei.

Die Entscheidung zeigt sehr plastisch und beispielhaft den Ablauf von Prozessen nach Stürzen in Pfegeeinrichtungen. Häufig lassen sich die konkreten Sachverhalte nicht mehr nachträglich rekonstruieren. Der auch in dieser Entscheidung angesprochenen Beweislastumkehr zugunsten der Geschädigten und ihrer leistungspflichtigen Sozialversicherungsträger kommt deshalb eine erhebliche Bedeutung zu. Wie in dieser Entscheidung, sind in deräger einer Einrichtung „voll beherschbaren Risikos“ — hier: laufende Pflegemaßnahme — das Vorliegen einer konkreten Gefahrensituation schon bei geringfügigen zu bejahen. Neben dieser Intention der Entscheidung ist sie auch deshalb interessant, weil nach ihr bei Sturzgefahr das Hinzuziehen einer zweiten (anwesenden) Pflegekraft ebenso erforderlich sein soll, wie feste Haltegriffe erforderlich sein sollen. Damit zeigt sich das OLG sehr „geschädigtenfreudlich“.

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