Röntgenzwang bei Sturzereignis

OLG Hamm , Urteil vom 4.12.2015 — Aktenzeichen: 26 U 32/14

Sachverhalt
Die Klägerin klagte als private Krankenversicherung aus übergegangenem Recht gem. § 67 VVG a.F.

Die Versicherte der Klägerin erlitt im März 2006 einen Sturz und ließ sich dann ambulant vom Beklagten zu 2) behandeln, der nach klinischer Untersuchung, jedoch ohne Röntgenbefundung einen Knochenhautreizzustand diagnostizierte. Im Folgezeitraum führte er acht Injektionen durch.

Die Versicherte ließ sich in der Folgezeit weiter behandeln, auch im Institut für Mikrotherapie des Beklagten zu 1).

Weitere schmerzstillende Injektionen erfolgten durch den Beklagten zu 2) bei Hausbesuchen.

Die Versicherte befand sich anschließend in diversen stationären Behandlungen, in deren Verlauf sich herausstellte, dass die Versicherte mit Staphylococcus aureus infiziert war, was zu multiplen Abszessen, multiplem Organversagen und einem zeitweilig lebensgefährlichen Verlauf mit mehrfachen Operationen führte. Ferner wurde erst zu diesem Zeitpunkt festgestellt, dass bei der Versicherten schon eine länger bestehende Fraktur des Beckens bestand.

Die Klägerin warf den Beklagten vor, diese Fraktur bei der Versicherten übersehen zu haben. Sie verlangte im Klagewege Ersatz der ihr entstandenen Aufwendungen; sie berief sich auf die unzureichende Befunderhebung, die Kontraindikation der Injektionsbehandlungen und mögliche Verstöße gegen Hygieneregeln.

Das Landgericht hat der Klage in Höhe von etwa 530.000,00 Euro nebst Zinsen stattgegeben und die Verpflichtung zu weiterem Schadensersatz festgestellt.

Entscheidung
Das OLG Hamm wies die dagegen gerichteten Berufungen der Beklagten gegen das Urteil zurück.

Zwar sei ein Behandlungsfehler in Form eines Verstoßes gegen Hygienestandards nicht festzustellen; auch ein Rückschluss von dem Vorliegen einer Infektion auf einen Behandlungsfehler sei nicht zulässig.

Die Haftung des Beklagten zu 2) sei aber jedenfalls deshalb gegeben, weil er eine Injektionsbehandlung durch- und fortgeführt hat, ohne die notwendige Befundung in Richtung auf eine Fraktur durch bildgebende Verfahren durchzuführen. Nach Auffassung des OLG Hamm stellt das Unterlassen der Röntgenuntersuchung in dieser Situation einen Befunderhebungsfehler dar. Zwar hätte der Beklagte zu 2) bei seiner Erstbehandlung mangels Anhaltspunkten für ausgeprägte Schmerzen, Funktionsbeeinträchtigungen oder Behinderungen zunächst auf eine weitergehende bildgebende Diagnostik verzichten können. Dies gilt aber nicht für die daran anschließende Behandlung, da eine dauerhafte Verringerung der Beschwerden nicht eingetreten sei. Vorgenanntes gilt insbesondere deshalb, weil die Versicherte bei der Erstvorstellung auf das Sturzereignis hingewiesen hatte.

Bei der dann schließlich diagnostizierten Steißbeinfraktur waren die vorgenommenen Injektionen kontraindiziert, weshalb es zwingend erforderlich gewesen wäre, das Vorliegen einer Fraktur auszuschließen, indem eine Röntgenbefundung der LWS und des Beckens durchgeführt wird.

Die fehlende Befunderhebung wurde durch den Senat auch als grob bewertet, da der gerichtlich bestellte Sachverständige in der Anhörung vor dem Senat erläutert hatte, dass eine röntgenologische Befundung in dieser Situation absoluter Standard sei. Der Senat hielt dies für überzeugend, weil der behandelnde Arzt im Hinblick auf das Ziel der Behandlung, die Heilung des Patienten, nur dann eine ausreichende Chance zur Erreichung dieses Zieles hat, wenn er die Ursache der Beschwerden hinreichend sicher ermittele; wenn er aber grundlegende, den absoluten Standard bildende und sich deshalb für den Facharzt geradezu aufdrängende Befunderhebungsmöglichkeiten nicht ausschöpfe, weil er sich frühzeitig auf eine vermeintliche Ursache festlege, erscheint diese Vorgehensweise nicht mehr verständlich und darf einem Behandler schlechterdings nicht unterlaufen.

Infolgedessen kam der Senat zu einer Beweislastumkehr im Rahmen des Ursachenzusammenhangs hinsichtlich der erfassten Primärschäden und aller Folgeschäden, die die konkrete Ausprägung des Fehlers darstellen.

Auch die Haftung des Beklagten zu 1) wurde positiv bestätigt. Denn nach gutachterlicher Bewertung hatten dessen Mitarbeiter die Ergebnisse der MRT-Untersuchung und die nachfolgenden CT-Aufnahmen fehlerhaft ausgewertet und die noch frische Fraktur übersehen. Der Senat war daher davon überzeugt, dass nicht nur ein Diagnoseirrtum vorlag, sondern eine unvertretbare Diagnose und daher ein Diagnosefehler. Auch diese Fehlbegutachtung bewertete der Senat als grob, weil die beiden Bildgebungen so eindeutig waren, dass ihr Verkennen nicht mehr verständlich erschien.

Hinzu kam, dass auch unter der Behandlung des Beklagten zu 1) eine Injektion vorgenommen wurde, die auf Basis des Bildmaterials nicht hätte erfolgen dürfen; Infiltrationen im möglichen Hämatombereich waren kontraindiziert. Jedenfalls in der Summe seien die vorhandenen Behandlungsfehler bei der Behandlung durch den Beklagten zu 1) daher als grob zu bewerten.

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