Arglistanfechtung und Rücktritt von einem Krankenversicherungsvertrag.

OLG Stuttgart, Urteil vom 26.8.2013 — Aktenzeichen: 7 C 101/13

Leitsatz
1. Wird ein Kunde im Wege der sog. „Kaltakquise“ (Ausspannen von Kunden) nach wiederholten Besuchen durch einen Agenten gewonnen, kann dies die üblichen Indizien für Arglist bei unvollständigen Gesundheitsangaben stark entwerten.

2. Die Platzierung der Hinweise auf die Rechtsfolgen falscher Gesundheitsangaben in einem Antragsformularsatz auf der letzten Seite, mehrere Seiten nach der Unterschrift, kann bei der Antragstellung leicht übersehen werden und ist aus diesem Grunde nicht ausreichend, so dass der Versicherer u.a. sein Recht zum Rücktritt nicht ausüben kann.

Sachverhalt
In dem vom OLG Stuttgart zu entscheidenden Fall begehrte der Kläger die Feststellung, dass der Krankenversicherungsvertrag mit der dortigen Beklagten (Krankenversicherung) unverändert fortbestand und insbesondere weder durch eine von der Beklagten abgegebene Anfechtungserklärung rückwirkend wirkungslos noch durch die zeitgleich ebenfalls von der Beklagten abgegebene Rücktrittserklärung in ein Rückabwicklungsverhältnis mit Erlöschen der bisherigen Leistungspflichten umgewandelt worden war.

Zusammengefasst hatte der dortige Kläger bei Antragsstellung im Versicherungsantrag Gesundheitsfragen nicht zutreffend beantwortet. Nach dem ebenfalls vom Landgericht festgestellten Sachverhalt war es zu diesem Versicherungsantrag erst gekommen, nachdem ein Versicherungsagent der Beklagten mehrfach und völlig unaufgefordert den Kläger in dessen Ladenlokal aufgesucht und versucht hatte, den Kläger von einem Wechsel der Krankenversicherung zu dem vom Agenten vertretenen Versicherungsunternehmen zu bewegen. Wie das OLG letztlich ebenfalls festgestellt hat, erfolgte die Antragsunterzeichnung dann erst beim 6. „Anlauf“ eines derartigen Anwerbens.

Entscheidung
Das Landgericht hat ein Anfechtungsrecht der beklagten Versicherung im vorliegenden Fall verneint. Denn zwar gebe es erhebliche Indizien, die auf eine arglistige Täuschung der Beklagten durch den Kläger bei Antragstellung hindeuteten. … (wird näher ausgeführt).

Indes standen nach Auffassung des OLG diesen Indizien in beachtlichem Maße Aspekte gegenüber, die an einer arglistigen Täuschung seitens des Klägers zweifeln ließen. Der Senat sei bereits nicht davon überzeugt worden, dass die Gesundheitsfragen dem Kläger zur Beantwortung vorgelegt worden seien. Der Kläger habe angegeben, dass ihn der Versicherungsagent, der im Prozess vernommen war, aus eigener Initiative und ohne irgendwelchen Anlass wiederholt aufgesucht habe, wobei im Rahmen derartiger Gespräche der Kläger seinen Gesundheitszustand eingehend und umfassend offengelegt habe. Irgendwelche konkreten Antragsfrageformulare habe der Kläger nicht geschildert. Auch der Zeuge, der insoweit tätige Agent, habe nicht Einzelheiten zu der Antragstellung durch den Kläger erinnern können, sondern nur behauptet, grundsätzlich verfahre er in Antragssituationen so, dass er die Fragen wörtlich vorlese und die Antworten der Kunden auf das Antragsformular übertrage. Zur Überzeugung des Senates stehe aber für den konkreten Fall gerade nicht fest, dass der Zeuge entsprechend verfahren sei, da nämlich der Zeuge andererseits bestätigt habe, dass er den Kläger im Wege der sog. Kaltakquise (= anlassloses Ansprechen einer bislang nicht bei der beklagten Versicherung versicherten Person) mit dem Ziel eines Neuvertragsabschlusses für einen Wechsel geworben habe. Da der Zeuge auf entsprechenden Vorhalt des Senates sein Vorgehen in keiner Weise problematisch und möglicherweise als wettbewerbswidrig, jedenfalls gegen Ziff. 65 Abs. 1 Satz 1, 2, Abs. 2, Satz 1 a der Wettbewerbsrichtlinien der Versicherungswirtschaft verstoßendes Ausspannen angesehen hat, halte es der Senat keineswegs für ausgeschlossen, dass der Zeuge gerade bei dem für einen Abwerbeversuch zunächst nicht empfänglichen Kläger die sonst übliche Sorgfalt bei der Erhebung etwaiger Gesundheitsstörungen hintangestellt habe, um einen Vertragsabschluss herbeiführen zu können. Die Skepsis des Senates werde insbesondere durch die inhaltliche Kargheit der Zeugenaussagen weiter gefördert (wird im Einzelnen ausgeführt).

Es sei daher möglich, dass der Kläger dem Zeugen seine Gesundheitsstörungen im Rahmen der stattgefunden Gespräche tatsächlich offenbart habe, was nicht nur zur Folge habe, dass dem Kläger schon in objektiver Hinsicht keine Täuschungshandlung zur Last fiele, weil er mit der Offenbarung gegenüber dem Agenten („Auge und Ohr‟) der Beklagten selbst Gesundheitsstörungen angezeigt hätte. Dies stehe andererseits auch der Annahme entgegen, der Kläger habe täuschend auf die Willensentschließung der Beklagten Einfluss nehmen wollen oder dies billigend in Kauf genommen.

Darüber hinaus befand das OLG den erklärten Rücktritt für unwirksam. Die Beklagte habe nicht sämtliche Voraussetzungen für das geltend gemachte Rücktrittsrecht dargelegt und bewiesen. Insbesondere habe sie nicht bewiesen, dass die ausreichende Gestaltung ihrer gesonderten Mitteilung über die Rechtsfolgen einer Verletzung der Anzeigepflichten, wie sie in § 19 Abs. 5 Satz 1 VVG als Formerfordernis definiert werde, eingehalten habe. Ausgehend von den seitens der Beklagten im Prozess vorgelegten „Wichtigen Hinweisen zur Anzeigepflicht“ sei davon auszugehen, dass diese bei der Beklagten als letzte Seite des Antragsformulars dessen integraler Bestandteil gewesen seien. Diese Belehrung erst mehrere Seiten nach dem Fragenkatalog zu etwaigen Gesundheitsstörungen des Kunden und seiner Unterschrift biete aber nicht die erforderliche Gewähr dafür, dass der VN sie nicht übersehen könne. Mangels Wahrung der Belehrungs-Form-Erfordernisse stehe der Beklagten daher auch ein Rücktrittsrecht nicht zu.

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