Strenge Anforderungen an grobe Fahrlässigkeit bei § 110 SGB VII

OLG Thüringen, Urteil vom 21.1.2016 — Aktenzeichen: 4 U 150/15

Die grobe Fahrlässigkeit beim Regress nach § 110 SGB VII erfordert nicht nur ein objektiv krasses Versagen, sondern auch eine subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung. Die haben klagende Berufsgenossenschaften und Rechtsprechung, aber auch die Regulierungspraxis der Haftpflichtversicherer häufig nicht hinreichend im Blick. Die Maßstäbe an die grobe Fahrlässigkeit hat das OLG Thüringen in dieser Entscheidung festgehalten.

Sachverhalt
B ist Dachdecker. Er war mit der Erneuerung einer alten Dacheindeckung an einer Halle beauftragt. Es bestand Absturzgefahr. Unterhalb des Daches gab es teilweise eine durchsturzsichere Zwischendecke. Es sollte zunächst im „sicheren“ Bereich gearbeitet werden, bis die Halle im unsicheren Teil abgenetzt war. Ein Mitarbeiter stürzte im „unsicheren“ Bereich 6 m durch das Dach und verletzte sich schwer. Die klagende Bau-Berufsgenossenschaft verlangte von B Aufwendungsersatz nach § 110 SGB VII. B verteidigte sich damit, er habe zur Abgrenzung der Bereiche Flatterband gespannt. Warum der Verunfallte den sicheren Bereich verlassen habe, wisse er nicht.

Die klagende Berufsgenossenschaft bestritt, dass Flatterband gespannt war. Ein solches habe ihr Technischer Aufsichtsbeamter, der den Unfallort in Augenschein genommen hat, auch nicht wahrgenommen.

Entscheidung
Die Klage hatte keinen Erfolg. Die BG konnte grobe Fahrlässigkeit nicht beweisen. Zwar sei hier gegen § 12 Abs. 5 Nr. 3 BGV C22 (feste Absperrungen waren notwendig) verstoßen worden; auch befasse sich diese Unfallverhütungsvorschrift mit elementaren Sicherungspflichten; allerdings könne eine subjektive grobe Fahrlässigkeit nicht festgestellt werden. Insbesondere entlastete es B, weil er seine Mitarbeiter angewiesen habe, den nicht begehbaren Teil des Dachs nicht zu betreten und der begehbare Teil des Dachs vom nicht begehbaren Teil durch rot-weißes Flatterband gekennzeichnet war. Den ihr obliegenden Beweis, dass kein Flatterband gespannt war, hat Klägerin nicht führen können. Die Erinnerung der Zeugen war insoweit unterschiedlich.

Anmerkung
Auch diese Entscheidung zeigt, dass es keinen Automatismus gibt, wonach bei Verstößen gegen lebensschützende Unfallverhütungsvorschriften und bestimmten Absturzhöhen (größer 5 m) stets grobe Fahrlässigkeit zu bejahen sei. Auch hier gilt, dass sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind. Insbesondere muss auch eine subjektiv schlechthin unentschuldbares Verhalten bewiesen werden, und zwar von dem Unfallversicherungsträger. Dabei spielt natürlich eine wichtige Rolle, ob überhaupt keine Sicherungen getroffen wurden, also der Schädiger von vorgeschriebenen Schutzvorkehrungen völlig abgesehen hat, oder nur unzureichende Sicherungen veranlasst wurden. Nur dann, wenn der Schädiger von den vorgesehenen Schutzvorkehrungen völlig abgesehen hat, kann (!) der objektive Verstoß ein solches Gewicht haben, dass der Schluss auf ein auch subjektiv gesteigertes Verschulden gerechtfertigt ist. Dies entspricht auch den Vorgaben der Rechtsprechung des BGH, u.a. in der Leiharbeiter-Entscheidung.

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